Die Bereitschaft zum Krieg liegt im Gehorsam Eugen Drewermann stellt das herkömmliche Verständnis für die Zehn Gebote gehörig auf den Kopf Von Dietmar Jochum „Du sollst nicht töten“, heißt es im 5. Gebot des Alten Testaments. Für Eugen Drewermann, der sich in seinem neuen Buch „Die Zehn Gebote. Zwischen Weisung und Weisheit“ der Deutung dieser Gebote vor dem Hintergrund des Liebesgebotes des Jesus von Nazareth annimmt, ist das jedoch keine korrekte Übersetzung. Genau übersetzt müsste es heißen – so der nach Entzug seiner Lehrerlaubnis und Suspension vom Priesteramt als Therapeut und Schriftsteller arbeitende Theologe: Du sollst nicht morden; denn die Bibel habe, wie Drewermann – „ein bisschen zynisch“ – meint, „gegen das Töten nicht viel einzuwenden“. Sie möchte lediglich, dass es nicht in Willkür oder Selbstjustiz ausartet, denn Anweisungen zum Töten fänden sich in unglaublicher Fülle im mosaischen Gesetz. So werde etwa im Buch Exodus die Blutrache „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ statuiert, und das seien Formulierungen, die sich schon im Gesetz des altbabylonischen Königs Hammurabi finden und den Zweck gehabt hätten, die Blutrache staatlich einzubinden und dadurch in den Exzessen zu mäßigen. Es sei also eine Maxime zur Begrenzung der Gewalt. Wenn das 5. Gebot aber einen Sinn machen würde, dann müsste es, so Drewermann, lauten: „Du sollst absolut, unter keinem Umstand, töten, weil jedes Leben heilig ist“. Im Gespräch mit dem Journalisten Richard Schneider zeigt Drewermann am Beispiel von Kain und Abel, dass „Gott (nicht) will, dass das Töten und Morden immer so weitergeht“. So schuf Gott ein Schutzzeichen für Kain, das so genannte Kainsmal, „damit ihn unerschlagen lässt jeder, der ihn findet“. Im Hinblick auf die Problematik der Abtreibung stellt Drewermann andererseits aber die Frage: „Muss jedes Leben, das zur Welt kommen könnte, von Anfang an unter den vollen Rechtsschutz der menschlichen Person gestellt werden? Ist jede befruchtete Eizelle in diesem Sinne schon durch das 5. Gebot geschützt: ‚Du sollst nicht töten’“!? Drewermann plädiert für ein Leben, das Bedingungen braucht, die Leben möglich machen. Das sei zunächst rein biologisch durch den Organismus der Mutter gewährleistet. Da aber eine Frau nicht nur ihr biologischer Organismus sei, sondern auch eine Psyche habe, die bereit sein müsse, ein Kind anzunehmen, müsse es ein zeitlich begrenztes Recht zur Entscheidung (auf Abtreibung) geben, wenn sie das nicht könne. Drewermann macht deutlich, wie absurd Gebote in bestimmten Situationen sein können. So fragt er etwa, welch eine Art von Wahrheit wir anderen zumuten können. Hätte jemand einem Gestapo-Beamten die Wahrheit sagen dürfen, der einen Juden oder einen den Wehrdienst verweigernden Zeugen Jehovas bei sich versteckt hielt? Wie soll sich ein Arzt verhalten, der einem krebskranken Patienten gegenübersteht? Darf er ihm die Wahrheit sagen und ihm damit die letzten Widerstandsreserven nehmen? Indem er das 8. Gebot in einen psychologischen Therapiezusammenhang rückt, stell Drewermann auch die Frage: Was müsste geschehen, bis man einen anderen dazu bringt, die Wahrheit, die man ihm zumutet, ertragen zu können? Oder: Was für eine Sprache ist anzuwenden, welche die Wahrheit zumutbar macht, ohne einen anderen zu beleidigen? Für Drewermann folgt daraus: Lüge ist notwendig, solange wir die Angst des einen vor dem anderen nicht besiegt haben. Für gefährlich hält er es, wenn das 4. Gebot „Du sollst Vater und Mutter ehren“ in eine reine Gehorsamsethik umgemünzt werde. Wozu blinder Gehorsam führen kann, macht er an vielen Beispielen von Befehlsausführung und Autoritätsgläubigkeit deutlich. Die Behauptung, Krieg komme aus Aggressionen und unaufgelösten Konflikten, hält er für abwegig. Die Bereitschaft zum Krieg liege in etwas ganz Simplen: im Gehorsam. So berief sich der Bomberpilot über Nagasaki, der 80 000 Menschen in wenigen Sekunden tötete, im Deutschen Fernsehen noch im Jahre 1995 darauf, auf Befehl gehandelt zu haben: „Jeder Soldat der Welt hätte so gehandelt. Es war ein Befehl.“ So herrsche auch, meint Drewermann, gesellschaftlich eine unglaubliche Verlogenheit in all dem, was das 5. Gebot betrifft. Zur Frage des Journalisten Schneider, dass Paulus im 13. Kapitel des Briefes an die Römer doch davon spreche, dass alle Obrigkeit von Gott gegeben sei und jedermann deshalb der Obrigkeit untertan zu sein habe, meint Drewermann: Paulus will es offenbar vermeiden, dass die frühe Christenbewegung im Römischen Reich Verdacht macht, revolutionär zu sein. Das sei sie aber in Wirklichkeit gewesen. Sie lehnte einen Kaiserkult ab und wollte auch nicht, dass man zum Kaiser betet, wie wenn er Gott wäre. Die Freiheit gegenüber allen Geboten, die von außen kommen, sei aber der Ungehorsam, der wesentlich darin liege, ein Christ zu sein: niemals untertan zu sein; auch den irdischen Herrschern nicht zu erlauben, dass sie sich absolut setzten! Die Relativierung alles Irdischen, so Drewermann, liege mit im 4. Gebot. Die Befreiungstheologen in diktatorischen Ländern werden es ihm danken. Eugen Drewermann: Die Zehn Gebote. Zwischen Weisung und Weisheit. Patmos-Verlag Düsseldorf 2006, 180 Seiten, geb., 18,00 Euro.