Geld und Schuld - eine ökonomische Theorie der Gesellschaft

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Raimund Dietz
Beitrag zum OCG-Seminar
29.3.2012
L EHRE
W IRTSCHAFTSTHEORIE ALS
D ER „S PRACHE DER W IRTSCHAFT “
Die herrschende Ökonomik versteht sich als Theorie der (optimalen) Allokation der
Ressourcen. Raimund Dietz stellt eine Theoriestruktur vor, die Ökonomik als Sprache über
die Allokation der Ressourcen begreift. Der Ort der Entstehung der Sprache ist der Tausch.
Das Hauptmedium der Ökonomik Geld. Bezeichnenderweise weicht die Ökonomik dem
Tausch aus und erklärt Geld für neutral.
Herbert Georg Mead hat überzeugend gezeigt, dass Handeln die Voraussetzung für
Erkennen ist, genauer gesagt: Handeln ist Voraussetzung a) für die Entstehung von
Wissen über Objekte und b) für die Bedeutung, die Menschen Objekten zuordnen.
Ohne dass wir handeln, machen wir keine Erfahrung. Wir greifen die Tischplatte an
und begreifen, dass sie hart ist. Wir benutzen den Tisch und verstehen, wozu er zu
gebrauchen ist - als Ablage, als sichere Fläche in einer gewissen Höhe, die uns bei
bestimmten Tätigkeiten (Essen, Schreiben, …) angenehm ist, oder in
Ausnahmefällen als Barrikade.
Auch in Bezug auf Wirtschaft (als Subsystem der Gesellschaft) gilt dieser Satz.
Aber er ist zu erweitern und man muss ihn in einem ganz anderen Sinn interpretieren.
Eine Steigerung der handlungstheoretischen Fundierung ergibt sich daraus, dass
Wirtschaft als „Objekt“ (der Erkenntnis) nicht wie physikalische Objekte von Natur
vorhanden ist, sondern sich aus menschlichen Handeln und zwar aus
kommunikativem Handeln entsteht. Ohne dieses Handeln gibt es das Objekt
Wirtschaft nicht. In der natürlichen Welt gibt es immerhin diese Objekte. Wir
erkennen sie, indem wir sie sinnlich oder durch verlängerte Sinnesapparate erfahren.
Die Welt der Wirtschaft gibt es aber ohne Handeln gar nicht. Das gilt auch für alle
Sozialwissenschaften. Ihr Erkenntnisobjekt sind oder sollten sein



Motive und Wirkungen der Handlungen der Menschen und – da
Handlungen kontingent sind – auch die Möglichkeiten von Handlungen,
die Eigenschaften dieser Systeme bzw. Ordnungen. die Ordnungen oder
Systeme, die aus diesen Handlungen emergieren
sowie die Wirkungen dieser Ordnungen bzw. Systeme auf die Motive, die
Handlungen und die Handlungsmöglichkeiten.
In diesem Zusammenhang stellen sich mehrere Fragen:
1. Durch welchen Typus des Handelns kommt Wirtschaft in die Wirklichkeit?
2. Was folgt daraus für die Theoriebildung? (Wir können z.B. nicht am
Handlungstypus, der die Wirtschaft konstituiert, vorbeigehen.)
3. Was ist die Theoriearchitektur des Mainstream?
4. Worin unterscheidet sich die vorgeschlagene Theoriearchitektur von der des
Mainstream?
5. Welche politischen oder andere Folgen hat die neue Theoriearchitektur?
Die „Antworten“ in Thesenform:
ad 1. Tauschhandeln ist Voraussetzung dafür, dass Wirtschaft als Gegenstand in die
Existenz kommt/sich als Gegenstand konstituiert.
ad 2. Wirtschaftstheorie muss daher am Tausch ansetzen, d.h. an Prozessen des
Gebens, Nehmens und Ausgleichens, sowie dem Medium Geld, das aus diesen
Handlungen emergiert bzw. diese ermöglicht.
ad 3. Der Mainstream ignoriert nicht nur die Bedeutung des Tausches, sondern
bestreitet seine Wirksamkeit (Auswirkungen auf die ökonomischen Gesetze und
Ordnungen). Daher weicht er der zentralen ökonomischen Kategorie Geld
systematisch aus.
ad 4. Der Mainstream geht von behaupteten objektiven Beziehungen zwischen
Subjekten und Objekten aus (dyadische Struktur) und konstruiert aus diesen
Bauelementen seine Modelle. Die „neue“ Ökonomik rekonstruiert Wirtschaft als
Prozess der Objektivierung vor allem durch Tauschhandlungen (triadische Struktur).
ad 5. Die Folgen für das Wahrnehmen von Wirtschaft (Wirtschaftstheorie) und für
politisches Handeln (Wirtschafts- und Ordnungspolitik) sind weitreichend. Die
triadische Denkstruktur führt zur Einsicht,
o dass Zivilisation auf Geldwirtschaft beruht;
o dass es keine (zivilisierte) Alternative zur Geldwirtschaft gibt;
o dass Geldwirtschaft Gestalt hat und man sie gestalten muss. (Innerhalb der
Geldwirtschaft gibt es große individuelle und kollektive Gestaltungsräume);
o dass es Gleichgewichtsprozesse gibt, aber keine
Gleichgewichts oder einer Vollbeschäftigung usw.
Garantie
eines
Die grundlegenden Einsichten in die Bedeutung des Tausches und des Geldes für die
menschliche Zivilisation verdanke ich Georg Simmels „Philosophie des Geldes“
(1900). Ich habe in meinem Buch „Geld und Schuld – eine ökonomische Theorie der
Gesellschaft (Metropolis 2012, 2., überarbeitete Auflage) die Grundgedanken
Simmels aufgegriffen und sie für eine ökonomische Theorie der Gesellschaft nutzbar
gemacht. Der Mainstream abstrahiert von Gesellschaft – die Lösung kann nur darin
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bestehen, sie wieder einzuführen! Das geht nur über eine Theorie des Tausches
(Operation) und Geldes (Medium).
Für Details siehe
Metropolis-Verlag
Marburg 2011
450 Seiten
2., überarbeitete Auflage
DE € 29,80
A € 30,60
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Inhaltsverzeichnis
1.
Einführung
2.
Der Tausch und das Geld
2.1
Grundlagen
2.2
Geschichte: Evolution und Schöpfung
2.3
Funktionen
2.4
Individuum, Gesellschaft, Geld
2.5
Geld und Unternehmen
2.6
Wachstum
2.7
Gestalt und Gestell
2.8
Schuld und Vermögen
2.9
Die Finanzkrise
3.
Theoriekritik
3.1
Die (Neo-)Klassik
3.2
Systemtheorie
4.
Tausch: wo bist du verblieben?
4.1
Marx: Wertform als Zerrbild der Vernunft
4.2
Simmel: Wertform – Quelle der Rationalität
4.3
Ökonomik: der verleugnete Tausch
5.
Gegenüberstellung - Paradigmenvergleich
6.
Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Gliederung (ausführlich)
Personenverzeichnis
Sachregister
4
Überblick über den Inhalt
Zusammenfassung: Geld ist und bleibt eine Herausforderung für die
Wirtschaftswissenschaften. Anstatt dessen vitale Bedeutung für unsere
Gesellschaft aufzuzeigen, wird Geld als Neutrum behandelt. Nicht Geld ist ein
Desaster, sondern die Anschauungen darüber. Ich spanne in meinem Buch den
Bogen von einfachen Grundvorgängen des Gebens und Nehmens, Ausgleichens
und Nichtausgleichens (Schuldenmachen) bis zur heutigen Finanzkrise (als
Überschuldungskrise). Ich schlage eine neue Theoriearchitektur vor.
Kernelemente sind der Tausch als kommunikativer Akt und Geld als dessen
Verkörperung. Sie ermöglicht die Entwicklung einer Theorie von einer
Bürgerordnung als Geldwirtschaft und kann der Bürgergesellschaft einen
Ausweg aus der Krise weisen. Es geht um das Erreichen eines höheres
Strukturniveaus in der Geldgesellschaft. Die Beschäftigung mit dem Geldbegriff
(nicht unbedingt mit dem Geld selbst) wird so zum Schlüssel für eine neue
Haltung, für ein neues Denken und für ein neues Handeln.
Geld ist, nach Sprache, das evolutionäre Medium der Menschheit. Es
ermöglicht den Menschen, sich arbeitsteilig zu organisieren, individuelle
Potentiale zu entfalten und sie als Dienst für andere einzubringen. Geld ist
das Medium, durch welches Gesellschaft zu einer Art globalem Superorganismus zusammenwächst oder zusammenwachsen könnte. Kein
anderes Medium kann Geld dabei ersetzen.
Trotz der großen Möglichkeiten, die im Geld enthalten sind, sind diese
weder ins allgemeine noch in das wissenschaftliche Bewusstsein getreten.
Die Wirtschaftswissenschaften erklären Geld für neutral; Philosophie,
Soziologie und Psychologie weichen dem Thema Geld beinahe systematisch
aus. Obwohl unser aller „Lebensmittel“ machen viele Geld zum
Sündenbock für Fehlentwicklungen. Man hasst es und ist zugleich gierig
nach Geld. Die Verdrängung und Abspaltung des Geldes ist der Nährboden
für ein nicht zu verantwortendes Eigenleben des Geldwesens. Die jetzige
Krise der Finanzmärkte ist dafür ein überzeugendes Beispiel.
Geld ist Energie. Geld ist geprägte Freiheit (Dostojewski). Um mit ihm
gut umzugehen, brauchen wir einen neuen Denkansatz und eine neue
Haltung. Aber es geht auch um ein respektvolles Miteinander und um den
achtsamen Umgang mit der Natur.
Bei meinen Überlegungen gehe ich von den Grundformen menschlichen
Zusammenlebens - dem Geben, Nehmen, Ausgleichen, Nichtausgleichen,
der Schuld, kurz: dem Tausch aus. Der Mensch will geben, um
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dazuzugehören. Er muss nehmen, um zu überleben. Und es ist gut, wenn
ausgeglichen werden kann. Geben, Nehmen und Ausgleichen (Tauschen)
sind die basalen Operationen alles Ökonomischen, Sozialen und z.T. auch
Psychischen.
Nicht immer kann aber ausgeglichen werden oder wird ausgeglichen.
Dann entstehen Schulden. Heute besteht der Besitzstand hauptsächlich aus
Forderungen der einen an die anderen, denen Schulden in gleicher Höhe
entgegenstehen. Forderungen/Schulden kumulieren über die Zeit und
können zu Größenordnungen auswachsen, welche die Leistungskanäle
„verstopfen“.
Aus den Operationen des Gebens und Nehmens gehen Geld und auch
andere Formen und Institutionen der Wirtschaft hervor. Geld trägt diesen
Prozeß und ist die Basis der (zivilen) Gesellschaft als „Ordnung“. In dieser
Ordnung, in der oder aus der der reflektierte Bürgergeist und das moderne
Unternehmertum entsteht, liegt die eigentliche Produktivkraft der Menschheit begründet. Gesellschaften, die bloß reich an Ressourcen sind, sind
arm!
Geld spielt aber auch im Leben jedes Einzelnen eine große Bedeutung.
Und zwar nicht nur materiell, sondern auch spirituell. An Geld kommt
keiner vorbei. Geld ist unser Spiegel, auch unser Zerrspiegel. Es bindet
vieles zusammen. Wer Geld hat, ist mächtig. Wer Geld versteht, versteht
vieles. Wer mit Geld gut umgehen kann, ist weise. Wer keines hat, ist
freilich von Vielem ausgeschlossen.
Geld ist aber nicht nur von großer Relevanz für die Konstitution von
Gesellschaften und für den Lebensalltag der Menschen, sondern eine
Herausforderung für die Sozialwissenschaften, vor allem für die Ökonomik.
Am Geld zeigt sich ihr größtes Desaster. Aus diesem sucht diese Arbeit
einen Ausweg, indem sie darauf zielt, der Ökonomik ein
systemtheoretisches Stockwerk unterzubauen.
Die Neoklassik in ihrem Kern ist eine Entscheidungstheorie. Sie arbeitet
gerne mit Prämissen, die dazu dienen, aus Daten Ergebnisse abzuleiten,
und entspricht damit einem veralteten Wissenschaftsideal. Sie geht von
monadischen Individuen aus, die sie mit fertigen Präferenzen ausstattet.
Diese stehen einer fertigen Umwelt gegenüber. Der "Markt" ist der
hypothetische Ort, der für den Ausgleich von Präferenzen und
Produktionsmöglichkeiten sorgen soll. Das aber ist keine Theorie des
Marktes, sondern eine Theorie der Nutzenmaximierung.
Das Subjekt-Objekt-Schema der Neoklassik greift aber entschieden zu
kurz. Man darf nicht von fertigen Präferenzen und fertigen Produktions6
funktionen ausgehen und für deren ideales Passen einfach den Begriff
Markt einsetzen. Erst die Relationen der Individuen untereinander, das
heißt deren Kommunikationen und die aus diesen Kommunikationen
erwachsenen Medien (z.B. Geld) "machen" die Wirtschaft oder
Wirtschaftsgesellschaft. Deshalb gehe ich vom Tausch aus. Der Tausch ist
ein Akt der Kommunikation, aus dem das Medium Geld emaniert, das aber,
um sich fest in der Gesellschaft zu etablieren, auch der ordnenden Hand
des Staates bedarf.
Damit ersetze ich die dyadische Grundstruktur des Denkens durch eine
triadische. Geld ist die Verkörperung einer Relation, sagt der große
Geldphilosoph Georg Simmel (1900). Ohne Geldkörper gibt es keine
Gesellschaft. Bedürfnisse und Produktionsfunktionen treten ja nicht nackt
in die Arena des Marktes, sondern bedürfen der Formensprache der
Wirtschaft, die aus den Tauschkommunikationen emergieren und diese
praktisch möglich machen. Erst dadurch werden Dinge zu Gütern bzw. zu
Waren.
Ich widerspreche der Behauptung der Neoklassik (und ihrer
keynesianischen Kritiker), die Neoklassik sei eine Theorie des Tausches.
Auf der Basis einer (nichtneoklassischen, prozessorientierten) Theorie
des Tausches lässt sich die Ökonomik wieder in die Sozial- und
Humanwissenschaften integrieren. Denn die Menschen kommunizieren
und bilden dabei Gesellschaft (Soziologie), versorgen einander im Prozess
des Gebens und Nehmens (Ökonomik), und verwirklichen sich selbst durch
ihr Dienen aus ihren Potentialen heraus und indem sie damit eine
Anerkennung erhalten (Psychologie). Auf diese Weise erhalten wir eine
Vorstellung von der „Gestalt“ der Geldwirtschaft.
Der gestalttheoretische Ansatz führt zu einer Reihe sehr praktischer und
politisch relevanter Einsichten. Unter anderem:
 Es gibt keine Alternative zur Geldwirtschaft (und damit auch zum
Kapitalismus). Denn es gibt für Geld kein allgemeines funktionales
Äquivalent. Marktwirtschaft ist Geldwirtschaft ist kapitalistische Wirtschaft.
Aber es gibt eine primitive und eine ökologisch und sozial verantwortbare
Marktwirtschaft. Um zu überleben, muss sich die Menschheit eine neue
Qualität erarbeiten und sie einüben. Dazu bedarf es tiefgreifender
Reformen gerade auch im Geld- und Finanzsystem.
 Geldwirtschaft ist einem strukturellen Wachstumszwang ausgesetzt. Dieser
ergibt sich aus ihrer Gestalt (morphologischen Struktur). Der Prometheus
ist durch den hohen Individualismus und Flexibilität freigesetzt.
 Geldwirtschaft hat zwei grundsätzliche Probleme: die Verteilungs- und die
ökologische Problematik. Die zunehmende Ungleichheit führt zu sozialen
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Spannungen und zur Verweigerung weiter Kreise der Bevölkerung, am
demokratischen Prozessen teilzunehmen und an diesen aktiv mitzuwirken.
Ungezügeltes Wirtschaftswachstum, besonders auch in den neuen
Industrieländern, führt ins ökologische Chaos und provoziert kriegerische
Auseinandersetzung um Ressourcen.
Die Verteilungsproblematik ist mit der Überschuldungsproblematik
verknüpft.
Die gegenwärtige Finanzkrise ist eine Überschuldungskrise und kann nur
durch teilweise Vernichtung von Vermögenswerten behoben werden.
Wahrscheinlich steht uns eine schmerzhafte und sehr riskante Phase hoher
Inflation ins Haus, durch welche die bestehenden Bestände abgewertet
würden.
 Das Steuersystem ist radikal umzubauen: weg von Steuern auf Arbeit, in
Richtung auf Steuern auf Verbrauch von Ressourcen. Auch die Mehrwertsteuer auf Industrie- und besonders Luxusartikel könnte wesentlich erhöht
werden. Vermögenssteuern wären ein Mittel, hohe Finanzvermögen
(=Forderungen an andere) zu konfiszieren und sie in effektive Nachfrage
umzusetzen. Transaktionssteuern können ungesunden Globalisierungstendenzen entgegenwirken.
 Mit der teilweisen Vernichtung von Vermögenswerten (Forderungsüberschüssen) muss auch die Finanzindustrie auf ein vernünftiges Maß
zurückgeführt
und
die
Finanzarchitektur
umgestellt
werden
(Vollgeldsystem, Trennung von Geschäftsbanken und Investmentbanking,
Zerschlagung von Großbanken, etc).
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