Predigt über Johannes 5, 1-9 Der Kranke am Teich Bethesda Einleitung Dieser Text aus dem Johannes Evangelium beschreibt ein Schicksal, das vielen Menschen auch heute nicht fremd ist: Krankheitsnot, Verlassenheit, Hilflosigkeit angesichts eines Gebrechens, das kein Arzt heilen kann, Resignation und Enttäuschung. Dieses Schicksal macht oft bitter gegen Gott und gegen Mitmenschen. Doch hier geschieht etwas Unbegreifliches: Jesus Christus tritt in das Leben dieses armen Menschen hinein und mit ihm die Hoffnung, dass es anders werden kann. Mit Jesus kommt aber auch die Herausforderung, das Unmögliche zu glauben, nämlich, dass man nach 38 Jahren Kranksein wieder gesund werden kann. Situationsbeschreibung Lassen wir den Bericht jetzt ein wenig auf uns einwirken und malen uns die Situation vor Augen. War jemand von uns schon in Jerusalem gewesen? Dort kann man nämlich Reste dieser Teichanlage mit den 5 Hallen besichtigen. Sie wurde Ende des 19. Jahrhunderts von einem französischen Archäologenteam ausgegraben. Das ist sicher eine Hilfe, sich das Geschehen von damals vorzustellen. Diese 5 Hallen waren überfüllt mit schwerkranken Menschen. Es war eine Art Krankenhaus des Altertums, nur dass es weder Ärzte noch Pflegepersonal noch Medikamente zur Linderung der Leiden gab. Die einzige Hoffnung auf Heilung war das Wunder wirkende Wasser im Teich. Gelegentlich geriet das Wasser in Wallung und wer es danach zuerst schaffte, hinein zu kommen, der wurde gesund. Von dieser Hoffnung zehrten die Kranken. Man fühlt sich erinnert an manche Wallfahrtsorte, wie Lourdes, zu denen unzählige Kranke jedes Jahr pilgern und doch werden nur die allerwenigsten geheilt. Die anderen kehren enttäuscht zurück. Die Kranken am Teich Bethesda blieben aber dort. Vielleicht war ihre Pflege für die Angehörigen eine zu schwere Last und man hat sie dorthin abgeschoben. Vielleicht harrten sie aber selber aus, in der Hoffnung, einmal geheilt werden. Jesus sucht die Leidenden auf Nun erfahren wir, dass Jesus einen Besuch in Jerusalem macht. Er kam gerade aus seiner Heimat in Galiläa im Norden Israels. Nach dem Johannesevangelium ist dies bereits der 2. Aufenthalt von Jesus in Jerusalem. Das war nichts Ungewöhnliches, denn jeder erwachsene Israelit sollte dreimal im Jahr zu den wichtigsten religiösen Festen nach Jerusalem pilgern. Jesus geht aber diesmal nicht wie die anderen Pilger in den Tempel, um an den Feiern teilzunehmen. Sein erster Weg führt ihn zu diesem Ort des Leidens am Teich Bethesda. Unter den vielen Kranken fällt ihm einer besonders auf, vielleicht weil dieser Hilfe am nötigsten hatte. Der einzelne geht bei Jesus nicht in der Masse unter. Bei diesem Besuch wollte er sich Zeit für diesen einen Menschen nehmen. Predigt über Johannes 5, 1-9 Seite 1 Das Gespräch mit dem Kranken Jesus fragt den Kranken ziemlich unvermittelt: "Willst du gesund werden?" Was mag diese Frage für Gedanken und Gefühle ausgelöst haben? Die ganze Hoffnungslosigkeit seiner Lage steht diesem Mann vor Augen. "Herr ich habe niemand, der mir hilft." 38 Jahre lag er schon krank. Wie viele davon in den Hallen am Teich, das wissen wir nicht. Aber selbst in diesem Haus der Barmherzigkeit - das bedeutet nämlich das hebräische Wort Bethesda - herrschte das Gesetz des Stärkeren. Wenn das Wasser sich bewegte, dann ging der Wettkampf los. Wer es zuerst schaffte ins Wasser zu kommen, der wurde gesund, die anderen gingen leer aus. Dieser Mann hatte es in den vielen Jahren nicht geschafft. Kein Wunder, dass die anderen schneller waren, denn er war gelähmt und hatte eigentlich keine Chance. Und dennoch hat er die Hoffnung nicht aufgegeben. Sollte dieser Fremde, der vor ihm steht, wirklich helfen können? Warum fragt er ihn: "Willst du gesund werden?" "Herr, ich habe niemand, der mir hilft ins Wasser zu kommen. Meine Angehörigen und Freunde haben mich aufgegeben." Aus seiner Stimme höre ich Resignation und Enttäuschung heraus, vielleicht auch eine Anklage gegen diese ungerechte Welt und gegen Gott, der solches Leid zulässt. Menschen die Übersehen werden In diese Anklage stimmen unzählige Menschen ein, die auf der Schattenseite des Lebens stehen: Menschen, die durch Armut, Krankheit oder Alter ins Abseits gedrängt und vergessen wurden. Not macht einsam, das ist eine bittere Erfahrung vieler Menschen, leider auch in christlichen Gemeinden. Selbst in einer kleinen, überschaubaren Gemeinde wie unsere gibt es Menschen, die übersehen werden und sich enttäuscht zurückziehen. Meistens sind es gerade solche, die eine besondere Zuwendung brauchen, aber sie können nicht aus sich heraus und selber mit einer anderen Person sprechen. Sie warten darauf, dass die anderen ihre Not sehen und auf sie zugehen. Wir gehen aber oft auf die zu, die wir schon gut kennen, mit denen wir ohnehin schon vertraut sind und übersehen solche, die uns brauchen. Wie anders sieht Jesus die Menschen. Von ihm können wir lernen, wie man auf Notleidende zugeht, mit ihnen redet und ihnen Hoffnung und Zuversicht schenkt. Klagen als erster Schritt zur Heilung Seine Frage, "willst du gesund werden?", gibt dem Kranken die Gelegenheit, die ganze Not und den Frust herauszubringen. Das ist oft der erste Schritt zur Heilung. Gott erträgt es, dass Menschen klagen, ja ihn sogar anklagen. Die Bibel ist voller Beispiele davon, wie Menschen in tiefer Not sehr offen über ihre Gefühle mit Gott reden. Gott wendet diesen Menschen nicht den Rücken zu. Er hört zu und lässt sie ausreden. Ich las kürzlich die Geschichte von Noemi im A.T., in dem Buch, das nach ihrer Schwiegertochter Ruth genannt ist. Diese Frau war, wegen einer Hungersnot mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen aus Israel ins das benachbarte Moab ausgewandert. Zuerst starb ihr Mann und nach ihm die beiden Söhne. Noemi blieb allein mit ihren beiden Schwiegertöchtern und beschloss, in ihre Heimat zurückzukehren. Ihre Schwiegertochter, Ruth, begleitete sie auf diePredigt über Johannes 5, 1-9 Seite 2 sem Weg. Als sie in ihrem Dorf ankam, schauten sich die Frauen nach ihr um und fragten: "Ist das nicht die Noemi?" Sie aber sprach zu ihnen: "Nennt mich nicht Noemi, sondern Mara (das bedeutet die Bittere) , denn der Allmächtige hat mir viel Bitteres angetan. Voll zog ich aus, aber leer hat mich der HERR wieder heimgebracht. Warum nennt ihr mich denn Noemi, da doch der HERR gegen mich gesprochen und der Allmächtige mich betrübt hat?" Diese Frau schüttet ihr Herz aus und klagt Gott dabei an. Wir lesen aber nichts davon, dass Gott ihr deswegen böse war oder sie gar bestraft hätte. Leiden und Einsamkeit können das Vertrauen zu Gott erschüttern. Jesus versteht dies sehr gut. Er war ganz allein und verlassen als er am Kreuz litt und starb. Er wandte sich zu seinem Vater und betete "mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Weil Jesus auch diese Tiefen der Einsamkeit durchlitten hat, darum kann er helfen. Der eigene Wille ist gefragt Die Frage "Willst Du gesund werden?" gibt also dem Kranken die Gelegenheit, sein Leid zu klagen und sie nimmt seinen Willen ernst. Es ist nicht selbstverständlich, dass jeder Kranke gesund werden will, dass jeder vom Leben Enttäuschte aus seiner Resignation heraus will. Es ist manchmal einfacher in diesem Zustand zu verharren. Dann muss man sich den Herausforderungen des Lebens nicht stellen und braucht keine Verantwortung zu übernehmen. Es ist manchmal bequemer das Schicksal und die böse Welt anzuklagen, als konkrete Schritte zu tun, die zur Gesundung führen. Das Wort Jesu schafft neues Leben Jesus erkennt tief im Herzen des kranken Mannes den Wunsch und den Willen, gesund zu werden. Deshalb kann er ihm befehlen: "Steh auf, nimm deine Schlafmatte und geh!" In diesem Befehl steckt eine ungeheure Herausforderung des Glaubens. Nach 38 Jahren Gelähmtsein sind die Muskeln doch völlig verkümmert und die Gelenke erstarrt. Wie soll das nur zugehen? Dass der Gelähmte es wagt, aufzustehen, ist für mich ein fast größeres Wunder als die Heilung selbst. Wie kann man es sich erklären? War er ein besonderer Glaubensheld? Ich denke, die Antwort auf diese Frage liegt mehr in der Person von Jesus. Er muss einen solchen Eindruck auf die Menschen gemacht haben, dass sie ihm vertrauten, und bereit waren Unmögliches zu tun, wenn er es befahl. Das ist Glaube: Gottes Wort mehr vertrauen als die eigene Erfahrung und die Bereitschaft zu sagen: "Herr, was Du von mir verlangst spricht gegen alle bisherigen Erfahrungen, aber weil Du es bist, dann will ich es wagen." Der Glaube stützt sich auf das Wort Gottes und ergreift so das angebotene Geschenk. In dem Augenblick, wo der Gelähmte gehorcht und aufsteht, spürt er, wie Kraft in seine Glieder einströmt und das Unmögliche wird Wirklichkeit. David hat solche Erfahrungen der Hilfe Gottes in einem Lied ausgedrückt: "Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen." Über Mauern der Einsamkeit, der Zweifel, der Enttäuschung und Verbitterung. Und ich möchte ergänzen. "Mit Gott kann ich auch über meinen Schatten springen." Predigt über Johannes 5, 1-9 Seite 3 Jesus steht uns in Zeiten der Not oft näher als wir ahnen und will uns helfen. Wir haben zwar keine Garantie auf körperliche Heilung in allen Fällen, aber wir dürfen uns im Glauben an ihn wenden und werden dabei nicht enttäuscht. Predigt über Johannes 5, 1-9 Seite 4