Ökumenische Nachhaltigkeitsziele. Ein Beitrag der Schweizer Delegation für die 10. Vollversammlung des ÖRK in Busan? Diskussionsimpuls für den workshop „Economy of life, justice and peace“ am 24. Mai 2013 in Bern Hella Hoppe / Otto Schäfer1 (work in progress; bitte noch nicht zitieren, Stand: 21.5.2013) 1 Die Versammlung in Nachhaltigkeitsziele Busan nutzen für die Stärkung ökumenischer Der AGAPE Aufruf „Ökonomie des Lebens, Gerechtigkeit und Frieden für alle: ein Aufruf zum Handeln“ ist das Ergebnis eines sechsjährigen Konsultations- und regionalen Studienprozesses, der die Themen Armut, Reichtum und Umwelt miteinander verband.2 Er soll auf der 10. Vollversammlung des ÖRK in Busan verabschiedet werden. Zu Recht betont die AGAPE-Position die tiefe Verflechtung der globalen finanziellen, sozioökonomischen, klimatischen und ökologischen Krisen, deren Folgen zahlreiche Menschen insbesondere im Süden existentiell bedrohen. Die ungerechte Verteilung von Wohlstand und Reichtum wird beim Namen genannt. Der abschliessende Aufruf an die Vollversammlung, sich im Sinne einer Ökonomie des Lebens in der neuen Legislaturperiode intensiv mit dem Aufbau eines neuen internationalen Finanz- und Wirtschaftsgefüges zu beschäftigen, die ökologische Schuld wiedergutzumachen und ökologische Gerechtigkeit zu fördern, ist wichtig und schliesst – bei allen Kontroversen, die sicher aufzugreifen und zu vertiefen wären – an Diskussionsprozesse, Studien und Stellungnahmen in den Mitgliedkirchen des ÖRK an. Mit dem vorliegenden Diskussionsimpuls soll angeregt werden, den AGAPE-Aufruf mit den internationalen Debatten um eine Post-2015-Entwicklungsagenda und um globale Nachhaltigkeitsziele zu verbinden. Dass der AGAPE Aufruf auf diese aktuellen Prozesse nicht eingeht, erklärt sich dadurch, dass die ihm zugrundeliegenden regionalen Konsultationen 2012 abgeschlossen waren. Seither haben jedoch, als Nachwirkung des Rio+20-Gipfels, die internationalen Debatten um ein neues Entwicklungsparadigma deutlich an Dynamik gewonnen. 1 2 Dr. Hella Hoppe, Beauftragte für Ökonomie ([email protected]); Pfr. Dr. Otto Schäfer, Beauftragter für Theologie und Ethik ([email protected]) Vgl. die gesammelten Ergebnisse der Konsultationen sind in der ÖRK Publikation „Linking poverty, wealth and ecology“ (2013) zusammengefasst. 1 Für die 10. Vollversammlung des ÖRK in Busan wird angeregt, den ÖRK zu mandatieren, einen ökumenischen Beitrag zur Debatte um globale Nachhaltigkeitsziele auszuarbeiten und diese aktiv in die internationalen Debatten um eine Post-2015-Entwicklungsagenda einzubringen. Die finale Version des vorliegenden Diskussionsimpulses könnte dafür einen Input leisten. 2 Post-2015-Entwicklungsagenda: Warum ein Paradigmenwechsel? Die internationale Entwicklungspolitik steht derzeit vor einem Paradigmenwechsel. Im Jahr 2015 sollen die Millenniumsziele (MDG) durch universale Ziele nachhaltiger Entwicklung (Sustainable Development Goals SDG) im Rahmen einer neuen Post-2015Entwicklungsagenda abgelöst werden. Die Vollversammlung in Busan wäre zeitlich ein wichtiger Meilenstein für einen Beitrag aus kirchlicher Sicht. Mit den Millenniumszielen gelang es erstmalig, die Staatengemeinschaft mit konkreten Zielvorgaben darauf zu verpflichten, bis 2015 schwerste Formen von wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich bedingter Not auf der Welt zu beseitigen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass es sich um lebensnahe und messbare Ziele handelt, für deren Erreichung finanzielle Entwicklungshilfe aus den Ländern des Nordens mobilisiert werden konnte. Die MDG sind jedoch auch starker Kritik ausgesetzt. Zum einen sind sie thematisch unvollständig, z.B. werden Fragen der Menschenrechte und der Verteilung nicht abgebildet. Moniert wird auch, dass sich die MDG politisch an Entwicklungsländer richten und Industrieländer nur über ihre Entwicklungshilfe unterstützend in die Verantwortung genommen werden, dass Umweltziele kaum berücksichtigt sind und dass die Armutsdefinition eindimensional ausgerichtet ist.3 Vor dem Hintergrund der Kritik an den MDG sollen die globalen Nachhaltigkeitsziele SDG Bestandteil einer neuen Entwicklungsagenda werden. Bislang zeichnet sich ab, dass es sich bei den SDG um universal gültige Ziele handeln wird, die neu alle UN-Mitgliedstaaten und nicht nur die Entwicklungsländer in die Verpflichtung nehmen werden. Fest steht auch, dass sie zugleich sozial, ökologisch und ökonomisch ausgerichtet sein werden (UN 2012), d.h. sie zielen auf eine nachhaltige und integrative Wirtschaft, auf eine Wirtschaftsentwicklung unter Einbezug von ökologischen und sozialen Belangen. In diesem Sinne heisst es in der Abschlussresolution des Rio+20 Gipfels: ”We therefore acknowledge the need to further mainstream sustainable development at all levels, integrating economic, social and environmental aspects and recognizing their interlinkages, so as to achieve sustainable development in all its dimensions.“ Die thematische Enge der MDG soll auch dadurch aufgebrochen werden, dass die weltwirtschaftlichen, geopolitischen und ökologischen Herausforderungen der letzten zwei Dekaden ihren Niederschlag in den SDG finden. Dazu gehören insbesondere die 3 Vgl. Loewe, Markus: Nach 2015: wie lassen sich die Millennium Development Goals mit den in Rio beschlossenen Sustainable Development Goals verbinden? Bonn: DIE 2012; Martens, Jens, Globale Nachhaltigkeitsziele für die Post-2015-Entwicklungsagenda. Bonn 2013. 2 realwirtschaftlichen Erfahrungen mit den jüngsten globalen Finanz- und Schuldenkrisen und die verstärkte Finanzialisierung der Rohstoff- und Lebensmittelmärkte. Zunehmende Belastungen sind auch der fortschreitende Klimawandel und die abnehmenden ErdölReserven. Diese Herausforderungen sind unter Berücksichtigung der geopolitischen Machtverschiebung zu aufstrebenden Schwellenländern zu lösen. 3 Sich in die institutionelle Dynamik um SDG als Kirche eingeben Der Post-2015-Prozess hat spätestens seit dem Rio+20 Gipfel eine sehr hohe weltweite Dynamik entwickelt – sowohl auf der Ebene der Vereinten Nationen und der Staatengemeinschaft als auch in der Privatwirtschaft, in der akademischen Diskussion und der Zivilgesellschaft. Kirchen sind an verschiedenen Orten an nationalen und internationalen Konsultationen beteiligt und/oder ermöglichen diese. Auf der Ebene der Vereinten Nationen und der internationalen Staatengemeinschaft wurde ein komplexer Diskussionsprozess mit mehreren Gremien geschaffen. So wurde im Juli 2012 das High-level Panel on Eminent Persons on the Post 2015 Development Agenda von UN Generalsekretär Ban Ki-moon berufen. Das Gremium wird bis Anfang Juni 2013 seinen Bericht mit Empfehlungen zum neuen Entwicklungsparadigma vorlegen. Parallel dazu wurde auf der Rio+20 Konferenz eine Arbeitsgruppe eingerichtet (UN General Assembly Open Working Group on the SDGs), welche den Auftrag hat, konkrete Vorschläge für Nachhaltigkeitsziele (SDG) zu erarbeiten. In dieser Open Working Group ist die Schweizer Regierung aktiv beteiligt. Anders als im Millenniumsprojekt wurde für die SDG frühzeitig eine Expertengruppe eingerichtet, welche Empfehlungen für die Finanzierung nachhaltiger Entwicklung aussprechen wird. Schliesslich leitet Jeffrey Sachs das Sustainable Development Solutions Network SDSN. Sachs war bereits bei der Formulierung der Millenniumsziele als externer Experte intensiv involviert. Zudem finden über 50 Länderkonsultationen und 11 thematische Konsultationen statt, die von UN Institutionen oder einzelnen Staaten durchgeführt werden. Hier hat die Schweiz die Ko-Leitung in den Konsultationen zu Wasser und Bevölkerungsdynamik übernommen. Auch die zivilgesellschaftlichen Konsultationen sind vielschichtig organisiert und hochdynamisch. Neben zivilgesellschaftlicher Partizipation im Rahmen nationaler Konsultationen sind auf der internationalen Ebene beispielsweise die Civil Society Reflection Group on Global Development Perspectives, Beyond 2015 und The Global Call to Action Against Poverty zu nennen. Aus kirchlicher Sicht ist z.B. Act Alliance aktiv insbesondere in der Analyse, warum es ein neues Entwicklungsparadigma braucht. Für Diskussionen zum Entwicklungsparadigmen steht neu auch die Internetbasierte Plattform „Dialogue4change“ zur Verfügung. Diese wurde von Brot für alle und Fastenopfer als Schnittstelle zwischen elektronischem Austausch, der Arbeit in der Praxis und der Entwicklungspolitik eingerichtet. 4 Ökumenische Nachhaltigkeitsziele 3 Wie könnte ein ökumenischer Beitrag zur Debatte um globale Nachhaltigkeitsziele aussehen? Im Folgenden werden acht wichtige Bereiche definiert und theologisch-ethisch begründet. Sie könnten einen ersten Beitrag für eine von der 10. Vollversammlung des ÖRK in Busan lancierte, ökumenische Debatte leisten. Ecumenical SDG 1: Wasser ist Leben Eine zentrale Herausforderung der Weltgemeinschaft ist es, den Zugang zu Wasser als Menschenrecht umfassend zu gewährleisten.4 Hierzu gehören auch funktionierende Abwassersysteme (sanitation), denn Wasser ist als Kreislauf zu betrachten; nur so ist gesundes Wasser nachhaltig verfügbar. Eng verbunden mit ökologisch bedingter Wasserknappheit ist das Problem der zunehmenden Bodendegradation, d.h. der Landverödung und Verwüstung.5 Hauptgründe für das Fehlen von bezahlbarem Wasser in ausreichender Menge sind jedoch gravierende soziale Ungleichheit und die fehlende politische Durchsetzung von Grundrechten. Zwar kann die Privatisierung von Teilfunktionen der Wasserversorgung durchaus funktionieren (die Erfahrungen sind unterschiedlich und es gibt differenzierte Analysen zu den notwendigen Rahmenbedingungen6). Die Gesamtverantwortung für Wasser als öffentliches Gut kann die öffentliche Hand jedoch nicht abgeben, ohne die Rechte der Schwächsten und damit den Zusammenhalt des Gemeinwesens zu opfern. Auch Gendergerechtigkeit steht hier auf dem Spiel: denn in vielen Regionen mit gravierender Wasserverknappung sind es die Frauen und Kinder, vor allem die Mädchen, die Wasser aus immer weiter entfernten Brunnen beschaffen und dafür stundenlang marschieren. Theologisch ist auf die spirituelle Bedeutung von Wasser in allen Religionen, auch im Judentum und Christentum zu verweisen, ausserdem auf die Rechte der Armen als Prüfstein sozialer Gerechtigkeit. Von den Paradiesströmen in Gn 2 bis zum kristallklaren Fluss im himmlischen Jerusalem (Off 22) bestimmt Wasser entscheidend die biblische Lebens- und Vorstellungswelt. Viele wesentliche Begegnungen der Heilsgeschichte sind Brunnengeschichten. Das Wasser der Taufe macht das Leben der Gläubigen zu einem Leben in der Verheissung. Wasser ist das elementarste Grundbedürfnis. Deshalb erwähnt der Kirchenvater Johannes Chrysostomus das Glas Wasser als das schlichteste materielle Zeichen der Nächstenliebe, die für ihn genauso wie Taufe und Abendmahl ein Sakrament ist: das Sakrament der Geschwisterlichkeit. Die „Option für die Armen“ beinhaltet die Sicherung der Versorgung mit Wasser. An manchen alten Brunnen steht noch der Spruch aus Jesaja 55,1: „Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser!“ „Nicht für Geld“, sagt der 4 5 6 Vgl. Ökumenischer Rat Christlicher Kirchen Brasiliens CONIC/ Katholische Bischofskonferenz Brasiliens CNBB/ Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund SEK/ Schweizer Bischofskonferenz: Ökumenische Erklärung zum Wasser als Menschenrecht und als öffentliches Gut, 2005, 1-3; Synodalrat der Reformierten Kirche Bern-Jura-Solothurn: Für die Globalisierung der Gerechtigkeit, Bern 2003, 16f; vgl. auch Evangelische Kirche von Westfalen: Globalisierung. Wirtschaft im Dienst des Lebens. Stellungnahme der Evangelischen Kirche von Westfalen zum Soesterberg-Brief, Bielefeld 2005, 33f. Vgl. Vgl. SEK (Hella Hoppe / Christoph Stückelberger): Globalance. Christliche Perspektiven für eine menschengerechte Globalisierung, SEK Position 5, Bern 2005. Z.B. Rosemann, Nils: Das Menschenrecht auf Wasser unter den Bedingungen der Handelsliberalisierung und Privatisierung – Eine Untersuchung der Privatisierung der Wasserversorgung und Abwasserversorgung von Manila (Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung), 2003 4 Prophet, ist uns das verheissen, was uns labt und leben macht; er redet zuerst vom Wasser und dann vom „ewigen Bund“ (Jes. 55,3), den Gott mit uns Menschen schliesst. Schon die 9. Vollversammlung des ÖRK in Porto Alegre 2006 hat ein „Statement on Water for Life“ verabschiedet und darin die brasilianisch-schweizerische ökumenische Zusammenarbeit bei der Wassererklärung von 2005 lobend hervorgehoben. Mehr Engagement für die Umsetzung wäre seither wünschenswert und nötig gewesen. Das Thema ist nicht nur nicht erledigt, sondern brennend aktuell. Die Kirchen und der ÖRK (mit seinem Ecumenical Water Network EWN) tun gut daran, es in der Form eines SDG erneut zu formulieren. Die Schweiz, das „Wasserschloss Europas“ und zugleich ein Unternehmensstandort, von dem starke Tendenzen zur Privatisierung von Wasser ausgehen, ist hier besonders gefordert. Die Zivilgesellschaft der EU hat mit der europäischen Bürgerinitiative „Wasser ist ein Menschenrecht“, der ersten Initiative dieser Art, die seit ihrem Bestehen seit einem Jahr überhaupt zustande gekommen ist, bewiesen, dass diese Fragen den Menschen in den reichen und gut mit Wasser versorgten Industrieländern nicht gleichgültig sind. Die Schweizer Kirchen haben allen Grund, ihr Engagement in dieser Sache 10 Jahre nach dem „Internationalen Wasserjahr“ 2003 fortzusetzen und international zu vernetzen. Ecumenical SDG 2: Die Finanzwirtschaft in den Dienst der Realwirtschaft stellen Wie ist das Verhältnis von Realökonomie und Finanzökonomie? Aus christlicher Sicht hat die Realökonomie Vorrang, die Finanzwirtschaft steht in ihrem Dienst. Diese Anschauung hat viel mit der Kulturgeschichte des Christentums zu tun. Eine entscheidende kulturprägende Wirkung des Christentums, schon in der späten Antike, ist die Wertschätzung der Arbeit, einschliesslich vieler einfacher, manueller Arbeiten. In dieser Hinsicht bricht der christliche Glaube mit dem abgehobenen, intellektualistischen Lebensideal der griechischen Philosophen. Im christlichen Menschenbild und Erziehungsziel müssen Kopf, Herz und Hand immer zusammenpassen. Aus dieser Anschauung lässt sich ableiten, dass die reale Wirtschaft immer einen Vorrang vor der Finanzwirtschaft haben muss. Eine eigene Finanzwirtschaft, das Bankenwesen als Wirtschaftssektor, haben die Reformatoren dadurch gerechtfertigt, dass Kredite dem unternehmerischen Handeln in der realen Wirtschaft zugute kommen. Die Finanzökonomie hat der Realökonomie zu dienen.7 Koppelt sich die Finanzwirtschaft von der Realwirtschaft ab, dann spiegelt sie wirtschaftliche Verhältnisse vor, die nicht tragfähig sind. Die jüngsten Finanzkrisen haben gezeigt, dass Regulierungsunterschiede in verschiedenen Teilen des Finanzsektors, durch die risikoreiche Geschäfte unbehelligt getätigt werden können, sowie die starke Ausrichtung auf kurzfristige Gewinne nicht die Effizienz der Volkswirtschaften erhöhen, sondern erhebliche Systemrisiken mit sich bringen. 7 Vgl. SEK (Hoppe, Hella, Schäfer, Otto): Gerechtes Haushalten und faires Spiel. Studie zu den jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrisen aus evangelischer Sicht. Bern 2010. 5 Die sozialen Folgen waren fatal. Zahlreiche Menschen in Entwicklungsländern bezahlen die Folgen der jüngsten Finanzkrisen „in der harten Währung ihrer alltäglichen Existenz“8. Insbesondere viele Frauen, die in der Exportproduktion ihrer Länder beschäftigt waren, verloren in Folge der realwirtschaftlichen Folgen der Finanzkrisen ihren Job. Sie wurden aus dem formalen Arbeitsmarkt in den informellen Bereich abgedrängt. Dazu gehören der Strassenverkauf oder Heimarbeit. Viele Frauen waren auch von staatlichen Budgetkürzungen im sozialen Bereich betroffen (v.a. im Gesundheitsbereich). Um ihre Familien zu schützen haben Frauen die unterschiedlichsten Bewältigungsstrategien gewählt. Sie nehmen mehrere schlecht bezahlte Jobs gleichzeitig an oder sie gehen als niedrig bezahlte Hausangestellte ins Ausland, schuften unter prekären Arbeitsbedingungen und lassen gleichzeitig ihre Kinder zurück.9 Die jüngsten Krisen haben auch gezeigt, dass Finanz- und Wirtschaftskrisen und die globale Umweltkrise, speziell die Klimakrise, nicht gegen einander auszuspielen, sondern als gemeinsames Problem zu behandeln sind. Denn ein Scheitern des Klimaschutzes würde zu einer weiteren dramatischen finanziellen Belastung der Weltwirtschaft führen.10 Die Finanzkrisen können folglich nicht auf Kosten der Klimakrise gelöst werden, sondern sind als Chance für einen Wechsel zu einer nachhaltigen Ökonomie zu verstehen. Ecumenical SDG 3: Das Recht auf Nahrung für alle gewährleisten Dies bedeutet, angemessene, zugängliche und nachhaltig produzierte Nahrungsmittel und Ernährung für alle Menschen zu gewährleisten. Zu den bemerkenswerten Kennzeichen der neutestamentlichen Wundergeschichten gehört ihre „Alltagstauglichkeit“. Aufschlussreich in dieser Hinsicht ist das Verhältnis der sakramentalen Elemente „Brot und Wein“ zu den Alltagselementen „Brot und Fisch“. Die Speisungswunder Jesu beziehen sich – in einer Gesellschaft von galiläischen Fischern am See Genezareth – auf Brot und Fisch: fünf Brote und zwei Fische werden so vermehrt, dass vier- bis fünftausend Menschen davon satt werden (Mk 6,30-44; Mk 8,1-9). Auch die Gemeinschaft mit dem Auferstandenen ist eine Mahlgemeinschaft des Alltags mit Brot und Fisch (Jh 21). Die Vermehrung von Brot und Fisch wird so beschrieben, dass alles mit dem Danken und mit dem Teilen beginnt. Danken und Teilen steht vor Arbeiten und Produzieren. Diese Umkehr ist wesentlich. Sie kommt auch im Sakrament zum Ausdruck, in Brot und Wein. Die Stärkung durch das Brot wird ergänzt mit der Fröhlichkeit des Weines und beides ist „Eucharistie“ – „Danksagung“ auf Griechisch. Das Neue Testament bezeugt sehr klar, dass das Sakrament des Abendmahls keine ritualisierte, alltagsferne „Heiligkeit“ als Flucht aus der Welt heraus sein kann. Denn im Alltag werden Brot und Wein zu Brot und Fisch – und dort geschieht das Wunder, dass alle satt werden, wenn das Ganze beginnt mit Danken und Teilen. 8 9 10 Jürgen Habermas Vgl. SEK (Hoppe, Hella, Schäfer, Otto): Gerechtes Haushalten und faires Spiel. Studie zu den jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrisen aus evangelischer Sicht. Bern 2010. Der Ökonom Nicholas Stern beziffert die ökonomischen Verluste bei Untätigkeit auf fünf bis zwanzig Prozent des globalen BIP pro Jahr. Vgl. Stern, Nicholas: The Economics of Climate Change. The Stern Review, Cambridge 2006. 6 Von Schweizerischen Werken aus der (kirchlichen) Entwicklungszusammenarbeit wird das Ziel „Recht auf Nahrung für Alle“ in fünf Unterziele aufgefächert: (1) Unterernährung und Hunger in jeglicher Form zu beseitigen einschliesslich der Unterernährung, Mangelerscheinungen und Überernährung, so dass alle Menschen das Recht auf Nahrung zu allen Zeiten geniessen können; (2) Sicherzustellen, dass Kleinbauern und ländliche Gemeinden, insbesondere von Frauen und benachteiligte Gruppen, einen angemessenen Lebensunterhalt und Einkommen erhalten, und ihr Zugangsrecht auf produktive Ressourcen und Vermögenswerte überall zu gewährleisten; (3) eine Transformation hin zu nachhaltigen, vielfältigen und robusten Landwirtschafts- und Ernährungssystemen zu schaffen, die natürlichen Ressourcen und Ökosysteme zu erhalten, und einer Degradation des Lands entgegen zu wirken; (4) zu erreichen, dass Nachernteverluste und andere Lebensmittelverluste und Verschwendung unterbunden sind; (5) die Einrichtung von inklusiven, transparenten und gerechten gesetzlichen und anderen Entscheidungsprozessen im Bereich Lebensmittel, Ernährung und Landwirtschaft auf allen Ebenen.11 Hinzuweisen ist hier auch auf einen Zusammenhang, den die schweizerischen kirchlichen Hilfswerke Brot für Alle und Fastenopfer mit dem Thema ihrer ökumenischen Kampagne 2009 unterstrichen haben: „Das Recht auf Nahrung braucht ein gesundes Klima“. Vor den möglichen Folgen, die der Klimawandel mit sich bringt, warnen die Vereinten Nationen erneut in ihrem gerade erschienenen „Bericht über die menschliche Entwicklung 2013". Bei Untätigkeit könnte bis 2050 die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben, durch Umweltkatastrophen auf drei Milliarden steigen. Durch die globale Erwärmung drohen massive Entwicklungsrückschritte mit tiefgreifenden wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen weltweit. Finanzmärkte zeigen nach den Finanzkrisen einen zunehmend grossen Appetit auf Nahrungsmittelmärkte: Die rohstoffbezogenen spekulativen Aktivitäten an den Kapitalmärkten gehen weit über das traditionelle Hedging zur Absicherung der Ernteeinnahmen hinaus.12 Dieser Handel mit neuartigen Finanzprodukten im Rohstoffbereich hebt die Weltmarktpreise deutlich an und wirkt auf die Preisbildung in Entwicklungsländern. Die Ernährungssicherheit wird dadurch gefährdet und Hunger verursacht.13 Frauen spüren Preisniveauerhöhungen bei Nahrungsmitteln wie Getreide, Reis oder Soja besonders deutlich, denn sie sind hauptverantwortlich für die Ernährungssicherheit. Gleichzeitig verfügen Frauen über beträchtliche Kenntnisse und Erfahrungen bei der Bewirtschaftung und Erhaltung natürlicher Ressourcen. Die Rolle der Frauen beim Bestreben um eine nachhaltige Entwicklung ist aber bisher durch Diskriminierung, das heisst Mangel an Ausbildung, an Grundeigentum und gleichberechtigten beruflichen Positionen eingeschränkt worden. Die Wahrung der Grundrechte von Frauen und Massnahmen für ihre Gleichstellung sind unabdingbar für mehr Nachhaltigkeit. 11 12 13 Vgl. Discussion Paper: SDG/Post-2015 Goals on Food Security and Nutrition, and Sustainable Agriculture and Food Systems, 2013, S. 2 Vgl. Bass, Hans-Heinrich: Finanzmärkte als Hungerverursacher? Studie für die Deutsche Welthungerhilfe e.V., Bonn 2011. Vgl. Bass, Hans-Heinrich: Finanzmärkte als Hungerverursacher? Studie für die Deutsche Welthungerhilfe e.V., Bonn 2011. 7 Ecumenical SDG 4: Massvoll umgehen mit Energie Der Energieverbrauch der Industrieländer ist seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts rasant angestiegen. In der Schweiz hat sich der Primärenergieverbrauch innerhalb des letzten halben Jahrhunderts verdreifacht, ja sogar verfünffacht, wenn die „graue Energie“ einbezogen wird; graue Energie wird in anderen Ländern für Produkte aufgewandt, welche die Schweiz importiert. Der Verbrauch von fossilen Energien erzeugt Kohlendioxid, das zwar bei weitem nicht stärkste, aber mengenmässig wichtigste Klimagas (ca. 80% Beitrag zum Klimawandel). Schon längst sind es nicht mehr nur die klassischen Industrieländer, die zu dem hohen Verbrauch von fossilen Energien und dem hohen CO2-Ausstoss beitragen. Grosse Schwellenländer liegen in der gleichen Grössenordnung und weisen weit höhere Steigerungsraten auf14. Einen Einfluss auf die Schwellenländer können die klassischen Industriestaaten aber nur ausüben, wenn sie selbst mit gutem Beispiel vorangehen und ihre historische Verantwortung sowie ihre grösseren Handlungsmöglichkeiten anerkennen15. Energiepolitik und Klimapolitik stehen in engem Zusammenhang, decken sich aber nicht. Die Ernährungsweise in den Industrieländern und die intensive Landwirtschaft beispielsweise bewirken nicht nur CO2-, sondern auch Methan- und Stickoxid-Emissionen; es handelt sich um hochwirksame Klimagase. Umgekehrt ist die Neuorientierung des Energiesystems nicht nur aus Klimagründen notwendig. Der Rückgang der Reserven, die Gefährdung von Frieden und Menschenrechten durch die harte Konkurrenz der energiehungrigen Nationen, die Risiken beim Betrieb von Kernkraftwerken und bei der Lagerung der Abfälle, schliesslich auch die Einsicht, dass der Ressourcenverbrauch der entwickelten Länder nicht nachhaltig und nicht verallgemeinerbar sein kann, zwingen zu einer neuen Energiepolitik. Die Entwicklung erneuerbarer Energien kann die Probleme nur lösen, wenn der Energieverbrauch drastisch reduziert wird (Ziel ist die „2000-Watt-Gesellschaft“). Dazu sind technische Wirksamkeitssteigerungen notwendig (weniger Energieeinsatz für die gleiche Energiedienstleistung; Stichwort „efficiency“), aber auch Verhaltensänderungen, zumal sich bei anderen als nur Energieressourcen die gleichen Probleme stellen (es braucht eine neue Genügsamkeit; Stichwort „sufficiency“). Die kirchliche und theologische Reflexion betont an dieser Stelle eine „Ethik des Masses“. Diese Thematik wird in der neueren theologischen Umwelt- und Wirtschaftsethik behandelt16 und ist in der Ökumenischen Konsultation zu sozialen und wirtschaftlichen Fragen im Abschnitt „Kultur des Masses im Umgang der Natur“ aufgegriffen worden17.Sie stellt aber einen viel älteren Grundsatz theologischen Denkens dar. Es lässt sich nachweisen, dass das Motiv der „Mässigung aus Dankbarkeit“ bei den Reformierten des 16. Jahrhunderts eine grosse Rolle spielt (z. B. der Abschnitt über den „rechten Gebrauch der irdischen Güter“ in Calvins Institutio, III,X), dort schon mit einem deutlichen Bezug zu dem, was wir 14 15 16 17 Seit 2006 steht China an erster Stelle der Klimagas-Emissionen, noch vor den USA. Pro Kopf – und das wird nicht immer genügend betont – sind die Klimagas-Emissionen der USA immer noch viermal höher als die der Volksrepublik China. Bei Einbezug der grauen Energie verschiebt sich das Verhältnis noch einmal erheblich. Im Sinne der „common but differentiated responsibilities and respective capabilities” von Art. 3 der Weltklimakonvention von 1992. Vgl. Stückelberger, Christoph: Umwelt und Entwicklung. Eine sozialethische Orientierung. Stuttgart-BerlinKöln, W. Kohlhammer, 1997. Wort der Kirchen: Miteinander in die Zukunft. Bern-Freiburg, 2001, S. 147. 8 „Ressourcennutzung“ nennen18. „Temperantia“ taucht aber schon viel früher auf. Die Tugend der Mässigung wurde bereits in der Antike und im christlichen Mittelalter als Kardinaltugend hoch gehalten. So sah beispielsweise Hildegard von Bingen im rechten Mass (bei ihr: discretio) die „Mutter aller Tugenden“19. In den Schweizer Kirchen wird seit Jahren die Orientierung hin zu einem massvollen Umgang mit Energie und zu einer drastischen Senkung der Klimagas-Emissionen unterstützt. Beispiele sind die „Energieethik“ des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes20 und die entsprechenden Stellungnahmen zu Klimafragen21, sowie die Vernehmlassungsantwort zur Energiestrategie 205022. Der Kirchenbund unterstützt hier nicht nur eine verantwortliche Gesamtenergieperspektive, sondern trägt den Ausstieg aus der Kernkraft ausdrücklich mit. Schon die Erste Europäische Ökumenische Versammlung in Basel an Pfingsten 1989 erklärte unmissverständlich, dass Kernkraft aufgrund der vielfältigen Risiken nicht die Grundlage einer künftigen Energiepolitik sein kann23. Eine grosse Schwierigkeit der internationalen Klimaverhandlungen sind die Interessengegensätze der Nationen. Deshalb haben sich mehrere Kirchen, darunter auch der Schweizerische Evangelische Kirchenbund mit Brot für Alle für das menschenrechtlich definierte Konzept der Greenhouse Development Rights eingesetzt. Dieser Ansatz vergleicht nicht pauschal die Emissionsrechte von Staaten, sondern gesteht jedem Bewohner und jeder Bewohnerin des Planeten Erde ein Emissionsrecht zu bis zu einer Schwelle, die als minimales, menschenrechtlich motiviertes Entwicklungsniveau anerkennt wird. Dieses liegt deutlich über der Armutsschwelle. Alle Emissionen, die über der Entwicklungsschwelle liegen, müssen kompensiert oder reduziert werden, ganz gleich ob sie Menschen in Industriestaaten, in Schwellenländern oder in Entwicklungsländern betreffen. Gerechtigkeitstheoretisch ist dieses Modell weitaus überzeugender als die Ansätze, bei denen Staaten pauschal behandelt werden; aber es bewirkt aus diesem Grund auch erhebliche Widerstände. Die Kirchen als supranationale Gemeinschaft sollten es weiterhin mit Nachdruck vertreten. Ecumenical SDG 5: Zugang zu Care ist ein Menschenrecht Seit den 1980er Jahren hat sich zunehmend die Einsicht durchgesetzt, dass Selbstbestimmungsrechte (Autonomie) nur teilweise die Achtung vor der Person abbilden. Denn als Person anerkannt werden wir nicht nur auf Grund unserer Fähigkeit zur Selbstbestimmung, sondern gerade auch dann, wenn uns diese Fähigkeit fehlt. Eine (oft feministisch begründete) Ethik der Fürsorge (ethics of care, Carol Gilligan) tritt neben das Autonomie-Ideal, das häufig nur eine Abstraktion ist und Personen entgegen jeder Lebenserfahrung als nur selbstbezogene Entscheidungsträger versteht. Was wir sind, sind 18 19 20 21 22 23 Schäfer, Otto: „Der Heimatbach sei mein Nil“ Französisch-reformierte Beiträge zu einer Ethik des Masses. – Beihefte zur Ökumenischen Rundschau, Nr. 93 (Festgabe Christoph Stückelberger), 2012, S. 75-82. http://www.medizin-ethik.ch/publik/medizinische_ethik_hildegard.htm SEK: Energieethik (Autor: Otto Schäfer), Bern 2008. SEK: Vernehmlassungsantwort zur Revision des CO2-Gesetzes (Autor: Otto Schäfer), Bern 2009. SEK: Vernehmlassungsantwort zur Energiestrategie 2050 (Autor: Otto Schäfer), Bern 2013. Frieden in Gerechtigkeit. Die offiziellen Dokumente der Europäischen Ökumenischen Versammlung 1989 in Basel. Reinhardt, Benziger, Basel, Zürich, 1989, S. 79, (Abschnitt 87b). 9 wir mindestens so sehr durch das, was uns als Gabe übertragen und was uns als Beziehung geschenkt ist, als durch das, was wir aus eigenem Vermögen und eigener Freiheit entscheiden. Eine Ethik der Fürsorge nimmt fundamentale Motive christlicher Ethik auf. Theologisch betrachtet sind wir Handelnde, weil uns Gott zu Partnern macht. Das ist der Sinn der biblisch zentralen Bundestheologie: Gott schliesst einen Bund mit uns Menschen und macht uns fähig, gerecht zu handeln – und gerecht heisst sowohl verantwortlich als auch fürsorglich. In den Bund eingeschlossen sind gerade diejenigen (biblisch Witwen, Waisen und Fremde), die ihre Rechte oft aus eigener Kraft nicht durchsetzen können. Aus christlicher Sicht zielen Menschenrechte darauf, die menschliche Würde eines jeden Menschen über das Recht zu schützen.24 Dazu gehört – neben den politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten sowie den kulturellen, ökonomischen und sozialen Rechten – auch das Menschenrecht auf Entwicklung. Zudem dienen Menschenrechte mit ihren präzisierenden Verträgen und Kommentaren als Orientierung für sozialethische Anwendungsregeln eines jeden Einzelnen.25 In diesem Sinne sind Frauenrechte Menschenrechte, die Frauen spezifisch für sich beanspruchen. Diese spiegeln sich in verschiedenen internationalen Abkommen. Mit Ziel 3 der Millenniumsziele hat sich die Staatengemeinschaft beispielsweise auf die Gleichstellung der Geschlechter verpflichtet und darauf, die politische, wirtschaftliche und soziale Beteiligung von Frauen zu fördern. Die Förderung von Frauen ist somit ein eigenes Ziel, aber sie ist auch eine Voraussetzung für die Erreichung aller MDG, u.a. in den Bereichen Bildung und Gesundheit. Care als Menschen- und Frauenrecht wird bislang jedoch weitestgehend ausgeblendet. „Care bedeutet, sich – unbezahlt oder bezahlt – um die körperlichen, psychischen, emotionalen und entwicklungsbezogenen Bedürfnisse eines oder mehrerer Menschen zu kümmern.“26 Von Lebensanfang bis Lebensende ist das Sein massgeblich von der CareÖkonomie geprägt. Standard und Qualität ist abhängig davon, wie Gesellschaften die unabdingbare Versorgungs- und Sorgearbeit organisieren. „Es ist die Aufgabe der Gesellschaft und des Staates, dafür zu sorgen, dass jedes Mitglied Anrecht auf Sorge und auf Versorgung mit dem Lebensnotwendigen hat, auch wenn es kostet.“27 Ecumenical SDG 6: Freiheitliche Gesellschaft braucht religiöse Vielfalt28 Menschenrechte stellen nicht nur die Gewissens- und Glaubensfreiheit unter ihren Schutz, sondern auch die Kultusfreiheit, weil Glauben und religiöses Leben wesentlich auf 24 25 26 27 28 Vgl. SEK: Den Menschen ins Recht setzen. Menschenrechte und Menschenwürde aus theologisch-ethischer Perspektive. Bern 2007, S. 18f (Autor: Frank Mathwig). Vgl. SEK: Gerechtes Haushalten und faires Spiel. Studie zu den jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrisen aus evangelischer Sicht. Bern 2010, S. 52 (Autoren: Hella Hoppe und Otto Schäfer). Vgl. WIDE: Switzerland care-free?. Einblicke in vier Schauplätze der Care-Ökonomie: Haushalt, Gesundheitsund Pflegewesen, globalisierter Care-Arbeitsmarkt und Staatsfinanzen. Bern 2013, S. 4. Vgl. WIDE: Switzerland care-free?. Einblicke in vier Schauplätze der Care-Ökonomie: Haushalt, Gesundheitsund Pflegewesen, globalisierter Care-Arbeitsmarkt und Staatsfinanzen. Bern 2013, S.30 Der Textabschnitt zu „Freiheitliche Gesellschaft braucht religiöse Vielfalt „ ist zitiert aus: Frank Mathwig: Freiheitliche Gesellschaft braucht religiöse Vielfalt. Argumente zur Volksabstimmung ‹Gegen den Bau von Minaretten› 2009. 10 Gemeinschaft bezogen sind. Die Religionsgemeinschaften entscheiden selbst über Inhalt, Form und öffentliche Bekundung ihres gemeinschaftlich geteilten Glaubens. Die Grenzen sind erst dort erreicht, wo andere Grundrechte berührt werden. Und selbst auf dieser Grenze darf nicht pauschal entschieden werden, sondern immer von Fall zu Fall. Der sich im Ausgang der Reformation entwickelnden rechtlichen Idee der Religionsfreiheit verdanken die christlichen Konfessionen ihre eigene Existenz. Zur Religionsfreiheit für jeden Menschen – unabhängig von seinem Glauben – gibt es keine Alternative. Der demokratische Rechtsstaat kann bestimmte Religionsgemeinschaften in gewissem Rahmen fördern. Er darf aber keine Religionsgemeinschaft und ihre Gläubigen an der öffentlichen Ausübung ihres Glaubens hindern. Gemäss der Ankündigung Jesu, „Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Matthäus 18,20), setzt Glauben die Gemeinschaft der Gläubigen voraus. Diese gemeinsame Praxis grundlos und einseitig zu beschränken, trifft, nach christlicher Auffassung, die Gläubigen selbst. Gemeinschaftliche Religionsausübung und öffentliche Präsenz sind integraler Bestandteil von Religionsfreiheit. Im Respekt vor dem Glauben und den religiösen Überzeugungen einer jeden Person lehnen die Kirchen daher jede willkürliche staatliche Einschränkung der Glaubens- und Kultuspraxis als Angriff auf die Religionsfreiheit ab. Das Menschenrecht auf Glaubens-, Bekenntnis- und Kultusfreiheit ist in vielen Regionen der Welt bedroht, wird eingeschränkt oder mit Füssen getreten. Darunter leiden religiöse Minderheiten unabhängig davon, welcher Religionsgemeinschaft sie angehören. Religionsfreiheit muss deshalb für jede Glaubensgemeinschaft in jedem Land der Erde erkämpft werden. Vor allem können Menschenrechtsverletzungen in einem anderen Land nicht dasselbe Unrecht im eigenen Land rechtfertigen. Die Beschränkung der Religionsfreiheit im eigenen Land schadet vielen, aber nützt niemandem, auch denjenigen nicht, auf die als Argument verwiesen wird. Eine solche Vergeltungslogik ‹wie du mir so ich dir› wird in der fünften Bitte des gemeinsamen Gebets der Christen deutlich zurückgewiesen: «Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben haben jenen, die an uns schuldig geworden sind.» (Matthäus 6,12). Die christlichen Kirchen orientieren sich in ihrem Verzicht auf Vergeltung an ihrem Vorbild Jesus Christus und seinem Aufruf zu Vergebung, Versöhnung und Frieden unter den Menschen, der selbst die Feinde miteinbezieht (Matthäus 5,43–45). Ausserdem erinnern die Kirchen daran, dass die Migrantinnen und Migranten in der Schweiz selbst häufig Opfer solcher Staatsgewalt geworden und deshalb zu uns geflohen sind. Sie würden durch den Vergeltungsgedanken noch einmal gedemütigt, weil sie nun auch noch die Bestrafung jener Taten, deren Opfer sie wurden, am eigenen Leib ertragen müssten. Der christliche Versöhnungs- und Friedensauftrag in der Welt gilt ohne Einschränkung und unabhängig davon, ob er von allen Menschen, Staaten und Religionsgemeinschaften geteilt wird. Ecumenical SDG 7: Gerechten Frieden erwirken 11 In der christlichen Friedensethik der jüngsten Zeit hat das Konzept des „gerechten Friedens“ die klassische Theorie von den Bedingungen eines „gerechten Krieges“ abgelöst. Der Friede ist der Ernstfall (Karl Barth), und die ökumenische Bewegung hat – zuletzt auf der Friedenskonvokation von Kingston/Jamaika 2011 – den Bedingungen eines Friedens, der gerecht ist, ihre ganze Aufmerksamkeit gewidmet. Frieden ist nicht Abwesenheit von Krieg, sondern ein politisches Grossprojekt; Frieden zu schaffen, zu erhalten und wiederherzustellen braucht erhebliche Mittel, wie sie bisher in Militärhaushalten eingesetzt werden. Auch bei der Diskussion über Sicherheitspolitik betonen die Kirchen ein umfassendes Konzept von Sicherheit (human security), in dem nationale Interessen relativiert werden von dem Bemühen um weltweite Durchsetzung der Menschenrechte und in dem militärische Präsenz und Intervention nur ein Mittel unter vielen sein kann, ein letztes Mittel. Frieden und Sicherheit wird jedoch immer weniger von rein zwischenstaatlichen Konflikten und Kriegen bedroht. Vielmehr ist für die Gewährleistung und Wiederherstellung von Frieden und Sicherheit – und dies umfasst die menschliche Sicherheit - eine lange Liste von sozioökonomischen als auch sicherheitspolitischen Herausforderungen zu lösen. In seinem Abschlussbericht kommt die vom UNO-Generalsekretär eingesetzte „Hochrangige Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel“ (HLP) zum Schluss, dass aufgrund der zunehmenden und grenzüberschreitenden Bedrohungen ein funktionierendes System kollektiver Sicherheit unabdingbar sei. Das HLP identifiziert insgesamt sechs „Bündel“ von Bedrohungen, denen sich die Weltgemeinschaft derzeit und in den kommenden Jahren ausgesetzt sieht: (a) Kriege zwischen Staaten; (b) Gewalt innerhalb von Staaten, einschliesslich Bürgerkriegen; (c) massive Menschenrechtsverletzungen und Völkermord, (d) Armut, Infektionskrankheiten und Umweltzerstörung, (e) nukleare, radiologische, chemische und biologische Waffen; und (f) Terrorismus und grenzüberschreitende Kriminalität.29 Die Gefahrenpotenziale haben sich im Zuge der Globalisierung verschärft, da sich kein Staat mehr autonom gegen die sich global auswirkenden bzw. verbreitenden Bedrohungen wie Nuklearterrorismus oder Infektionskrankheiten wappnen kann.30 Zunehmende Beachtung wird der Tatsache geschenkt, dass Frauen durch geschlechtsspezifische Gewaltanwendungen und Menschenrechtsverletzungen wie Vergewaltigung und Zwangsprostitution Opfer in Konflikten und Kriegen sind. Frauen sind jedoch nicht nur Opfer, sie spielen auch eine wichtige Rolle bei der Vorbeugung und Beilegung von Konflikten sowie bei der Friedenskonsolidierung. Diese veränderte Wahrnehmung der Rolle von Frauen in Kriegen, Konflikten und Friedensprozessen spiegelt sich insbesondere in der UNO-Resolution 1325 wider, die im Oktober 2000 vom Sicherheitsrat verabschiedet wurde. 29 30 Vgl. Vgl. SEK (Hella Hoppe / Christoph Stückelberger): Globalance. Christliche Perspektiven für eine menschengerechte Globalisierung, SEK Position 5, Bern 2005; vgl. auch Vereinte Nationen: Zusammenfassung Eine sicherere Welt: Unsere gemeinsame Verantwortung. Bericht der vom Generalsekretär einberufenen Hochrangigen Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel, New York 2004, 1. Vgl. Ozgercin, Kevin/Steinhilber, Jochen: Toward a More Secure World? The Report of the High-Level Panel on Threats, Challenges and Change. New York 2005, 3; United Nations: A more secure world: our shared responsibility, Report of the High-level Panel on Threats, Challenges and Change, New York: 2004, 16f; SEK: Die UNO mit Reformen stärken, Bern 2005, xxx. 12 Die ökumenische Bewegung hat immer wieder den engen Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung betont. Die ökumenische Dekade zur Überwindung von Gewalt ist ebenso ein Beitrag dazu wie die zahlreichen kleinen Friedensschritte in Kirchgemeinden oder die vermittelnden Bemühungen in Konfliktgebieten durch den Ökumenischen Rat der Kirchen.31 Die Kirchen in der Schweiz haben sich in der Vergangenheit insbesondere stark für Rüstungsbegrenzung, die Einschränkung von Kriegsmaterialexporten32, das Verbot von Antipersonenminen, Vermittlung und Versöhnung in Konflikten, Friedensforschung33 und weitere friedenspolitische Vorstösse eingesetzt. Die Stimme der Schweizer Kirchen in diesen Fragen ist leiser geworden. In Zeiten zunehmender politischer Polarisierung und medialer Vergröberung der Diskussion ist es für die Kirchen allerdings auch schwerer geworden, den christlich motivierten Einsatz für die Verminderung von Gewalt öffentlich so darzustellen, dass seine geistliche Dimension, seine Fundierung in den prophetischen Verheissungen, in den provozierenden Geboten der Bergpredigt und in der Nachfolge Jesu erkennbar bleibt. Unter der Voraussetzung, dass es gelingt, auch der spirituellen Kraft christlichen Friedensengagements Ausdruck zu geben, ist es wünschenswert, dass die Schweizer Kirchen sich am weltweiten ökumenischen Engagement für den Frieden auch in brennenden Sachfragen stärker einbringen. Dazu gehören die nukleare Abrüstung, die Verminderung von Waffenproduktion und Waffenhandel (auch von Kleinwaffen), sowie die Reduzierung der Militärausgaben. Ecumenical SDG 8: Korruptionsbekämpfung Partikularinteressen als Schutz des Gemeinwohls vor Demokratische Rechts- und Verfassungsstaaten beruhen auf gewachsenen und von Staat zu Staat verschiedenen Beteiligungsformen und -verfahren. Die Schweiz gilt weltweit als Vorbild, insbesondere hinsichtlich umfangreicher Beteiligungsrechte und -möglichkeiten für ihre Bürgerinnen und Bürger. Die Wahl des Nationalrates, Volksinitiativen, Volksabstimmungen, die Möglichkeiten politischer Mitarbeit auf den verschiedenen Ebenen, betriebliche Mitwirkung, zivilgesellschaftliche Beteiligungsmöglichkeiten in Verbänden, Vereinen oder Bürgerinitiativen, Gewerkschaftsarbeit oder die Wahl des Kirchgemeinderates und der Pfarrpersonen durch das Kirchenvolk präsentieren Formen der Beteiligung demokratisch verfasster Institutionen.34 Theologisch beruht die besondere Affinität der reformierten Kirchen mit dem demokratischen Rechtsstaat und seinen Beteiligungsstrukturen auf der zentralen Stellung der Bundestheologie: Gott schliesst einen Bund mit seinem Volk und bezieht die Vielfalt der Stämme und Geschlechter, später im Neuen Testament die Vielfalt der Sprachen, Kulturen 31 32 33 34 Vgl. SEK (Hella Hoppe / Christoph Stückelberger): Globalance. Christliche Perspektiven für eine menschengerechte Globalisierung, SEK Position 5, Bern 2005. Nein zu Waffengewalt, ja zur Selbstverteidigung der Schweiz. Argumentarium des Rates des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes zur Eidgenössischen Volksinitiative „Für ein Verbot von KriegsmaterialExporten“, Bern 2011. Z.B. die Stiftung Swisspeace. Vgl. SEK: Grundwerte (Autoren : Christoph Stückelberger & Frank Mathwig), Bern 2007, S. 49 (Grundwert Beteiligung). 13 und Ortskirchen in dieses verbindliche Miteinander ein. Die gemeinsame Verpflichtung auf den Bund (z.B. Jos. 24) mit seinen Lebensregeln (Zehn Gebote, Ex 20; Dt 5) oder dann auch der Zusammenhalt der paulinischen Gemeinden und ihr solidarisches Verhältnis zur Jerusalemer Urgemeinde (z.B. 2. Kor. 8 u. 9) sind biblische Urbilder der reformierten Kirchenorganisation, die ihrerseits als presbyterial-synodales System die moderne Demokratie und politische Ethik geprägt hat (Althusius, Locke, Rousseau). Demokratie und Rechtsstaat als Beteiligungsordnungen können sich nur dann entfalten und erhalten, wenn Strukturen und Verfahren gegen Willkür und Missbrauch geschützt sind (z.B. durch Gewaltenteilung oder im einzelnen durch Regeln zur Ämterhäufung, zur Erteilung öffentlicher Aufträge, zur Freiheit von Meinung und Information, zur Verbandsklage usw.). Das gilt sinngemäss auch für die interne Organisation von Unternehmen und für die Sozialpartnerschaft von Unternehmern und Gewerkschaften. Auf internationaler Ebene war die UNO-Konferenz für Entwicklungsfinanzierung eine wichtige Etappe im Nachgang der Millenniumsdeklaration. Dies gilt insbesondere, weil der Monterrey Konsensus strukturelle Fragen der Machtverteilung wie die Machtausnutzung durch Steuerflucht oder Machtungleichgewichte im Welthandels- und Finanzsystem thematisiert.35 Auch Korruption als Missbrauch öffentlicher Macht für privaten Nutzen36 wird vom Monterrey Konsensus verurteilt. Korruption unterwandert demnach das Gemeinwohl durch Partikularinteressen.37 Korruption, Geldwäscherei und Steuerhinterziehung durch Steuerflucht widersprechen fairem und gerechtem Wirtschaften in hohem Masse. Korruption wirkt sich unterschiedlich auf Frauen und Männer aus, ebenso gibt es geschlechterbegründete Ursachen der Korruption. Entscheidend ist der ungleiche Zugang von Männern und Frauen zu Ressourcen und Machtpositionen, die ihrerseits für korrupte Zwecke missbraucht werden können. Politisches Empowerment von Frauen ist deshalb wichtiger Bestandteil von struktureller Armuts- und Korruptionsbekämpfung.38 Korruption gehört weltweit zu den Haupthindernissen nachhaltiger, gerechter und friedensfördernder Entwicklung. Die Entwicklungsethik (gerade auch die theologische) und die Entwicklungszusammenarbeit (besonders auch die kirchliche) haben sich daher in den letzten Jahren intensiv mit den Problemen der Korruption befasst. 35 36 37 38 Siehe Globalance, vgl. auch United Nations: Report of the International Conference on Financing for Development Monterrey, Mexico, 18-22 March 2002, New York 2002, Art. 4; vgl. auch Millennium Project: Investing in Development. A Practical Plan to Achieve the Millennium Development Goal Report to the UN SecretaryGeneral, London 2005, 5. [deutschsprachige Quellen angeben] Definition gemäss Transparency International Maak/Ulrich, 1999, 103. Zitiert nach Andrea Kolb, Grundlagendokument zu Gender und Korruption, BFA 2010. 14