zimtzicke

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Kirstin Wrage
Zimtzicke
(2004)
Für Alex.
Meine Muse und Inspiration.
Du lässt mich immer weitermachen.
Kapitel
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Begegnungen
Brini und Gil
Der italienische Abend
Böse Erinnerungen
Besuch bei Oma Brenner
Das Fruchtbarkeitsritual
Selbstzweifel
Das Manuskript
Traurige Weihnachten
Erwischt
Schwarze Schönheit
Die Muckibude
Auf den ersten Blick
Blöder Nachbar!
Der Parkplatzstreit
Pest oder Cholera?
Der Unfall
Smarter Autokauf
Der Schwangerschaftstest
Rufmord
Urlaubsreif
Angekommen
Hannes und andere Katastrophen
Die Muckibudentruppe
Das Telefonat
Die Entdeckung
Das Outfit
Angemacht
Flaschendrehen
Zettelwirtschaft
Am See
Ein weiterer Abend
Tragischer Unfall
Eine ganz neue Erfahrung
Missverständnisse
Ein letztes Mal
Eskalation
Der, die, das Erste
Im Fahrstuhl
Der Tag danach
Standpauke
Reue
Der Kindergartenausflug
Die Amazone
Noch ein Ritual
Das Frühstück
Das Abendessen
Zimtzicke
Papa
Kuppelei
Einsichten
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
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Der Geist der Vergangenheit
Die Wette gilt
Die Feuertaufe
Abrechnung
Der Verdacht
Das geheime Date
Nette Bekanntschaft
Überraschung
Auftritt mit Folgen
Familientreffen
Die gute Fee
Aufgeflogen
Ein guter Freund
Funkstille
Nachmittag im Park
Fettnäpfchen
Alarmstufe Rosa
Schwarz auf Weiß
Im Bikershop
Mädelsabend
Der Übergriff
Kleine Wunder
Happy Birthday
Geständnis
Werdende
Überraschungen
Drastische Maßnahmen
EPILOG
Das Manuskript aus dem Jahr 2004 wurde 2014 ohne bedeutende Änderungen überarbeitet.
ZIMTZICKE
von Kirstin Wrage
© 2004 Kirstin Wrage.
Alle Rechte vorbehalten.
Autor: Kirstin Wrage
Blog: www.kruemelmonsterag.de
eMail: [email protected]
Buchcover © Kirstin Wrage
Alle Personen und Gegebenheiten in diesem Buch sind fiktiv. Ähnlichkeiten mit noch
lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Kapitel 1
„Guten Morgen, Frau Brenner.“ Lächelnd begrüßte ich meine fünfundneunzigjährige
Nachbarin im Vorbeigehen.
Ich mochte die rüstige, alte Dame mit ihrer Vorliebe für Hunde, Handarbeiten, Blumen und
Kinderkrimis. Omi Brenner war immer akkurat gekleidet, trug die silbernen Locken in einer
gepflegten Fönwelle und ihre rosa Bäckchen luden zum Abküssen ein. Sie war zwar enorm
schwerhörig, was eine ausgedehnte Unterhaltung bisweilen schwierig gestalten konnte. Daran
hatten sich längst alle Hausbewohnter gewöhnt, doch ich war eine der wenigen, die damit
geduldig umging.
„Ich gehe einkaufen. Kann ich Ihnen etwas mitbringen?“, bot ich folglich laut vernehmbar an.
„Guten Morgen, Fräulein Josephine.“ Frau Brenner drückte die Hand hinter ihr rechtes Ohr
und beugte sich zu mir.
Ich liebte es, wenn sie mich ‚Fräulein’ nannte. Zwar dürfte auch ihr mein häufig wechselnder
Herrenbesuch nicht entgangen sein. Solange ich jedoch keinen Ring an meiner rechten Hand
trug, war ich für sie noch immer ‚Fräulein’.
„Was haben Sie gesagt?“, dröhnte es mir entgegen.
„Ich gehe einkaufen. Kann ich Ihnen etwas mitbringen?“ wiederholte ich ein Müh lauter.
Frau Brenner sah mich mit einer Spur mütterlichen Vorwurfs an und legte ihre Hand auf
meinen Arm.
„Liebes Fräulein, Josephine“, sagte sie mit bekümmertem Blick. „Um diese Zeit schon? Das
tut Ihnen aber gar nicht gut. Glauben Sie mir, Kindchen.“ Sie begann zu lächeln. „Später
können Sie mir aber trotzdem gerne noch ein Ständchen bringen.“
Ich dachte angestrengt nach.
„Frau Brenner“, begann ich schließlich, „ich gehe einen saufen. Kann ich Ihnen dann etwas
singen?“
„Ach!“, antwortete Omi Brenner erfreut. „Das wäre nett! Mir ist die Milch ausgegangen.
Wenn Sie denn so lieb wären, Fräulein Josephine?“
Ich nickte ihr amüsiert zu und machte mich eilends auf den Weg.
Der Frankfurter Berufsverkehr brachte mich schier zur Verzweiflung und ich drehte mein
Radio lauter, um die das Motorgeräusch meines alten signalroten Käfers zu übertönen. Ich
liebte diese Karre. Zwar ließen mir die immensen Spritkosten bei jeder Tankfüllung graue
Haare aus dem Kopf sprießen (und mein kleiner Käfer war sehr durstig), aber ich war schon
überglücklich, mir bei meinen finanziellen Mitteln überhaupt ein Auto leisten zu können.
Ich hastete, nachdem ich - zugegeben recht unverschämt – einer miesepetrig dreinschauenden
Mutter mit zwei plärrenden Kindern auf dem Rücksitz den Parkplatz vor der Nase
weggeschnappt hatte, in den Supermarkt und studierte meine Einkaufsliste.
Ich hatte für heute einen italienischen Abend geplant. Nachdem meine Wahl etwa zwanzig
Minuten und siebzehn Flaschen Wein später endlich auf einen süffigen Roten fiel, schwenkte
ich ungestüm meinen Einkaufswagen Richtung Pasta.
„Ups! Sorry, tut mir leid“, entschuldigte ich mich schnell bei der armen Frau, der ich soeben
die Rollen meines Wagens in die Hacken gerammt hatte. „Frau Erdinger“, erkannte ich die
brünette, gutaussehende Dame Ende vierzig.
„Josephine, hallo.“ Sie rieb sich ihre linke Ferse und zog den Schuh wieder an.
„Habe ich Ihnen wehgetan? Es tut mir wirklich leid“, entschuldigte ich mich und tat besorgt.
„Nein, nein, Josephine. Nicht der Rede wert“, winkte sie ab. „Ich hab’ mich nur erschrocken.“
Das hab’ ich auch, dachte ich und wartete, bis mein Herzschlag wieder verlangsamte.
Frau Erdinger warf einen neugierigen Blick in meinen Einkaufswagen. „Sieht nach einem
italienischen Abend aus?“
Ich nickte zustimmend.
„Hach“, seufzte sie betrübt, „das würde ich auch gerne einmal wieder mit meinem Mann
machen. Aber er hat ja so viel in der Firma zu tun und überhaupt keine Zeit für Privatleben.
Ständig diese Überstunden.“ Sie verdrehte die Augen. „So ein italienisches Essen würde ihm
bestimmt gut tun.“
Das wird es ganz bestimmt, sagte ich lautlos. Und auf die Nachspeise freut er sich ganz
besonders.
„Ähm“, ich blickte hastig auf meine Uhr. „Muss leider schon wieder los. Haben Sie sich auch
wirklich nichts getan?“
„Ist schon gut. Nein. Ich habe mir nichts getan. Tschüss dann und viel Vergnügen bei Ihrem
italienischen Abend.“ Frau Erdinger winkte mir lächelnd nach.
Den werde ich haben, griente ich skrupellos in mich hinein.
Ich stand bereits an der Kasse, als ich bemerkte, dass ich Omi Brenners Milch vergessen hatte
und drängte mit dem Einkaufswagen zurück.
„Verdammt! Können Sie nicht aufpassen?“, fluchte ich, als mir zwei muskelbepackte Männer
den Weg versperrten.
„Na, hör mal! Du bist mir schließlich über den Fuß gefahren“, stellte einer der Muckimachos
klar.
„Dann tu’ ihn halt weg“, knurrte ich ungehalten.
„Momentchen mal.“ Der Muckimacho umfasste fest meinen rechten Arm. „Wie wäre es mit
einer Entschuldigung?“
„Wie wäre es, wenn du meinen Arm loslassen würdest?“, keifte ich stattdessen.
Die beiden Muskelpakete sahen sich an und setzten ein dämliches Grinsen auf.
„Ganz schön stark, die Kleine“, frotzelte einer der beiden.
Ich hatte endlich meinen Arm aus seinem Griff gelöst. „Aber immerhin nicht aufgepumpt“,
brummte ich verärgert und setzte mich wieder in Gang. „Und jetzt lasst mich gefälligst
durch.“
„Zicke“, hörte ich den Armdrücker noch zischen, als ich meinen Wagen schleunigst an ihnen
vorbei Richtung Frischmilch schob und zischte ihnen noch ein „Aufgeblasene MöchtegernArnies!“ zum Abschied zu.
Gott, wie ich diese fitnessbesessenen, energydrinktrinkden Hantelfanatiker hasste! Ich selbst
war der geborene Sportmuffel und überzeugt, es mir auch erlauben zu dürfen. Das Leben war
Kampf genug, wusste ich aus schmerzlicher Erfahrung. Außerdem hatte die Natur es gut mit
mir gemeint. Auch mit annähernd fünfunddreißig konnte ich mich ungeniert bauchfrei zeigen.
Mein Haar kam ohne intensive Pflege aus und reichte mir inzwischen bis zur Hüfte. Ab und
an, wenn es mein Girokonto erlaubte, gönnte ich mir ein paar Strähnen. Locken hatte mir die
Natur zu meinem Leidwesen jedoch nicht geschenkt. Eben so wenig vernünftige Sehkraft.
Aufgrund meiner fortgeschrittenen Kurzsichtigkeit sammelten sich, als eine meiner
Leidenschaften, ein gutes Dutzend Brillen in allen Formen und Gläserfarben auf meiner
Schlafzimmerkommode. Komm, Jo! Mach’ uns die Anastacia! Büddeee!, bettelten meine
beste Freundin Brini und mein Bruder Gil ständig. Und sofern das Trio Infernale, wie wir
gern in unserer Clique genannt wurden, den entsprechenden Blutalkoholspiegel nachzuweisen
hatte, drehten wir den CD-Player auf volle Lautstärke und zogen unsere Bühnenshow im
heimischen Wohnzimmer ab. Glücklicherweise war Omi Brenner beinahe taub oder
schlichtweg nachsichtig genug, uns diesen Spaß zu gönnen.
Rasch packte ich zwei Flaschen Frischmilch in den Einkaufswagen und eilte zurück zur
Kasse. Prompt stand ich hinter den beiden Protzern und spürte spontan ein dringendes
Bedürfnis, ihnen den Wagen in ihre muskulösen Waden zu rammen.
Der kleinere der Beiden versetzte seinem Kumpel einen Seitenhieb, welcher mich daraufhin
ein- und aufdringlich musterte.
Ich verdrehte die Augen und zog instinktiv mein T-Shirt über den Bauchnabel. Dadurch
blitzte jedoch das Tattoo über der rechten Brust hervor.
„Hat das nicht wehgetan?“, fragte der Kleine mit Blick auf die kleine Spinne.
„Was soll die blöde Frage?“ Schnell zupfte ich den Ausschnitt hoch, was zur Folge hatte, dass
mein Bauchnabel wieder sichtbar wurde.
„Na, wenn man an so empfindlichen Körperteilen gestochen wird?“
„Bescheuerter geht’s nicht, was?“ Ich beugte mich nach vorn flüsterte ihm ins Ohr: „Wird es
denn auch weh tun, wenn ich in deine Muckis piekse und dir so ganz langsam die Luft
ausgeht?“
Der Kleine griente nur an und ich war erleichtert, das Piepen des Kassenscanners zu hören.
„Würde gerne wissen, wo da noch überall Tattoos sind?“ Sein Grinsen wurde immer breiter.
„Zieh’ Leine, Vollidiot!“ Meine Hände wurden feucht. Ich hätte ihm am liebsten eine geklebt.
Bei näherer Betrachtung der Oberarme hielt ich allerdings eine verbale Auseinandersetzung
für angemessener.
„Kleine Zicke“, lachte er. „Man sieht sich.“
„Hoffentlich nicht mehr in diesem Leben“, rief ich ihnen nach, als sie endlich – noch immer
lachend – im Ausgang verschwanden.
Kapitel 2
„Hallo, Frau Brenner. Ich habe Ihnen zwei Flaschen Landliebe gekauft.“ Ich drückte bereits
zum siebten mal auf die Türklingel, als Omi Brenner endlich öffnete.
„Um Gottes Willen, Kindchen! Ist Ihnen auch nichts geschehen? Haben Sie schon die Polizei
verständigt?“
Himmel! Wozu gab es eigentlich Hörgeräte?
„Nein“ rief ich deshalb. „Keine Taschendiebe. Es wurde auch nichts geklaut.“ Ich holte tief
Luft. „Zwei Flaschen Landliebe gekauft! Recht so?“
Frau Brenner nickte mir unschlüssig zu. „Das ist nett. Aber Sie sollten trotzdem die Polizei
rufen, Fräulein Josephine.“
„Ja. Mach’ ich, Frau Brenner.“ Ich reichte ihr die beiden Flaschen und tätschelte beruhigend
ihre Schulter. Dann eilte ich in meine kleine Einzimmerwohnung, um das Essen für meinen
ganz persönlichen italienischen Abend vorzubereiten.
Freudig überrascht stellte ich fest, dass Brini in ihrem Eifer auch gleich meine Wohnung
aufgeräumt hatte. Sie wohnte mit meinem Bruder direkt nebenan und der Vermieter hatte es
uns – vernünftigerweise – gestattet, nachträglich eine Verbindungstür einzuziehen.
Brini, eigentlich hieß sie Sabrina, war meine beste Freundin seit der Schulzeit. Wir waren
seelenverwandt. Sie war es, der ich meinen Realschulabschluss verdankte, stets mein Fels in
der Brandung. Unsere Beziehung war innig und vertraut und basierte auf wortlosem
Verständnis. Im Gegensatz zu Gil und mir war Brini in einem sehr konservativen Zuhause
aufgewachsen. Ihre Eltern waren schockiert, dass sie gerade mich zur besten Freundin
gewählt hatte. Als sie mit dreiundzwanzig und – was im Grunde das Schlimmste an der
ganzen Sache war – unverheiratet schwanger wurde, brach für sie eine Welt zusammen. Sie
liebten ihr Enkelkind über alles, doch Brinis unkonventionellen Lebensstil schrieben sie allein
ihrem schlechten Umgang mit dieser chaotischen Dschoo, also mir zu.
Brini allerdings schien an den Auseinandersetzungen und Diskussionen regelrecht Gefallen zu
finden. Und sie setzte alledem noch die Krone auf, als sie sich vor gut achtzehn Monaten mit
meinem zehn Jahre jüngeren Bruder Gil einließ.
„Dieser Rocker! Das kann doch nicht gut sein für das Kind“, taten sie lautstark ihren Unmut
kund.
„Er ist kein Rocker, Papa. Er ist gelernter Kfz-Mechaniker.“
„Aber der fährt so eine Harwie Danielsen“, geriet Brinis Mutter Erika fast außer sich.
„Harley Davidson heißt das. Und deswegen ist er noch lange kein Rocker.“
„Kind! Hast du ihn dir mal angeschaut?“ Erikas Wangen glühten bereits.
„Und wie, Mama. Und wie.“ Brini grinste bis hinter beide Ohren. Sie war zielstrebig auf
Provokation aus – und genoss es.
„So ein Langhaariger“, warf Brinis Vater Kurt ein.
Brini zwinkerte mit ihren strahlenden, grasgrünen Augen. „Bei Gil sind nicht nur die Haare
lang...“
„Jetzt hör’ aber auf!“ Kurt schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Er schüttelte
missbilligend den Kopf. „Das macht alles nur der Umgang mit dieser Jo. Die hat dir auch
ihren Bruder aufgeschwatzt. Stimmt doch, oder? Stimmt doch?“
„Nein“, griente Brini und wusste, dass sie in wenigen Sekunden ihr Ziel erreicht haben würde.
„Ich bin freiwillig mit ihm ins Bett gestiegen.“
„Es reicht! Es reicht wirklich!“ Kurt war die Zornesröte in den Kopf gestiegen. Er verließ
wutschnaubend die Küche.
Erika umfasste Brinis Hand. „Sabrina, Kindchen. Sei doch vernünftig. Dieser... dieser...
dieses Kind, das er selbst noch ist, kann doch nicht der Vater der kleinen Yuma werden“,
appellierte sie an Brinis Gewissen. „Der sucht doch nur einen Mutterersatz.“
„Rede doch keinen Quatsch, Mama!“ Erika hatte ihren wunden Punkt getroffen. „Das Alter
spielt gar keine Rolle! Er hat einen vernünftigen Job, ein regelmäßiges Einkommen, und er
liebt Yuma. Schließlich kennt er sie schon, seit sie geboren wurde. Und du weißt genau so gut
wie ich, dass er ein ganz lieber Kerl ist.“
„Er schon“, musste Erika murmelnd gestehen. „Aber seine Schwester ist eine Furie! Die hat
noch nicht mal eine anständige Arbeit.“
„Mama, Jo ist vielleicht manchmal etwas chaotisch und leicht auf die Palme zu bringen. Aber
überleg’ doch mal, was sie alles hat durchmachen müssen“, sprang Brini wie schon oft für
mich in die Bresche.
„Hat noch nicht mal ein anständiges Elternhaus gehabt. So wie du.“ Erika sah Brini
erwartungsvoll an. „Bei ihr ist es ja auch kein Wunder, dass sie so... so... so ist, wie sie eben
ist. Aber du...?“
„Es ist gut, Mama.“ Brini stand auf und griff nach ihrer Tasche. „Sie schreibt Kinderkrimis.
Sehr gute sogar. Und irgendwann wird sie auch groß rauskommen. Ihr kennt sie einfach
nicht.“
„Das ist auch gut so. Und besser wäre es, wenn du sie auch nicht kennen würdest“, murmelte
Erika grantig.
Brini kannte mich, wie kein anderer Mensch. Sie würde mich bis aufs Blut verteidigen. „Jetzt
reicht es wirklich, Mama.“ Sie warf ihrer Mutter einen zornigen Blick zu. „Wir sehen uns
nächste Woche. Komm, Yuma.“ Sie packte ihre Tochter bei der Hand und verließ ohne ein
weiteres Wort ihr Elternhaus.
Kapitel 3
Merlin kam mir schwanzwedelnd und freudig bellend entgegen. Er hopste mehr als dass er
lief und überschlug sich dabei fast. Ich hatte Merlin mit nicht mal fünf Wochen
halbverhungert am Straßenrand aufgelesen. Mit Katzenmilch, viel Liebe und Geduld habe ich
ihn aufgepäppelt, sodass er inzwischen und mit nunmehr fast drei Jahren, eine Schulterhöhe
von achtundzwanzig Zentimetern erreichte. Er war ein quirliger, kleiner Kerl, der mir aufs
Wort gehorchte. Im Nachhinein hatte sich herausgestellt, dass er ein echter Rassehund war.
„Ein waschechter Bichon frisé“, erklärte mir damals die Tierärztin und ich musste das zu
Hause erst einmal googlen. „Das ist eine hierzulande noch sehr unbekannte Rasse. Sie können
mehr als achtzehn Jahre alt werden.“
„Das soll mir nur recht sein“, erwiderte ich erleichtert und streichelte Merlin zärtlich über sein
reinweißes, flauschiges Fell. Er sah aus wie ein überdimensionales Wattebällchen und blicke
mich aus seinen tiefschwarzen, mandelförmigen Augen dankbar an.
„Na, mein Schatz? Bekomme ich auch etwas ab?“ Gil hatte seine Arme um meine Taille
gelegt, gab mir einen Kuss in den Nacken und schaute über meine Schulter hinweg auf das
Chaos, das sich über dem Herd ausbreitete. „Oder ist heute Hannes-Tag?“
„Du hast es erfasst, Bruderherz.“ Ich drehte mich um und hielt ihm den Kochlöffel unter die
Nase.
Gil räusperte sich. „Wenn es so schmeckt, wie es riecht, musst du dir beim Dessert aber
ziemliche Mühe geben“, erklärte er naserümpfend.
„Nachtisch ist meine Spezialität“, konterte ich und schob ihm den Kochlöffel in den Mund.
„Hmmm.“ Gil ließ seine Zunge über die üppigen, wohlgeschwungenen Lippen gleiten und
sah mich aus meerblauen Augen überrascht an. Seine schulterlangen, leicht gelockten braunen
Haare hatte er frech hinter die Ohren geklemmt.
Wir sahen uns überhaupt nicht ähnlich und schon mehr als einmal hatten wir uns gefragt, ob
unsere Erzeuger dieselben waren?
„Naja, schlecht schmecken tut’s ganz gut“, erklärte Gil und nickte gespielt anerkennend.
„Zieh’ Leine! Ich muss noch duschen“, schubste ich ihn sanft aus der Küche.
„Vergiss’ nicht, die Beine zu rasieren“, rief er noch im Hinausgehen, bevor der Kochlöffel
nur um Zentimeter seinen Kopf verfehlte.
Ich liebte meinen Bruder inniglich und würde ohne zu fragen oder nachzudenken mein Leben
für ihn geben. Uns trennten zehn Jahre. Seit dem Tag, an dem er geboren wurde, war ich seine
Ersatzmutter.
Gil war das absolute Gegenteil von mir – nicht nur optisch. Er war ruhig und ausgeglichen.
Und er war eine treue Seele. Seine Unsicherheit überspielte er gekonnt mit schweigsamer
Coolness. Ganz im Gegensatz zu mir hatte er die Schule mit einem ausgezeichneten Zeugnis
abgeschlossen. Ich war immer überzeugt gewesen, dass aus ihm einmal etwas ganz Großes
würde. Er jedoch ging seiner Leidenschaft nach und begann eine Lehre in einer KfzWerkstatt. Seit fünf Jahren war er Teilhaber eines Motorrad-Geschäftes inklusive Werkstatt
und schraubte seitdem mit Hingebung und Ausdauer an seiner Harley Davidson. So manch
einer hatte ihn und seine Kumpels schon als Rocker bezeichnet und schwachsinniger Weise
Kinder eindringlich darum gebeten, einen großen Bogen um sie zu machen.
Ich überprüfte gerade den Sitz meiner Strapse, als es läutete. Nach einem kurzen Blick auf
den romantisch gedeckten Tisch öffnete ich und lehnte mich lässig an den Türrahmen.
„Hallo, Herr Erdinger“, säuselte ich mit rauchiger Stimme und sah Hannes tief in die Augen.
„Hallo, meine Schöne!“ Hannes musterte mich von Kopf bis Fuß. Er schob mich in die
Wohnung und schloss rasch die Tür hinter uns. Seine Hand befand sich in Windeseile auf der
Innenseite meiner Oberschenkel.
„Nicht so vorschnell.“ Bestimmt schob ich die Hand zurück. „Erst wird gegessen.“
Hannes folgte mir zum gedeckten Tisch.
„Du hast aufgeräumt?“, bemerkte Hannes leise.
Ich wusste genau, wie er das meinte und warf ihm einen ungehaltenen Blick zu. „Du musst
hier ja nicht wohnen. Also sei still und iss!“
Hannes war klar, dass jedes weitere Wort geradewegs zum Rauswurf führen würde.
„Hm, lecker“, zwang er sich deshalb nach dem ersten Bissen zu sagen. Seine gekräuselten
Augenbrauen jedoch verrieten mir etwas ganz anderes.
Ich konnte ihm nicht böse sein, denn auch ich bekam das, was ich Pasta nannte, nicht
hinunter. Ich hustete meinen Bissen aus und ließ ihn unauffällig in meiner Serviette
verschwinden.
„Willst du deinen Nachtisch?“, zwinkerte ich Hannes zu.
Natürlich wollte er das. Wegen nichts anderem kam er nun bereits seit sechs Monaten zu mir.
Ich nahm einen großen Schluck Rotwein, um den üblen Geschmack aus meinem Mund zu
bekommen und ging auf Hannes zu. Erwartungsvoll hatte er seinen Kopf in den Nacken
gelegt, während ich langsam sein Hemd aufknöpfte. Ich setzte mich auf seinen bereits prall
gefüllten Schoß und barg meinen Kopf an seinem Hals. Als er mein Kleid öffnen wollte,
schlug ich ihm auf die Finger.
„Ich mach’ das selbst!“ Ich sah ihn überlegen an und zurrte den Reißverschluss nach unten.
Langsam glitten die Träger von meinen Schultern und ich schlüpfte heraus.
Hannes begutachtete sein Dessert und leckte sich über die Lippen.
„Steh’ auf“, wies ich ihn harsch an. Hannes tat, wie ihm geheißen. Ich öffnete den Knopf
seiner Hose und ließ meine rechte Hand hineingleiten. Mit der linken zog ich ihm das Hemd
von den Schultern. „Da hat wohl jemand Hunger“, wisperte ich und drängte ihn zu meinem
Bett. „Großen Hunger.“
Hannes atmete inzwischen schwer. Er streifte seine Schuhe ab und grub seine Hände in mein
Haar. Um seine Augen wuchsen kleine Lachfältchen und in seinen Augen die Sehnsucht.
Seine Küsse wurden fordernder.
Ich schubste Hannes auf die Matratze und setzte mich auf seinen Schoß. Geschickt hatte ich
ihn seiner Hose entledigt und streifte mit dem Zeigefinger um den Innensaum des Slips. Zwar
war Hannes bereits knapp über fünfzig, bewies jedoch bei der Auswahl seiner Unterwäsche
mehr Geschmack als so mancher Zwanzigjährige.
Ich war es, die den Rhythmus vorgab. So wie immer. Hannes graue Schläfen glänzten silbern,
so erhitzt war er zwischenzeitlich. Über meinen Rücken liefen vereinzelt Schweißperlen, als
wir nach zwanzig Minuten unter leisem Stöhnen unseren Höhepunkt erreichten.
Hannes lag erschöpft neben mir und spielte mit einer Haarsträhne.
„Ich habe mit deiner Frau gesprochen“, sagte ich in die Stille.
Ich konnte Hannes fest schlucken hören. „Du hast...? Was?“, fragte er und Panik schwang in
seiner Stimme mit.
„Ich. Habe. Heute. Mit. Deiner. Frau. Gesprochen“, wiederholte ich quälend langsam.
„Was...? Was hast du zu ihr gesagt?“ Hannes richtete sich auf.
Ich verkniff mir nur mühsam ein Grinsen. „Hallo, Frau Erdinger, hab ich gesagt. Ihr Mann
ist wirklich gut zu vögeln. Wussten Sie eigentlich, dass er auch auf Fesselspiele steht?“
Hannes stand das blanke Entsetzen im Gesicht.
Ich drehte genüsslich meinen Kopf zur Seite und starrte auf meine Schlafzimmerkommode,
um nicht in lautes Gelächter auszubrechen.
„Josephine“, rief Hannes empört.
„Nenn’ mich nicht so! Du weißt, wie ich das hasse“, fuhr ich ihn an.
„Jo! Aber, Jo! Das kannst du doch nicht machen?“ Hannes begann wild zu gestikulieren. „Das
hast du doch nicht wirklich getan? Das geht so nicht!“
„Würdest du mir das denn zutrauen?“
„Ja“, antwortete Hannes ohne Zögern.
Damit hatte er mich getroffen.
„Du würdest mir das also tatsächlich zutrauen?“, hakte ich, in der Hoffnung, mich verhört zu
haben, nach.
Hannes sah mich nur eindringlich an. Er sagte nichts mehr.
„Weißt du was? Verzieh’ dich hier. Pack’ deine Klamotten und hau’ ab“, fauchte ich. Ich
spürte, wie Wut in mir zu brodeln begann.
„Du machst es dir wirklich einfach“, brummte Hannes vorwurfsvoll und sah mich mitleidig
an.
„Wer? Ich? Ich mache es mir einfach?“ Ich stand auf und zündete mir eine Zigarette an. „Du
kommst doch zu mir, lässt dich vögeln, und machst zwei Stunden später mit deiner Frau und
deiner verzogenen Tochter auf heile Familie.“ Einmal mehr war ich dankbar, dass Omi
Brenner ein so schlechtes Gehör hatte.
„Und du?“ Hannes war ebenfalls aufgestanden und wühlte im Bett nach seinem Slip. „Ich will
mich von meiner Frau trennen. Für dich“, fügte er hinzu.
Ich nahm einen weiteren großen Schluck aus meinem Rotweinglas. „Ph! Das wäre ja noch
schöner“, zischte ich ihn an.
„Was soll das heißen?“
„Hör’ mal, Hannes.“ Ich trat auf ihn zu und legte meine linke Hand auf seine Brust. „Bleibe
du bei deiner Frau. Ich brauche niemanden, der mich bevormundet.“
„Aber das tue ich doch gar nicht.“ Hannes zog seinen Slip wieder aus und drehte ihn auf
rechts.
„Das wirst du aber, Früher oder später. Irgendwann auf jeden Fall.“
Eine unangenehme Stille trat ein.
„Das ist dann wohl der Grund dafür, dass du dir immer nur verheiratete Männer an Land
ziehst?“
Das war mehr eine Feststellung als eine Frage. Ich hasste die Weisheit des lebenserfahrenen
Mannes.
„Du bist so was von...“, rang Hannes wütend nach Worten, „von beziehungsunfähig!“
Ich drehte mich um. Ich wollte weder ihm noch mir eingestehen, dass er damit vermutlich
Recht haben könnte.
„Geh‘“, sagte ich daher leise. „Geh’ nach Hause zu deiner Frau und deiner Tochter und lasse
dich bei mir nicht mehr blicken.“
Ohne ein weiteres Wort kleidete Hannes sich an und ging.
Kapitel 4
Ich zog meinen Bademantel über und zündete mir eine weitere Zigarette an, als Brini durch
die Tür spähte. Sie hatte eine Flasche Wein in der einen und Gil an der anderen Hand. Die
beiden setzten sich links und rechts neben mich und legten ihre Köpfe auf meine Schultern.
„War klar“, murmelte Gil.
„Klappe, Grünschnabel!“
Gil wusste, dass ich das nicht böse meinte. Er wusste, dass ich wusste, dass er Recht hatte.
So kippte das Trio Infernale gemeinsam drei Flaschen Rotwein und eine halbe Flasche
Tequilla und hatte bis zweiundzwanzig Uhr dreieinhalb Päckchen Zigaretten geraucht.
„Es kann doch nicht angehen, dass du immer wieder an die falschen Männer gerätst“, lallte
Gil und küsste sanft meine Nase.
„Es sind nicht die falschen – hicks! – es sind nur immer die verheirateten Männer. Nicht
wahr, Süße?“ Brini strich mir behutsam über die Wange und schnitt eine weitere Zitrone auf.
„Warum eigentlich?“, fragte Gil. „Es muss doch nicht genau so...“
„Halte dein – ups! – kleines Zuckerschnütchen, liebstes Bruderherz“, fiel ich ihm ins Wort,
stand umständlich auf und torkelte zur Balkontür, um sie zu öffnen und uns eine volle Ladung
eisgekühlten Sauerstoff zu gönnen.
„Aber nur weil es“, fuhr Gil unbeirrt fort, „zwischen Mutter und Vater…“
„Gilbert!“, stieß ich ungehalten aus. „Nenn’ sie nicht Mutter! Oder hast du vergessen, was sie
uns angetan hat?“
Brini senkte den Kopf. Keiner von uns würde das je vergessen können. Sie nahm Gils Hand.
Ich stand an der offenen Balkontür und zitterte nicht vor Kälte. Ein unangenehmer Schauer
überlief meinen Rücken, als ich mir unsere Kindheit in Erinnerung rief...
„Warst du wieder bei deiner kleinen Hure?“, schrie die Frau, die uns geboren hat, aus voller
Kehle und zerdepperte den vierten Teller auf dem Fußboden.
Die Scherben flogen mir um die Ohren, als ich schützend den damals gerade vier Monate
alten Gil an meine Brust presste.
„Und ich muss mich um die Gören hier kümmern, während du deinen Spaß hast!“ Sie warf
unserem Vater einen Blick zu, der an Hass kaum mehr zu übertreffen war.
„Lies gefälligst die Scherben auf, du unnützes Balg!“ Klatschend traf ihre große Hand auf
meinen Hinterkopf.
Noch immer hielt ich Gil fest im Arm, kniete mich jedoch umgehend auf den Fußboden, um
die Scherben einzusammeln. Ich zitterte am ganzen Leib, als ein weiterer Teller neben mir
krachend in tausend Einzelteile zerbrach. Während ich ängstlich die Scherben einsammelte,
durchfuhr ein stechender Schmerz meine Handinnenfläche. Ich biss die Zähne zusammen und
gab keinen Laut von mir.
Die Frau hatte bereits wütend auf Vater eingeschlagen, als sie das Blut auf den Küchenfliesen
bemerkte.
„Nun schau‘ dir das an“, tobte sie. „Jetzt muss das Plag wahrscheinlich noch zum Arzt. So
eine Sauerei. Hau’ ab!“ Das galt mir. „Geh’ mir aus den Augen!“
Ich eilte ins Badezimmer und hielt meine Hand unter das kalte Wasser. Noch immer presste
ich Gil fest an mich.
Weitere vier Jahre ertrugen wir die seelisch sowie körperlich schmerzhaften Wutausbrüche
meiner Mutter. Als ich mich eines Nachts in den Hobbyraum unseres Vaters schlich, um dort
in seinen alten Kriminalromanen zu schmökern, fand ich ihn erhängt vor.
Noch in derselben Nacht packte ich leise einen kleinen Koffer und flüchtete mit Gil zu meiner
Großmutter. Nachdem diese zwei Jahre später an einem Infarkt starb, blieb ich mit meinem
Bruder weitere zwei Jahre im Heim. Nach Erreichen meines achtzehnten Lebensjahres konnte
ich mit Unterstützung eines Pfarrers die Pflegschaft für Gil übernehmen und wir zogen
gemeinsam in eine kleine Einzimmerwohnung, die ich mit kleinen Nebenjobs finanzierte.
Ich strich mit dem Finger über die noch immer spürbare Narbe in meiner Handinnenfläche.
„Sagt mal“, die inzwischen elfjährige Yuma stand in der Tür und sah uns grinsend an, „seid
ihr etwa besoffen?“
„Ach, herrje“, jodelte Brini und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. „Ich hab’ mein
Kind vergessen!“
Wir sahen uns an uns begannen alle vier völlig überdreht zu lachen.
Yuma schüttelte den Kopf und presste sich zwischen ihre Mutter und Gil. „Ihr seid definitiv
besoffen!“
„Nein! Nein! Niemals!“, grölten wir.
„Los jetzt, Prinzessin. Ich bringe dich ins Bett.“ Gil strich Yuma sanft über den Kopf.
„Quatsch! Das mache ich. Und übrigens ist sie inzwischen schon alt genug, um alleine ins
Bett zu gehen“, erklärte Brini bestimmt.
Gil warf mir einen vielsagenden Blick zu.
„Und du bist inzwischen schon zu alt, um alleine ins Bett zu gehen, Mama.“ Yuma sprang auf
und rannte kichernd in ihr Zimmer.
Völlig überrumpelt und leicht schwankend schleppte sich Brini hinterher.
Gil sah den beiden unglücklich nach. „Sie behandelt mich wie ein Kind“, murmelte er.
„Ich weiß.“ Ich legte den Arm um meinen kleinen Bruder. „Und du behandelst sie wie deine
Mutter.“
„So ein Blödsinn!“
„Kein Blödsinn, Mister Möchtegerncool!“
Gil griff sich meine Zigarette. Er zitterte. Dieses Mal wusste er, dass ich Recht hatte.
Kapitel 5
Endlich! Nach dem vierzehnten Klingeln öffnete sich die Tür.
„Hallo, Fräulein Josephine.“ Omi Brenner strahlte mich an.
Ich hielt ihr eine Topfpflanze entgegen. „Schauen Sie mal, was ich gefunden habe, Frau
Brenner.“ Der Stamm der eigenartigen Pflanze schien durch einen orangefarbenen Plastikring
ersetzt, aus dem schnittlauchähnliche Halme sprießten. Sie sah aus wie der Kopf von Lenny
Kravitz – nur in Grün eben.
„Oh!“ Omi Brenner nahm die Pflanze entgegen und besah sie verzückt. „Ein Scirpus cernuus!
Wie lieb von Ihnen, Fräulein Berghammer!“
Ich griente und war aufrichtig glücklich, ihr eine Freude bereitet zu haben.
„Herzlichen Dank“, nickte Frau Brenner und schaute mich erwartungsvoll an. „Haben Sie
auch wieder etwas zum Lesen für mich dabei?“
„Aber sicher.“
Ich zog das Manuskript meines letzten Kinderkriminalromans aus der Tasche und reichte es
ihr. Ein weiteres Exemplar hatte ich Yuma bereits auf den Nachttisch gelegt. Sie und Omi
Brenner waren so etwas wie meine Lektorinnen. Ich vertraute blind ihrem Urteil. Sollten sie
auch nur ansatzweise den Fall vor meinen drei Romanfiguren gelöst haben, landete das
Manuskript im Müll und ich begann von neuem.
„Trinken Sie noch einen Kaffee mit mir?“ Omi Brenner wartete gar nicht erst auf eine
Antwort, sondern hakte sich umgehend bei mir ein und zog mich in ihre Wohnung.
Die Penthousewohnung war ein Traum! Der Traum meiner schlaflosen Nächte. Sie war
geräumig und lichtdurchflutet. Allein das Wohnzimmer war größer als meine komplette
Einzimmerwohnung. Zwei breite Flügeltüren öffneten den Weg auf die Dachterrasse, welche
einen atemberaubenden Blick auf Frankfurt bot.
Wenn ich erst mal da oben bin, schaue ich von dort auf Sie hier runter, liebes Fräulein
Josephine, beliebte Omi Brenner gerne zu sagen. Sie wusste, wie sehr ich ihre Wohnung
mochte. Sie wusste jedoch auch, wie wenig ich es mochte, wenn sie von ihrem Ableben
sprach. Irgendwann geht jeder diesen Weg. Und wenn ich mich auf die Reise mache, will ich
Sie in meiner Wohnung wissen, beruhigte sie mich dann jedes Mal.
Wir nahmen auf der gepflegten Dachterrasse Platz und genossen die wahrscheinlich letzten
Sonnenstrahlen in diesem Herbst.
„Aus Ihnen wird noch eine ganz große Schriftstellerin werden.“ Frau Brenner legte zärtlich
ihre Hand auf meinen Arm und sah mich mit glänzenden Augen an. „Schade, dass ich das
nicht mehr erleben werde“, fügte sie hinzu.
Ich sah sie erschrocken an. „Bitte, Frau Brenner, Sie...“
Sie unterbrach mich – wahrscheinlich hatte sie noch nicht einmal gehört, dass ich etwas sagen
wollte. „Mein Herbst ist jetzt auch bald vorüber. Ich bin fünfundneunzig. Das ist alt genug.“
Ich schüttelte energisch den Kopf. „Sagen Sie nicht sowas.“
„Wie? Was? Wie ist das denn passiert? Haben Sie sich verbrüht?“ Schneller als es ihr Alter
vermuten ließ, war sie in die Küche geeilt und kam mit einem Geschirrtuch zurück.
Ich blickte sie verständnislos an und dachte angestrengt nach.
„Nein!“, rief ich dann. „Meine Hose ist nicht nass!“ Ich schluckte. „Ich sagte: Sie sollen
sowas nicht sagen!“
Omi Brenner legte das Geschirrtuch zur Seite und schenkte mir ein warmherziges Lächeln.
„Alles nimmt seinen Lauf, geht seinen eigenen Weg. Wir können nur versuchen zu lenken,
aber das Ziel ist uns vorherbestimmt.“
Das war zuviel für mich. Jeden anderen hätte ich jetzt an den Schultern gepackt und
geschüttelt. Doch Omi Brenner erweichte sogar mein Herz.
„Oh, Merlin“, meckerte ich zwei Stunden später. „Nun mach’ schon. Ich könnte.“
Die Sonne hatte sich bereits schlafen gelegt und mir blies ein eisiger Wind um die Nase. Ich
fror wie ein Bettnässer und tippelte von einem Fuß auf den anderen.
„Welche Sportart ist das denn?“, hörte ich eine bekannte Stimme und spürte dessen Atem im
Nacken.
Oh, nein. Nicht die schon wieder! Ich drehte mich um und warf den beiden Protzern vom
Supermarkt einen entnervten Blick zu. „Ich wüsste nicht, was euch das angeht?“
Ihr unverschämtes Grinsen brachte mich in Nullkommanix in Rage.
„Hättest du nicht mal Lust, zu uns in den Club zu kommen?“ Der Große sah mich freundlich
an.
„Welchen Club denn?“, ignorierte ich sein höfliches Lächeln und schlug mir selbst gegen die
Stirn. Wieso fragte ich überhaupt?
Er zog einen Handzettel aus seiner Jackentasche und reichte ihn mir. „Hier. Übrigens: Ich bin
Markus.“
„Jo“, murmelte ich unwillig, warf aber dennoch einen kurzen Blick auf den Handzettel.
NEUERÖFFNUNG FITNESS-CENTER BODY STYLE AM 01.11.2004 !!! las ich mäßig
interessiert und gab ihm den Handzettel zurück.
„Danke, Markus. Aber in solche Pumpschuppen geh’ ich grundsätzlich nicht“, erklärte ich
knapp. „Und tschüss!“ Ich wandte mich zum Gehen und hielt nach Merlin Ausschau.
„Warte doch mal“, rief Markus und griff nach meinem Oberarm, bevor der Kleine ihm ein
Lieber nicht anfassen! zuzischen konnte.
In Sekundenschnelle hatte ich ihm gegen das Schienbein getreten. „Finger weg!“
„Au!“ Markus warf mir einen überraschten, schmerzverzerrten Blick zu. Volltreffer!
„Ich hab’s dir gesagt“, murmelte sein Muckikumpel und verkniff sich ein Grinsen.
„Halt’ die Klappe“, knurrte Markus und rieb sich das Schienbein.
„Hör’ mal“, startete jetzt der Kleine einen weiteren Versuch, „Wir dachten, du hättest
vielleicht Interesse daran, dir ein paar Euros bei uns zu verdienen?“
Ich holte entrüstet Luft.
„Nein, nein. Nicht falsch verstehen“, beruhigte er mich. „Wir suchen Models.“
Ich tippte mir an die Schläfe. „Ihr spinnt doch! Und jetzt verzieht euch, bevor ich meinen
Hund auf euch hetze.“
Ich warf einen schnellen Blick Richtung Merlin, der endlichsein Geschäft verrichtete. Mit
einer Hundetüte bewaffnet machte ich mich auf den Weg zu ihm. Spontan kam mir in den
Sinn, wie bekloppt es aussehen musste, wenn Markus und Co sahen, mit welchem bissigen
Raubtier ich ihnen drohte.
Ich drehte mich kurz um und erkannte, wie sie mir kopfschüttelnd nachsahen.
Kapitel 6
„Wozu um alles in der Welt braucht denn ein Fitnessstudio Models?“ Brini rührte abwesend
im Gulaschtopf.
„Keine Ahnung.“
„Vielleicht sollte ich mich mal bewerben?“, schlug sie lachend vor, wobei sie ihre
beneidenswert üppigen Brüste nach oben schob.
„Hm.. Das sieht ja lecker aus“, schmunzelte Gil. Wir hatten sein Kommen gar nicht bemerkt.
„Das Gulasch?“
„Das auch.“ Gil gab mir einen schnellen Kuss und küsste der Frau seines Lebens dann
leidenschaftlich das Decolleté. Es machte mich unbeschreiblich glücklich, dass ausgerechnet
die beiden sich gefunden hatten.
„Hi, Prinzessin.“ Yuma fiel mir lachend in die Arme.
Ich liebte sie wie eine eigene Tochter. Ich war bei ihrer Geburt dabei und hielt sie, gerade mal
zwei Minuten alt, in meinen Armen. Sie sah ihrem Vater sehr ähnlich. Auch sie hatte eine
athletische Figur, die großen eisblauen Augen und das schwarze, dichte Haar.
Meine Gedanken schweiften gut zwölf Jahre zurück...
„Hier. Ich denke, du meinst so etwas?“ Ilona reichte mir ein Buch über Mythen und Rituale
und zwinkerte mir mit grünen Katzenaugen wohlwissend zu. Sie würde eine gute, kleine
Hexe abgeben.
„Ich danke dir, mein Schatz“, strahlte ich und begann sofort zu blättern. „Alles im grünen
Bereich zwischen dir und Laura?“
Ilona und Laura waren bereits seit zwei Jahren ein Paar und fester Bestandteil unserer Clique.
Lange Zeit verheimlichten sie ihre Liaison, bis sie sich endlich Silvester sechsundneunzig
öffentlich zu ihrer lesbischen Liebe bekannten.
Brini und ich waren die einzigen, die von Anfang an von der Beziehung wussten – und sie so
manches Mal darum beneideten. Unterschiedlicher konnten zwei Menschen gar nicht sein.
Ilona hatte ihre langen, feuerroten Haare stets zu einem Zopf gebunden und konnte essen, was
sie wollte, ohne auch nur ein einziges Gramm zuzulegen. Sie war in allen Schulfächern
Klassenbeste und widmete sich jede freie Minute ihren Büchern. Sie liebte Hexenkult und
alles Mystische. Wie nicht anders zu erwarten, arbeitete sie mit energischer Leidenschaft in
der Frankfurter Großbücherei. Jedes Buch, jeden Autor konnte sie benennen. Sie war ein
warmherziges Genie.
Laura war drei Jahre älter, ziemlich üppig um die Hüfte und mit haselnussbraunen
Rastazöpfchen. Wir hatten uns während meines letzten Heimjahres kennengelernt und
verstanden uns aufgrund ähnlich tragischer Kindheitserlebnisse auf Anhieb. Im Gegensatz zu
mir schipperte Laura jedoch nicht wie ein verbales Schlachtschiff durchs Leben und scherte
sich einen Dreck um die Gefühle ihr nicht Nahestehender. Laura war ein sehr sensibler und
zurückhaltender Mensch. Sei liebte Kinder und wurde Grundschullehrerin.
„Ach, Jo. Du weißt doch genau, dass ich ihr nie lange böse sein kann.“ Ilona seufzte
nachsichtig. „Ich finde einen Golf einfach spießig. Und schließlich haben wir uns ja auch in
der alten Ente zum ersten Mal...“ Sie lächelte verschmitzt.
„Jede Ente hat ein Ende“, murmelte ich und blätterte weiter in dem dicken Buch.
Ilona beobachtete mich eine Weile, schob dann meine Hand beiseite und schlug Kapitel neun
auf. „Da müsst ihr schauen.“
DAS FRUCHTBARKEITSRITUAL, las ich. Das war es.
Brini war felsenfest davon überzeugt, noch während ihres zweiundzwanzigsten Lebensjahres
schwanger werden zu müssen, da das Leben ihrer Meinung nach ohnehin viel zu kurz sei, um
es zu vertrödeln.
„Und wie soll das nun vonstatten gehen?“, fragte ich unsicher.
„Pass auf, Süße“, erklärte Ilona geduldig. „An diesem Ritual nehmen beide Partner teil. Ziehe
einen magischen Kreis und fülle eine Muschel, eine Handvoll Erde, einen Schuss Milch mit
Honig und Anissamen in den Kessel – die ganzen Sachen habe ich dir bei mir zu Hause schon
hingestellt – dabei sage laut:
Oh Gott und Göttin, sieh die Muschel voller Leben
Wasser und Erde will ich Euch geben
Die Milch als Symbol der Mutterschaft,
die Samen für Wachstum und Manneskraft.
Die Flamme lass brennen voller Verlangen,
die Leidenschaft soll uns beide umfangen.
Setze nun eine Kerze in den Kessel und entzünde sie:
’Im Kessel entzünd´ ich die Kerze nun, rosa oder blau
Symbol für Mädchen, Mutter und alte Frau.
Sie brennet im Kessel mit Freud, nicht mit Schmerz,
schenkt Tochter oder Sohn mir, drum bittet mein Herz
Wir erbitten von Euch, Göttin und Gott
Gießt Fruchtbarkeit in uns´ren Schoß
Lasst den Keim in mir erblühen
Damit wir bald ein Kind erziehen.
Neue Liebe in unserem Heim,
so woll´n wir´s haben, so soll es sein.’
Nachdem du das ausgesprochen hast, hebst du den Kreis auf gewohnte Weise wieder auf.“
Ich sah Ilona verständnislos an. „Hä?“
„Du ziehst einen magischen Kreis und...“
„Schon gut, schon gut“, unterbrach ich sie schnell. „Wir haben da nur ein Problem.“
„Das wäre?“ Es gab kein Problem, für das Ilona keine Lösung finden würde.
„Mike steht – zumindest für das Ritual – nicht zur Verfügung. Für die Ausführung dann wohl
eher“, fügte ich grinsend hinzu.
„Aha.“
„Und wie ziehe ich einen magischen Kreis? Wie löse ich den wieder auf? Und...“
„Halt, halt, halt!“ Ilona tippte ostentativ auf das Kapitel. „Steht doch alles da drin, Herzchen!“
Ich atmete tief durch. „Also, gut. Dann werden wir das heute Nachmittag mal tun, damit Brini
in der Nacht geschwängert werden kann.“
Wir würden diesen Blödsinn also tatsächlich durchziehen.
„So, und jetzt?“, fragte Brini verunsichert, während ich unsere Gebrauchsanweisung für
rituelle Befruchtung zurück in die Tasche packte.
„Jetzt sollten wir wohl drauf warten, bis mystische Spermien deine Eierstücke umwerben“,
kicherte ich.
Brini sah mich vorwurfsvoll an und boxte sanft gegen meinen linken Arm.
„Mach’ halt Sex“, schlug ich daher schulterzuckend vor.
„Hmhm...“ murmelte sie unentschlossen.
Ich öffnete eine Flasche lieblichen Dornfelder. „Zischt wie Appelsaft!“
Brini seufzte. „Vielleicht sollte ich mir vorher echt etwas Mut antrinken?“
„Aber nur etwas.“
„Nur etwas.“
Nach der vierten Flasche Rotwein waren wir zwar nicht mehr ganz zurechnungsfähig, dafür
aber umso zuversichtlicher.
„Sischä klabbt däss! Mer häbbe doch alles rischdisch gemacht.“ Inzwischen war sogar ich
davon überzeugt, dass unser Fruchtbarkeitsritual die erwünschte Wirkung erzielen würde.
„Sischä“, stimmte Brini mir zu. „Awwer dess Kind brauchd aach en Naaame. Hick!“
Ich streichelte ihr behutsam über den Bauch. „Jou, Ma!“
„Isses! Hick!“
„Isses was?“
„Yuma soll die Kleene heiße.“ Brinis Wangen glühten wie ein Sonnenuntergang.
„Yuma?“
„Yuma!“
„Jou, Ma. Yuma!“
Brini arbeitete seit ihrer Ausbildung im städtischen Kindergarten. Und sie erzog ihre
Schützlinge mit einer bewundernswert geduldigen Inbrunst. Nicht bei allen Eltern kamen ihre
unkonventionellen Erziehungsmethoden gut an. Im Allgemeinen jedoch war sie die wohl
beliebteste Kindergärtnerin im ganzen Umkreis.
Selbstverständlich war Yuma über die Entstehung ihres Namens und auch ihrer Entstehung
bestens aufgeklärt.
Die Wirkung des Rotweins hatte allerdings Einfluss auf den Zeitpunkt der Zeugung (Brini
kämpfte einen vollen Tag mit Kopfschmerzen, daher fand der Geschlechtsakt mit
vierundzwanzig Stunden Verspätung statt), aber nach wie vor war sie davon überzeugt, dass
einzig unser Ritual zum gewünschten Erfolg geführt hatte.
Neun Monate und etwa siebzehn Presswehen später versprach sie mir, künftig auf Rituale
dieser Art zu verzichten – und auf Yumas Erzeuger.
Kapitel 7
„Jo-hooo…“ Yuma sah mich bedauernd an.
Ich wusste, was nun kommen würde. „Wer, wann und wieso?“, fragte ich enttäuscht.
„Das war die blöde Bemerkung, die die Gräfin dem Portier gegenüber gemacht hat. Auf Seite
neunundachtzig. Da war eigentlich schon klar, dass sie den Ring von Amara gestohlen hatte.
Also, wenn man nicht ganz blöd ist und ein kleines bisschen kombinieren kann.“ Yuma legte
bedauernd ihren Arm um meine Hüfte.
„Mist!“, fluchte ich. „So früh war es noch nie raus.“ In Gedanken sah ich mein Manuskript
schon im Papiermüll landen.
„Lass sie doch einfach nichts zu ihm sagen“, schlug Yuma vor. „Das meint Omi Brenner
übrigens auch.“
„Hm“, knurrte ich.
So konnte es einfach nicht weitergehen! Zwar hatte ich einen sehr kulanten Verlag gefunden,
der mir, was die Abgabe meiner Manuskripte betraf, immer ausreichend Spielraum gewährte.
Mein unregelmäßiges – wobei die Betonung auf mäßig lag – Einkommen jedoch würde es mir
nie ermöglichen, endlich aus meiner kleinen Einzimmerwohnung rauszukommen.
„Ach, Jo...“ Yuma küsste meine Wange und kuschelte sich in meine Arme. „Sonst ist die
Geschichte wirklich klasse. Ganz ehrlich.“
Ich sah sie an und zog die Augenbrauen nach oben. „Bis Seite neunundachtzig. Toll!“
Ich war mit meinem Manuskript inzwischen schon fast zwei Monate überfällig. „Bald lasse
ich Merlin Kunststückchen vor der Alten Oper aufführen, damit ich ihm wenigstens Futter
kaufen kann“, hörte ich mich selbst jammern und ärgerte mich sofort darüber.
Ich hasste es, jämmerlich zu sein. Diese Schwäche hatte ich mir seit dem Tod unseres Vaters
nie mehr erlaubt. Viele Freunde hatte ich nicht. Dafür war ich den meisten zu skrupellos und
gefühlskalt, wie sie es nannten. Aber die wenigen Menschen jedoch, die ich in mein Herz
geschlossen hatten, kannten mich, wussten mich zu nehmen und fanden – wie Brini es gerne
formulierte – den weichen Kern unter einer furchtbar harten Schale.
„Ich könnte mir ja endlich mal einen anständigen Job suchen.“ Ich schlug mit der flachen
Hand auf den Tisch.
„Spinnst du?“ Brini ließ den Kochlöffel in die Kartoffelsuppe fallen. „Und mit der Schreiberei
aufhören? Du hast sie ja wohl nicht mehr alle!“ Sie tippte mir unsanft gegen die Stirn.
Gil sah mich von der Seite an.
„Ich sollte endlich mal wieder Geld verdienen, findest du nicht auch?“
Sofort senkte er seinen Blick.
„Dann könnte ich auch meine Schulden bei dir begleichen.“
„Rede doch keinen Blödsinn“, widersprach er sofort. „Du hast keine Schulden bei mir.“
„Pah!“, schnaufte ich. „Viertausend Euro sind also keine Schulden?“
Brini schüttelte den Kopf. „Du weißt genauso gut wie ich, dass das Geld nicht geliehen war.
Es ist deins!“
Ich stand auf. „Es war meins. Ist doch schon lange weg. Und es war geliehen. Ich werde nicht
auf eure Kosten leben!“ Ich hatte eine Stinkwut auf mich selbst.
„Seid mir nicht böse, ihr Süßen. Aber ich drehe besser mit Merlin noch eine Runde.“
„Aber du warst doch grad eben...“
„Schatz“, fiel Brini meinen Bruder ins Worz. „Lass sie.“
Ich zog meine Jacke über, schnalzte mit der Zunge und machte mich erneut mit Merlin auf
den Weg in den Stadtpark.
Die Nacht war kühl und meine Nasenspitze nach zwanzig Minuten schockgefrostet. Ziellos
schlenderte ich durch Frankfurts Straßen, bis ich plötzlich vor einem futuristischen Gebäude
mit silbernen Stahlstreben zum Stehen kam. Große, teilweise verspiegelte Fenster gaben
Einblick in das Innere. Inzwischen war es nach zweiundzwanzig Uhr, doch ich konnte ein
schwaches Licht erkennen.
Ich trat einen Schritt zurück und las in großen Lettern BODY STYLE. Ach, herrjeh! Das war
diese Anabolikaschuppen, von dem Mucki-Markus erzählt hatte. Neugierig geworden
riskierte ich einen Blick durch eines der nicht verspiegelten Fenster und erkannte aus dem
Augenwinkel schadenfroh, wie Merlin die frisch angelegte Hauswand markierte.
Sportgeräte in allen Variationen blitzten im schwachen Licht einer Kerze. Ich drückte meine
Nase gegen das Fenster, um mir einen besseren Überblick zu verschaffen. Da war ja noch
Leben drin? Ich zwickte die Augen zusammen. Wow! Sehr reges Leben. Schätzungsweise
wurde hier eine Privat-Fitness-Stunde gegeben, denn zwei nackte, verschwitzte Körper
räkelten sich auf einer azurblauen Matte. Eine perfekt geformte Blondine gab sich den
Liebkosungen ihres nicht minder gut gebauten Trainingspartners hin. Genüsslich warf sie
ihren Kopf in den Nacken, als sein Mund langsam vom Hals zu ihrem Becken wanderte.
„Merlin, verflucht!“, zischte ich, als eben jener aufgeregt zu bellen begann. Ich sah drei
dunkle Gestalten direkt auf mich zukommen.
Schnell senkte ich den Kopf und tat, als würde ich Merlins Hinterlassenschaft aufsammeln.
Dieses Vorhaben gestaltete sich insofern als schwierig, da ich überraschenderweise weder im
Besitz von Papiertüchern, noch einer Tüte war.
„Hey“, rief mir eine der Gestalten zu. „Was tust du...?“ Er stand nun nicht weniger als drei
Meter vor mir. „Ach, du bist das!“
Ich erkannte Markus und räusperte mich leise.
„Hey, Tim. Schau’ mal, wer da wieder ist“, rief er seinem kleinen Muckikollegen zu.
„Arschloch“, murmelte ich und wandte mich zum Gehen.
„Hi, Jo!“, grüßte Tim. „Hast du es dir anders überlegt?“ Er griente jovial.
Ich zog die rechte Augenbraue nach oben. „Ganz bestimmt nicht!“
„So?“ Tim verschränkte die Arme vor seiner mächtigen Brust. „Und was tust du dann hier?“
„Meinen Hund vor eure Eingangstür kacken lassen, was denn sonst?“, antwortete ich
schnippisch.
„Murat, das ist sie“, klärte Tim der dritten dunklen Gestalt mit einem Kopfnicken in meine
Richtung auf.
„Die Zicke?“, schmunzelte Murat und trat aus der Dunkelheit. Er musterte mich vom Scheitel
bis zur Sohle und umkreiste mich dann. „Nicht übel“, murmelte er.
„Das kann es dir aber noch werden.“ Ich kam mir vor wie im Zoo. Trotzdem war mir
angesichts dreier durchtrainierter, aufgeblasener und höchstwahrscheinlich ziemlich starker
Männer etwas mulmig zumute. Dessen, ob Merlin mir eine große Hilfe in einer Notlage sein
würde, war ich mir zunehmend unsicherer. Ich schluckte.
„Ziemlich mutig, um diese Uhrzeit durch Frankfurt zu laufen. So ganz allein“, flüsterte mir
Murat ins Ohr. „Vielleicht sollten wir ihr mal eine gemeinsame Trainingsstunde geben?“ Er
verpasste Tim einen Seitenhieb und lachte arrogant.
„Die Kleine ist nicht so leicht zu knacken“, erklärte Tim grinsend.
Meine Hände wurden feucht. Langsam ließ ich sie aus meinen Taschen gleiten und ballte sie
zu Fäusten. Das Herz schlug mir fast bis zum Hals, als Murat sich weiter näherte. Ich warf
ihm einen bemüht zornigen Blick zu.
Merlin saß gut einen Meter von mir weg und beobachtete interessiert die Situation.
Tim hatte sich inzwischen hinter mich gestellt.
Murat strich sich nachdenklich über sein Kinn und behielt mich fest in den Augen. Dann
streckte er seine Hand aus und berührte meine Haare.
„Fass’...“, stieß ich aus.
„...sie lieber nicht an“, vollendete Tim meinen Satz.
Ich hatte Murats Handgelenk gepackt, spürte aber schnell, dass ich gegen seine Kraft nicht
sehr lange ankommen würde.
„Hm“, knurrte Murat. „Eine kleine Wilde. So was mag ich.“ Unsere Nasenspitzen trennten
nicht mal mehr zehn Zentimeter Abstand.
„Auf Wildkatzen wie dich steht Murat“, flüsterte mir Tim ins Ohr.
Vorsichtig sah ich mich um. Mir schien, als säße ich dieses Mal wirklich in der Klemme.
„Hört auf mit dem Scheiß“, hörte ich Markus rufen, der einige Meter entfernt stand. „Wir
gehen rein.“
„Meinst du, der Boss ist schon fertig?“ Tim trat zu meiner Erleichterung einen Schritt zurück.
„Was glaubst du?“ Murat hatte sein Handgelenk problemlos aus meinem Griff gelöst. „Wie
lange wird er wohl brauchen, um die Alte zu knacken? Wer ist denn dieses Mal?“ Er grinste
breit und sah furchtbar beschränkt dabei aus.
„Halt’s Maul! Geht doch keinen was an“, zischte Markus.
Der unsichere Blick, den Markus mir zuwarf, ließ mich meine Fassung wieder gewinnen.
„Ich dachte, das wäre ein Fitnessstudio?“, fragte ich mit gespielter Selbstsicherheit. „SingleTreff oder Puff?“, fügte ich bissig hinzu.
Murat und Tim sahen mich alarmiert an.
„Hey!“ Markus hob entschuldigend die Hände. „Du sagst doch niemandem etwas, oder?“ Er
sah mich eindringlich an. „Oder? Jo?“
Nach kurzem Zögern nickte ich ihm arrogant zu und pfiff nach Merlin.
„Jo?“, rief Markus.
Ich drehte mich langsam um. „Was ist denn noch?“, keifte ich genervt. Ich wollte nur weg
von hier. Die Situation war einige Minuten lang etwas zu brenzlig für meinen Geschmack.
„Danke!“
Wieder nickte ich nur und nahm den kürzesten Weg nach Hause.
Kapitel 8
„Berghammer“, meldete ich mich verschlafen.
„Jo!“ Die Stimme meines Lektors klang ziemlich verzweifelt. „Guten Morgen. Ich will gleich
zu Punkt kommen. Du weißt, dass wir dich hier alle sehr schätzen und mögen, aber wir
bekommen langsam ein Problem.“
Ich fasste mir an die Stirn und hätte am liebsten gleich aufgelegt. „Ich weiß“, quengelte ich in
den Hörer. In dem Chaos, das sich auf meinem Schreibtisch befand, wühlte ich nach
Zigaretten.
„Das alleine genügt aber nicht, Jo. Wir haben jede Menge Zuschriften erhalten, in denen
unsere jungen Leser nach der bereits für vor einem Monat angekündigten Fortsetzung deiner
Krimireihe gefragt haben“, erinnerte er mich ungehalten.
„Felix...“ Ich fand keine Entschuldigung und fuhr mein Laptop hoch. „Ich habe ihn schon
fertig“, erklärte ich dann wahrheitsgemäß. „Ich... ich bin gerade dabei, noch ein paar winzig
kleine Änderung vorzunehmen und wollte ihn dir heute Nachmittag gleich mailen.“ Ich
schlug mir gegen die Stirn. Shit!
Felix war vorerst beruhigt. „Ach, so. Dann hat sich das schon erledigt. Bis heute Nachmittag
dann.“
Mit einem tiefen Seufzer drückte ich das Gespräch weg. Verdammt! Schnell öffnete ich die
Datei und scrollte zu Seite neunundachtzig. Ich löschte die verräterische Textpassage und
starrte minutenlang auf den Bildschirm.
Piep-Piep! Piep-Piep! Das konnte ich nun wirklich nicht gebrauchten. Dennoch öffnete ich
die Kurzmitteilung.
Lass uns noch einmal reden. Bitte! Heute Abend. Hannes, las ich und legte das Handy schnell
beiseite.
Ich wollte nicht reden. Es gab nichts mehr zu reden. Keine meiner Verhältnisse hatte
überhaupt so lange gehalten wie die Affäre mit Hannes. Alleine das grenzte fast an ein
Wunder. Die meisten meiner Liebhaber tobten sich drei Monate bei mir aus, genossen es, von
mir benutzt zu werden und saßen danach brav mit Ehefrau und Kind am Frühstückstisch. So
und nicht anders wollte ich das auch haben. Kein Mann war je neben mir aufgewacht. Sobald
mir das Verhältnis eine Spur zu intensiv oder einer Beziehung ähnlich wurde, beendete ich es
schnell und unkonventionell. Der Typ flog raus.
Kaffee. Ich brauchte Kaffee, um mich zu sammeln. Ich schlenderte in Brinis Küche und fand
unter der Thermoskanne einen Zettel.
Bitte denke daran, heute mit Yuma Hausaufgaben zu machen. Ich habe Elternsprechtag. Hab‘
dich lieb, Brini las ich.
Ich gähnte, schnappte mir die Kanne und schlich zurück an meinen Schreibtisch. Und
plötzlich – nach der vierten Tasse Kaffee und der zwölften Zigarette flogen meine Finger
geradezu über die Tastatur.
Nach vier Stunden drückte ich erleichtert eMail senden, als mein Handy ein weiteres Mal eine
SMS ankündigte.
Jo, bitte antworte. Hannes. Ich schaltete mein Handy aus.
„Na, Prinzessin? Wie war die Schule?“
„Hm“, brummte Yuma.
„Was ist los?“ Fürsorglich legte ich meinen Arm um ihre Schultern.
„Jana, die blöde Ziege, hat mich blöd angequatscht. Sie meinte, ich würde sicher nie einen
Busen bekommen.“
„Soll ich sie verhauen?“
Yuma sah mich entsetzt an. „Jo!“, mahnte sie. „Man klärt Auseinandersetzungen doch nicht
mit körperlicher Gewalt.“
Ich legte meine Stirn in Falten. Wo sie Recht hatte, hatte sie Recht. Ganz die Mutter. „War
doch nur ein Scherz, Prinzesschen“, spielte ich meinen Fauxpas herunter. „Ehrlich!“
Yuma sah mich mit ihren großen Augen erwartungsvoll an.
„Und deinen Busen kriegst du noch. Deine Mama war auch so spät. Und schau’ dir jetzt mal
ihre Hupen an! Da kann man glatt Angst vor kriegen.“
Ich konnte ihr wenigstens ein Lächeln abgewinnen.
„Lies mal“, bat ich dann und legte mein Manuskript ab Seite neunundachtzig auf den Tisch.
Yuma las es aufmerksam und konzentriert durch, während ich meine Wäsche im Badezimmer
aufhängte.
„Mensch, Jo!,“ kreischte sie eine Stunde später. „Das ist ja eine völlig neue Geschichte?
Boah, die ist megasuperkalifragislistischexpialigorisch!“
Mein Herz machte einen kleinen Sprung. Meine kritischste Leserin war zweifelsohne
begeistert!
„Nur ein ganz neues Ende“, murmelte ich ein verlegen.
„Das ist die beste Story von allen! Ganz in Echt!“
„Wenn du das sagst, Prinzessin.“ In meiner kaum mehr zu übertreffenden guten Laune half
ich ihr bei den Hausaufgaben ein bisschen nach, sodass wir, als Brini nach Hause kam, bereits
einträchtig auf dem Sofa saßen und Yuma mich in die Kunst des Scoubidou-Bänder-Knotens
einführte.
„Hallo, ihr Süßen.“ Brini küsste sowohl Yuma als auch mich auf die Stirn. „Bei dir hat es
gerade geklingelt“, fügte sie, an mich gewandt, hinzu.
Ich biss mir fast die Zunge ab, so konzentriert war ich auf die bunten Plastikbänder, und
schlenderte noch immer knotend an die Tür.
„Guten Abend, Jo.“ Hannes hielt mir einen Strauß mit gut zwei Dutzend roter Rosen
entgegen.
„Hannes!“ Ich hatte ihn bereits völlig aus meinen Gedanken verdrängt. „Was... was tust du
hier?“
„Ich möchte mit dir reden“, erklärte er unglücklich.
„Möchtest du?“, entgegnete ich unterkühlt.
„Ja.“
„Und hattest du den Eindruck, dass ich das auch möchte?“
„Jo!“ Er legte den Blumenstrauß auf einen Stuhl und packte mich verzweifelt an den
Oberarmen.
„Hannes!“ Ich löste mich aus seinem Griff. „Man sollte wissen, wann es genug ist!“
„Und du bestimmst, wann das ist?“
„Ja, tue ich.“
Hannes schüttelte ungläubig den Kopf. „Und das ist dann gut so?“
„Genau.“ Noch immer umklammerte ich mein Scoubidou-Band.
„Für dich ist es gut so, Jo.“ In seinem Blick lag die Weisheit des Alters. „Du solltest
irgendwann einmal begreifen, dass andere Menschen Gefühle haben...“ Hannes sah mir tief in
die Augen. „...die du offenkundig nicht hast!“
„Verwschwinde!“ Ich kämpfte mit den Tränen.
Hannes gab mir einen sanften Kuss und ging.
Einmal mehr bewies sich, dass ich auf Yumas Urteilsvermögen blind vertrauen konnte. Felix
war begeistert von meinem neuen Manuskript und zog mir Dank seiner guten Kontakte einen
Vorvertrag für die Vertonung meiner Kinderkrimireihe an Land.
„Felix! Ich weiß gar nicht, wie ich dir das jemals danken kann“, kreischte ich begeistert in den
Hörer.
„Hast du schon“, säuselte er vielsagend.
Ich verstand. Felix und ich hatten vor drei Jahren eine kurze, aber heftige Affäre. Er war ein
unscheinbarer, doch äußerst charmanter Liebhaber. Mitvierziger, natürlich verheiratet und
Vater zweier Kinder. Er war gut situiert und genoss die Stunden, in denen er nicht nur
fürsorglich und stark, sondern zur Abwechslung auch einmal ein wenig devot sein durfte.
„Aber wenn du...“
„Felix“, unterbrach ich ihn schnell. Was vorbei war, war vorbei. Endgültig.
Ich hörte ein Seufzen.
„Ich maile dir den Vertrag zu. Unsere Rechtsabteilung hat ihn bereits geprüft. Im Prinzip fehlt
nur noch deine Unterschrift.“
„Danke, Felix. Du bist ein Schatz“, sagte ich und meinte es auch so.
Kapitel 9
Ehe ich mich versah, stand das Weihnachtsfest vor der Tür.
„Jo? Kommt ihr endlich?“ Brini steckte den Kopf durch die Tür und rief Merlin und mir
lautstark nach.
„Ja-haaa!“. Ich stand nun schon gut zehn Minuten vor Omi Brenners Haustür. Mindestens
hundert Mal hatte ich bereits geklingelt und hämmerte inzwischen gegen die Tür. Merlin saß
neben mir, das Geschenk in meiner Hand konzentriert im Blick, und wedelte mit dem
Schwanz.
„Wo bleibst du denn?“ Brini stand unvermittelt neben mir. „Macht sie nicht auf?“
Ich schüttelte ratlos den Kopf. „Sie ist da. Das weiß ich. Seit fünf Jahren bekommt sie jeden
Heiligabend um viertel vor sechs ihr Geschenk von mir.“ Ich sah Brini besorgt an. „Da
stimmt etwas nicht“, schlussfolgerte ich.
„Hm“, legte Brini grübelnd ihre Stirn in Falten. „Du kannst aber doch nicht die Tür
aufbrechen?“
„Das nicht!“ Ich drückte ihr das Geschenk in die Hand und lief zurück in meine Wohnung.
Von dort kletterte ich über das Balkongeländer und hangelte mich vorsichtig auf Oma
Brenners Dachterrasse.
Berunruhigt presste ich die Nase an die Terrassentür und warf einen Blick ins Wohnzimmer.
Omi Brenner saß, scheinbar friedlich schlummernd, in ihrem Lehnsessel. Sie musste beim
Abendessen eingeschlafen sein. Ich atmete lächelnd auf. Doch dann fiel mir der Käse auf
ihrem Brot auf. Dessen Rand hatte sich bereits dunkel gefärbt und nach oben gerollt. Er war
demnach bereits länger als zwei Tage an der Luft. Intuitiv wählte ich die Nummer des
Notarztes.
Es war wohl einer der traurigsten Weihnachtsabende unseres Lebens. Yuma weinte leise und
hatte jegliches Interesse an ihren Geschenken verloren.
„So hatte sie es sich immer gewünscht“, murmelte Brini. „Einfach einschlafen. Ganz friedlich
einschlafen.“ Sie wischte sich eine Träne vom Auge.
„Sie ist ihren Weg gegangen“, fügte ich flüsternd hinzu.
„Jetzt kannst du endlich die Wohnung haben.“
Brini und ich starrten Gil fassungslos an.
Gil senkte den Kopf. „Unser Leben geht doch weiter“, entschuldigte er sich.
„Natürlich“, keifte Brini. „Aber musst du ausgerechnet jetzt so unsensibel sein?“
„Sie hat es doch so gewollt?“ Gil war um Schadensbegrenzung bemüht.
„Aber doch nicht jetzt!“
„Wie lange wollt ihr denn trauern? Sie hatte ein erfülltes, langes Leben.“ Damit lag Gil nicht
einmal falsch, aber…
„Gilbert!“ Brini funkelte ihn wütend an.
Gil warf einen ebenso wütenden Blick zu. „Hör’ endlich auf, mich zu bevormunden.“
„Was heißt bevormunden? Benimm du dich nicht wie ein Kind, dann...“
„Was? Dann?“ Gil erhob sich und sah ernst auf Brini herab.
„Oh, nein“, stöhnte ich. „Nicht jetzt.“
„Soll ich meine Gefühle nach euren Terminkalendern richten?“ Ein bereits länger
schwelender Unmut brach sich in Gils Tonlage bahn.
„Yuma, komm.“ Ich nahm sie an der Hand und ging mit ihr fürs Erste ins Kinderzimmer. Sie
sollte nicht mitten im Streit sitzen. Im Zimmer drehte ich Yumas neuen CD-Player auf
höchste Lautstärke. Dennoch war die Auseinandersetzung unschwer zu überhören.
„Du behandelst mich wie ein Kind“, grollte Gil.
„Du willst es doch überhaupt nicht anders“, brüllte Brini.
„Kannst du mich nicht endlich als vollwertigen Mann akzeptieren?“
„Kann ich, sobald du endlich einer bist!“
„Was, verdammt noch mal, ist dein Problem?“
„Du! Du bist mein Problem! Du hast dir doch nur einen Mutterersatz gesucht!“
Autsch! Ich wusste, dass ich spätestens jetzt eingreifen musste, und eilte aus dem
Kinderzimmer. „Haltet beide die Klappe, Ihr Kindsköpfe“, schrie ich laut genug, um ihr
Gebrüll zu übertönen.
Brini und Gil sahen mich erschrocken an.
„Du, meine Süße“, tippte ich Brini unsanft den Zeigefinger auf das Brustbein, „du willst
bemuttern. So viel ist klar.“
„Aber...“
„Nix aber!“ Ich wandte mich an Gil und tippte ihm ebenso unsanft auf die Brust. „Und du,
liebes Bruderherz, du hast immer nach einer Frau gesucht, zu der du aufschauen kannst.“
Brini und Gil schüttelten gemeinschaftlich den Kopf und rollten die Augen.
„Also hat jeder was er will. Und jetzt hört jetzt auf mit der Scheiße!“
Ich ließ mich auf das Sofa fallen und schnappte mir die erstbeste Flasche Wein.
Brini und Gil sahen sich minutenlang in die Augen. Brinis Nase rötete sich, bis Tränen über
ihre rechte Wange rannen. Gil schlug die Augen nieder, legte sanft seine Hand auf ihre linke
Wange und küsste die Tränen weg. Dann setzten sie sich zu mir.
Drei Tage später:
Es war eine kleine, aber zutiefst ergreifende Beerdigung. Meine Gedanken kreisten um
unseren Vater, dessen Beisetzung wir nicht beiwohnen konnten. Brini hielt meine Hand,
während ich mich in Gils Arm schmiegte.
Als wir zu unserem Auto gingen, lief uns der Vermieter in die Arme.
„Herr Jungblut?“ Gil sprach ihn geistesgegenwärtig an. „Wir hätten eine Frage.“
„Herr Berghammer. Ja?“ Herr Jungblut keinen besonders ergriffenen Eindruck, hatte jedoch
genügend Anstand, wenigstens bei der Beerdigung zugegen gewesen sein.
Ich seufzte.
„Frau Brenners Wohnung“, fuhr Gil zielstrebig fort.
„Ja?“
Gil warf mir einen kurzen Blick zu. „Meine Schwester würde sie gerne übernehmen.“
„Ihre Schwester?“ Herr Jungblut zog ungläubig die Augenbrauen nach oben..
„Jos Bücher werden demnächst vertont und sie verdient inzwischen genügend Geld“, klinkte
Brini sich in das Gespräch ein. „Und ihre Miete hat sie bisher immer pünktlich gezahlt“, fügte
sie nachdrücklich hinzu.
Herr Jungblut räusperte sich verlegen. „Ja, ich weiß. Aber...“
„Schon gut, wir können einen Termin vereinbaren“, schlug ich rasch vor.
„Das... ähm... das wird nicht nötig sein.“
„Bitte?“, fragten wir synchron.
„Es tut mir leid.“ Herr Jungblut legte eine Hand auf meine Schulter.
Ich trat instinktiv einen halben Schritt zurück und schaute ihn erwartungsvoll an.
„Sie ist bereits verkauft“, rückte er endlich mit der Sprache heraus.
„Verkauft?“ Ich traute meinen Ohren nicht. „Verkauft?“
„Ja. Als Eigentumswohnung“, gestand er etwas kleinlaut.
„Aber...“ Ich war fassungslos. „Hatten Sie nicht mal den Anstand, bis nach der Beerdigung
damit zu warten?“
„Zeit ist Geld, Frau Berghammer.“ Er zuckte gleichgültig mit den Schultern.
„Arschloch“, stieß ich wütend aus.
„Jo!“ Brini hielt erschrocken die Luft an.
„Das, liebe Frau Berghammer, will ich noch mal überhört haben. Aber wenn Sie ihre
Wohnung behalten wollen...“
„Sie verdammtes...“
Gil hielt mich zurück und presste seine Hand auf meinen Mund. „Einen schönen Tag noch
und danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben, Herr Jungblut“, nickte er unserem
Vermieter zu und schob mich schnell in sein Auto.
Heulend kramte ich in meiner Tasche nach den Zigaretten. „Das kann doch nicht wahr sein“,
schniefte ich. „Das war meine Wohnung! Und er hat nicht einmal gewartet, bis Omi Brenner
unter der Erde war. So ein elender Mistkerl!“
Brini seufzte. „Es tut mir Leid, Süße. Es tut mir wirklich so unendlich leid.“
„Diesem Arsch wird es noch leid tun“, knurrte ich drohend.
„Rede keinen Mist, Jo“, fuhr Gil mich an. „Sei froh, dass du noch deine Bude hast! Der
Jungblut macht kurzen Prozess. Den kannst du nicht um den Finger wickeln.“
Ich sah Gil mit hochgezogener Augenbraue an. „Den meine ich nicht.“
„Was?“
„Ich meine den Arsch, der mir meine Traumwohnung vor der Nase weggeschnappt hat.“
„Was kann der denn jetzt dafür?“ Brini verzog verständnislos das Gesicht.
„Der muss doch nur drauf gewartet haben, dass sie stirbt. Oder woher weiß er denn sonst so
schnell von der freien Wohnung? Omi Brenners Todesanzeige stand schließlich erst heute in
der Zeitung.“
Brini dachte angestrengt nach. „Vielleicht ein Kumpel oder so.“
„Auch noch krumme Geschäfte, pah!“ Jetzt war ich noch wütender auf den neuen Besitzer.
Kapitel 10
„Oh, mein Gott“, stöhnte ich heiser. Zwei Tage lang hatte ich keine Zigarette mehr angerührt
und diese hier brachte meine Lunge fast zum Bersten. Ich hustete mir sprichwörtlich die Seele
aus dem Leib.
„Mensch, Süße! Hast du dein Antibiotika endlich genommen?“ Brini legte mir mütterlich ihre
Hand auf die Stirn. „Du bist ganz heiß.“
„Schon lange nicht mehr“, versuchte ich zu scherzen, obwohl mir momentan gar nicht danach
zumute war. „Und ja, ich habe das Zeug geschluckt.“
„Jetzt schalte die verdammte Kiste aus und lege dich ins Bett“, kam es im Befehlston, bevor
sie mich vom Laptop weg zerrte.
An konzentriertes Arbeiten war bereits seit über drei Wochen nicht mehr zu denken. Die
Renovierungen in der Nachbarwohnung liefen auf Hochtouren und der Lärm ließ mich keinen
klaren Gedanken fassen. Dabei sprudelte ich geradezu vor Ideen für meinen nächsten Krimi.
„Ich drehe mit Merlin eine Runde im Park und du bleibst gefälligst liegen.“
Ich widersprach Brini nicht und wenige Minuten später fiel ich in einen traumlosen Schlaf.
Quieke! Quieke! Quieke! Ich wurde recht unsanft aus dem Schlaf gerissen. Was war das, zum
Teufel? Ich blinzelte zur Uhr. Kurz nach Mitternacht.
Quieke! Quieke! Quieke! Schlaftrunken torkelte ich aus meinem Bett, um der Sache auf den
Grund zu gehen. Das Geräusch war ganz nah. Ich verharrte einige Sekunden und vernahm es
erneut. Ich kletterte zurück auf mein Bett und presste das Ohr an die Wand.
Quieke! Quieke! Quieke! Dazu beständiges Stöhnen. Oh, nein! Schlagartig war mir klar, dass
es sich hier weder um etwas Mysteriöses noch um ein Verbrechen, sondern vielmehr um
einvernehmlichen Sex handelt. Na, toll!
Ich war weitere fünf Tage lahmgelegt und lauschte allabendlich dem Gequieke. Aufmerksame
Kriminalromanautorin, die ich nun mal war, erkannte ich die immer gleiche Männer-, jedoch
stetig wechselnde Frauenstimmen.
„Na, super“, murmelte ich vor mich hin, als sich die Verbindungstür zu Brinis Wohnung
öffnete. „Don Juan hat sich bei Omi Brenner eingenistet.“
„Wo ist denn die Patientin?“
„Quatsche keine Opern und komm’ endlich rein, damit ich dich anstecken kann“, rief ich
Siggi freudig überrascht zu.
Siggi war ein Bild von einem Mann. Knackige fünfundvierzig, knapp zwei Meter und durch
harte, körperliche Arbeit muskulös. Also der beste Beweis, wie unnütz Fitnessstudios waren.
Den vorzeitigen Haarausfall versteckte er geschickt unter bunten Piratentüchern. Die
markante, tiefe Stimme, seine eisgrauen Augen und die zahlreichen Tattoos verpassten ihm
das Image eines Rockers. Siggi war neben Horst der dritte Teilhaber von Gils Motorrad-Shop.
Dort übernahm er überwiegend die Reparaturarbeiten und gab den Sunnyboy. Als
eingefleischter Single zahlte er lieber für seine drei unehelichen Kinder Alimente als auch nur
mit einer der drei Mütter eine dauerhafte Beziehung einzugehen. Aber war er eine Seele von
Mensch.
„Würdest du mich denn in dein Bett lassen, wenn ich verheiratet wäre?“, frotzelte er und ließ
sich auf die Bettkante fallen.
Ich küsste ihn zärtlich und lange. „Jederzeit“, näselte ich.
Siggi zog seine Schuhe aus und schlüpfte unter meine Bettdecke. Er nahm mein Gesicht in
seine großen Hände und sah mich lange an. Seine Nasenspitze berührte meine, Sekunden
später suchte seine Zunge ihren Weg in meinen Mund und wir gaben uns dem innigen Kuss
hin. Anschließend legte ich meinen Kopf auf seine Brust und schlief ein.
Siggi und ich kannten uns bereits eine halbe Ewigkeit. Als ich mit Gil von zu Hause
ausgerissen war, konnte ich immer auf ihn zählen. Ich liebte ihn wie einen Bruder. Mehr
nicht. Nie, auch nicht ein einziges Mal, hatte Siggi versucht, einen Schritt weiter zu gehen. Er
war ein so hervorragender Küsser, dass mir unser Geknutsche genügend Befriedigung
schenkte. Keiner von uns beiden dachte sich etwas dabei.
Quieke! Quieke! Quieke!
„Was zum Teufel ist das?“ Siggi sah sich suchend in der Wohnung um.
„Das ist mein Nachbar“, murmelte ich müde und warf einen Blick auf die Uhr. „Heute ist er
früh“, stellte ich erstaunt fest.
Er presste sein Ohr an die Wand. „Sein Bett steht direkt nebenan.“
„Ich weiß.“
Siggi lauschte gespannt. „Respekt! Da geht’s ab“, raunte er anerkennend.
Ich schlug ihm gegen den Oberarm. „Das ist ein Arschloch! Er hat mir meine Wohnung
geklaut.“
Siggi ließ sich nicht beirren. „Und eindeutig hat er wesentlich mehr Sex als du.“
„Ist mir auch nicht entgangen“, knurrte ich, stand auf und zündete mir eine Zigarette an. Nach
dem ersten Hustenanfall rauchte es sich dann gleich viel leichter.
Siggi lag auf meinem Bett und durchdrang mich mit Blicken.
„Was?“
Ein Grinsen zog sich über sein Gesicht.
„Was?“, wiederholte ich.
„Wollen wir beide nicht auch mal?“
„Was?“ Ich bemerkte, wie beschränkt mein Wortschatz inzwischen war.
Siggi lächelte. Geduldig wartete er, bis ich meine Zigarette ausdrückte und vor das Bett trat.
Er fasste meine Hand und zog mich zu sich hinab. Mir war von der Kippe noch ganz
schwindelig und ich rollte auf die Seite.
Siggis Hand fuhr unter mein T-Shirt. Ich öffnete den Reißverschluss seiner Hose und ließ
meine Finger von seinem Bauch über die Gürtellinie wandern. „Wow“, kommentierte ich
meine Entdeckung, packte ihn an der Hüfte und setzte mich auf seinen Schoß.
„Scheiße! Auch das noch.“ Horst stand in der Verbindungstür und starrte uns erschrocken an.
Seinen Worten folgte lautes Gepolter und Sekunden später trat Diana in den Raum. Sie stieß
Horst unsanft zur Seite und sah mich mit hasserfülltem Blick an.
„Du bist eine elende Schlampe! Jawohl! Eine Schlampe bist du! Miststück“, spuckte sie mir
hysterisch entgegen.
Diana war drei Jahre älter als Gil und gehörte seit etwa fünf Jahren zu unserer Clique. In
unser Gesamtbild passte sie überhaupt nicht. Als Verkäuferin in einer Modeboutique war sie
kleidungstechnisch immer up to date. Ihre langen, blonden Haare ließ sie sich wöchentlich im
Salon frisieren und mit den großen, blauen Kulleraugen wickelte sie fast jeden um den
kleinen Finger. Sie war von Haus aus eine verwöhnte Göre.
„Seht euch das an!“
Ich war aufgestanden und sah sie – völlig überrumpelt von ihrem Auftritt – an. Siggi schloss,
ebenso verwirrt, seine Hose.
Noch immer verharrte Horst sprachlos an Ort und Stelle, während Brini, Gil und Yuma
herbeigeeilt kamen. Brini stand die pure Verzweiflung im Gesicht. Gil warf Siggi einen
vorwurfsvollen Blick zu.
„Du bist eine miese Schlampe“, schrie Diana noch immer wie von Sinnen.
„Jetzt mach’ mal halblang“, mühte Gil sich, sie zu beruhigen.
„Lass mich! Dieses Miststück geht sogar mit ihrem besten Freund im Bett!“
„Ja, und? Passiert schon mal...“ murmelte mein Bruder.
„Passiert schon mal? Passiert schon mal?“ Diana stand kurz davor, ihre Stimme komplett zu
verlieren. Sie warf Gil einen wütenden Blick zu. „Deine Schwester“, krächzte sie und deutete
mit dem Finger auf mich, „deine Schwester hat meinen Vater gevögelt. Und das über
Monate.“
Ich hatte das Gefühl, mir würden alsbald Dianas Stimmbänder um die Ohren fliegen.
Gil, Brini, Horst, Siggi und sogar Yuma sahen sich betroffen an. Sie alle wussten von meiner
Affäre mit Hannes. Und sie alle hatten geschwiegen. Hatten sie doch, oder?
„Dazu gehören immer zwei, Diana“, warf Siggi sich für mich in die Bresche.
Mir war das unangenehm. Nicht, dass ich mit Dianas Vater geschlafen hatte, nein! Mir war es
unangenehm, dass Siggi mich in Schutz nahm. Ich war schon alleine groß und konnte sehr gut
für mich selbst sprechen.
„Krieg’ dich wieder ein“, maulte ich Diana an.
„Du besitzt auch noch die Frechheit, mir in die Augen zu schauen?“ Diana versuchte sich vor
mir aufzubauen, was sie schnell wieder aufgab, da ich mehr als einen ganzen Kopf größer war
als sie.
„Dein Vater ist alt genug, um zu wissen, was er tut, oder?“
Ich verzweifelte beinahe an der Frage, wer uns verraten hatte.
Diana holte tief Luft. „Er war betrunken genug, es meiner Mutter an den Kopf zu werfen!“
Okay, Frage hatte sich erübrigt.
„Schamgefühl hast du scheinbar keines“, knurrte sie und sah Siggi wütend an. „Aber wie
kannst du mir und vor allem meiner Mutter noch in die Augen schauen?“ Sie wütete weiter
ohne Unterbrechung. „Hast du denn kein Gewissen? Du Schlampe, du...“ Diana stampfte fest
mit den Füßen auf als ihr die Superlative auszugehen schienen.
„Jetzt hör’ endlich auf, hier rumzuschreien! Sonst...“, warnte ich sie.
„Was sonst? Du kleine Hure?“
Die Antwort kam prompt. Ich hatte Diana so schnell eine geklebt, dass weder sie noch ich es
hätten verhindern können. Ihre Wange färbte sich dunkelrot. Im selben Moment tat es mir
leid. Doch das würde ich ihr nicht sagen.
Zu allem Überfluss begann lautes Hämmern an der Wand, vor dem mein Bett stand.
„Hey“, hörte ich dumpf eine dunkle Männerstimme.
„Verdammt“, fluchte ich und war in nullkommazwei Sekunden Hundertachtzig. Ich lief zur
Wand und brüllte: „Sei du leiser beim Vögeln, dann bin ich es auch beim Schreien!“
Diana hielt sich die linke Wange und rannte mit den Worten: „Ich kann euch alle nicht mehr
ertragen“ aus meiner Wohnung.
Wir blickten ihr schuldbewusst nach.
Kurz darauf trafen Siggi und mich vorwurfsvolle Blicke.
„Hat das denn jetzt sein müssen?“ Gil klopfte Siggi mit dem Handrücken auf die Brust.
„Was willst du“, antwortete dieser schulterzuckend. „Ist doch überhaupt nichts passiert.“
Ich nickte zustimmend.
„Ja, weil Horst vorher reingestürmt ist“, erklärte Siggi.
Horst stand noch immer unbeteiligt in der Ecke.
Betretene Stille trat ein.
„Du hättest Diana nicht schlagen dürfen“, murmelte Yuma.
Es traf mich wie ein Schlag mitten ins Herz. Yuma! Ich nahm ihre Hände und kniete vor ihr
nieder. „Du hast recht, Prinzessin. Das war nicht richtig. Das war wirklich nicht richtig. Und
es tut mir leid!“
„Dann sag’ es auch Diana“, forderte mich Yuma auf.
Ich schluckte. Nein! Das brachte ich nun wirklich nicht über mich. „Ich mache uns einen
Wein auf“, erklärte ich deshalb bestimmt. Selbstverständlich nicht für Yuma.
„Bist du verrückt? Du bist krank und außerdem hast du Antibiotika eingenommen“, erinnerte
mich Brini.
„Wein ist unter den Getränken das nützlichste und unter den Arzneien die angenehmste“,
klugscheißerte ich dagegen. „Das hat schon Plutarch gesagt.“
Brini rollte die Augen und holte widerwillig fünf Weingläser.
„Außerdem muss ich heute sicher noch die halbe Nacht das Gequietsche von meinem blöden
Nachbarn ertragen.“
„Wer ist das eigentlich?“, fragte Horst. „Hast du ihn schon kennengelernt?“
„Wenn sie das hätte, würde es sicher schon nicht mehr quietschen“, lachte Siggi. „Ich schätze,
Jo wäre ihm schon an die Gurgel gegangen.“
Ich nickte und lachte ebenfalls.
Gil sah mich an. „Wann? Wann, Jo?“
„Was wann, mein Schatz?“, fragte ich noch immer lachend.
„Wann bist du so geworden?“ Eine Spur Traurigkeit lag in seiner Stimme.
„Wie?“
„So. Genau so wie du jetzt bist.“
„Gil?“ Ich verstand seine Frage nicht.
Brini hatte schenkte Wein ein und reichte die Gläser in die Runde. Auch sie schaute ernst
drein.
Gil trank sein Glas in einem Zug aus. Dann begann er leise: „Du hast dich schon immer einen
Dreck um die Gefühle anderer – Anwesende ausgeschlossen! – geschert. Du hattest schon
immer deinen eigenen Kopf. Dein Wort ist Gesetz. Und läuft es nicht nach deiner Nase,
schlägst du mit Worten zu.“
Ich lauschte stumm.
„Aber in der letzten Zeit bist du richtig skrupellos geworden. Dir scheint alles egal zu sein.
Wie eine Dampfwalze preschst du durchs Leben. Du bist bewusst verletzend und richtig
gefühlskalt geworden“, beendete Brini Gils Ausführungen.
„Wir verstehen alle, dass du in einer Kurzschlussreaktion Diana eine geklebt hast“, mischte
sich Horst vorsichtig ein. „Aber hast du dir mal Gedanken darüber gemacht?“
„Sie hat sie Hure genannt“, verteidigte mich Siggi einmal mehr.
„Na und? Du bist doch selbst eine. Eine männliche eben“, murmelte Horst und rückte ein
Stück weg von Siggi.
„Soll das heißen, ihr haltet mich auch für eine Hure?“, ereiferte ich mich wütend und sah in
die Runde. Die Antwort dauerte mir eindeutig zu lange. „Habt ihr euch jetzt gegen mich
verschworen oder was?“ Ich presste mein Hand auf die Stirn. „Ich glaube es ja nicht.“
„Jetzt rege dich doch nicht gleich wieder so auf“, bemühte sich Gil, mich zu beruhigen. „Das
haben wir überhaupt nicht gesagt.“
„Zia, mein Schatz…“ Siggi nahm mich in den Arm. „Du vögelst nur mit verheirateten
Männern, um nicht Gefahr zu laufen, eine Beziehung eingehen zu müssen. Ist doch schon
ungewöhnlich, oder?“
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