Ökumenische Nachhaltigkeitsziele

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Ökumenische Nachhaltigkeitsziele.
Ein Beitrag der Schweizer Delegation für die 10. Vollversammlung des ÖRK in Busan?
Diskussionsimpuls für den workshop „Economy of life, justice and peace“
am 24. Mai 2013 in Bern
Hella Hoppe / Otto Schäfer1
(work in progress; bitte noch nicht zitieren, Stand: 21.5.2013)
1
Die Versammlung in
Nachhaltigkeitsziele
Busan
nutzen
für
die
Stärkung
ökumenischer
Der AGAPE Aufruf „Ökonomie des Lebens, Gerechtigkeit und Frieden für alle: ein Aufruf
zum Handeln“ ist das Ergebnis eines sechsjährigen Konsultations- und regionalen
Studienprozesses, der die Themen Armut, Reichtum und Umwelt miteinander verband.2 Er
soll auf der 10. Vollversammlung des ÖRK in Busan verabschiedet werden.
Zu Recht betont die AGAPE-Position die tiefe Verflechtung der globalen finanziellen,
sozioökonomischen, klimatischen und ökologischen Krisen, deren Folgen zahlreiche
Menschen insbesondere im Süden existentiell bedrohen. Die ungerechte Verteilung von
Wohlstand und Reichtum wird beim Namen genannt. Der abschliessende Aufruf an die
Vollversammlung, sich im Sinne einer Ökonomie des Lebens in der neuen Legislaturperiode
intensiv mit dem Aufbau eines neuen internationalen Finanz- und Wirtschaftsgefüges zu
beschäftigen, die ökologische Schuld wiedergutzumachen und ökologische Gerechtigkeit zu
fördern, ist wichtig und schliesst – bei allen Kontroversen, die sicher aufzugreifen und zu
vertiefen wären – an Diskussionsprozesse, Studien und Stellungnahmen in den
Mitgliedkirchen des ÖRK an.
Mit dem vorliegenden Diskussionsimpuls soll angeregt werden, den AGAPE-Aufruf mit den
internationalen Debatten um eine Post-2015-Entwicklungsagenda und um globale
Nachhaltigkeitsziele zu verbinden. Dass der AGAPE Aufruf auf diese aktuellen Prozesse
nicht eingeht, erklärt sich dadurch, dass die ihm zugrundeliegenden regionalen
Konsultationen 2012 abgeschlossen waren. Seither haben jedoch, als Nachwirkung des
Rio+20-Gipfels, die internationalen Debatten um ein neues Entwicklungsparadigma deutlich
an Dynamik gewonnen.
1
2
Dr. Hella Hoppe, Beauftragte für Ökonomie ([email protected]); Pfr. Dr. Otto Schäfer, Beauftragter für
Theologie und Ethik ([email protected])
Vgl. die gesammelten Ergebnisse der Konsultationen sind in der ÖRK Publikation „Linking poverty, wealth and
ecology“ (2013) zusammengefasst.
1
Für die 10. Vollversammlung des ÖRK in Busan wird angeregt, den ÖRK zu mandatieren,
einen ökumenischen Beitrag zur Debatte um globale Nachhaltigkeitsziele auszuarbeiten und
diese aktiv in die internationalen Debatten um eine Post-2015-Entwicklungsagenda
einzubringen. Die finale Version des vorliegenden Diskussionsimpulses könnte dafür einen
Input leisten.
2
Post-2015-Entwicklungsagenda: Warum ein Paradigmenwechsel?
Die internationale Entwicklungspolitik steht derzeit vor einem Paradigmenwechsel. Im Jahr
2015 sollen die Millenniumsziele (MDG) durch universale Ziele nachhaltiger Entwicklung
(Sustainable Development Goals SDG) im Rahmen einer neuen Post-2015Entwicklungsagenda abgelöst werden. Die Vollversammlung in Busan wäre zeitlich ein
wichtiger Meilenstein für einen Beitrag aus kirchlicher Sicht.
Mit den Millenniumszielen gelang es erstmalig, die Staatengemeinschaft mit konkreten
Zielvorgaben darauf zu verpflichten, bis 2015 schwerste Formen von wirtschaftlich, politisch
und gesellschaftlich bedingter Not auf der Welt zu beseitigen. Sie zeichnen sich dadurch
aus, dass es sich um lebensnahe und messbare Ziele handelt, für deren Erreichung
finanzielle Entwicklungshilfe aus den Ländern des Nordens mobilisiert werden konnte. Die
MDG sind jedoch auch starker Kritik ausgesetzt. Zum einen sind sie thematisch
unvollständig, z.B. werden Fragen der Menschenrechte und der Verteilung nicht abgebildet.
Moniert wird auch, dass sich die MDG politisch an Entwicklungsländer richten und
Industrieländer nur über ihre Entwicklungshilfe unterstützend in die Verantwortung
genommen werden, dass Umweltziele kaum berücksichtigt sind und dass die
Armutsdefinition eindimensional ausgerichtet ist.3
Vor dem Hintergrund der Kritik an den MDG sollen die globalen Nachhaltigkeitsziele SDG
Bestandteil einer neuen Entwicklungsagenda werden. Bislang zeichnet sich ab, dass es sich
bei den SDG um universal gültige Ziele handeln wird, die neu alle UN-Mitgliedstaaten und
nicht nur die Entwicklungsländer in die Verpflichtung nehmen werden. Fest steht auch, dass
sie zugleich sozial, ökologisch und ökonomisch ausgerichtet sein werden (UN 2012), d.h. sie
zielen auf eine nachhaltige und integrative Wirtschaft, auf eine Wirtschaftsentwicklung unter
Einbezug von ökologischen und sozialen Belangen. In diesem Sinne heisst es in der Abschlussresolution des Rio+20 Gipfels: ”We therefore acknowledge the need to further mainstream sustainable development at all levels, integrating economic, social and environmental
aspects and recognizing their interlinkages, so as to achieve sustainable development in all
its dimensions.“
Die thematische Enge der MDG soll auch dadurch aufgebrochen werden, dass die
weltwirtschaftlichen, geopolitischen und ökologischen Herausforderungen der letzten zwei
Dekaden ihren Niederschlag in den SDG finden. Dazu gehören insbesondere die
3
Vgl. Loewe, Markus: Nach 2015: wie lassen sich die Millennium Development Goals mit den in Rio
beschlossenen Sustainable Development Goals verbinden? Bonn: DIE 2012; Martens, Jens, Globale
Nachhaltigkeitsziele für die Post-2015-Entwicklungsagenda. Bonn 2013.
2
realwirtschaftlichen Erfahrungen mit den jüngsten globalen Finanz- und Schuldenkrisen und
die verstärkte Finanzialisierung der Rohstoff- und Lebensmittelmärkte. Zunehmende
Belastungen sind auch der fortschreitende Klimawandel und die abnehmenden ErdölReserven. Diese Herausforderungen sind unter Berücksichtigung der geopolitischen
Machtverschiebung zu aufstrebenden Schwellenländern zu lösen.
3
Sich in die institutionelle Dynamik um SDG als Kirche eingeben
Der Post-2015-Prozess hat spätestens seit dem Rio+20 Gipfel eine sehr hohe weltweite
Dynamik entwickelt – sowohl auf der Ebene der Vereinten Nationen und der
Staatengemeinschaft als auch in der Privatwirtschaft, in der akademischen Diskussion und
der Zivilgesellschaft. Kirchen sind an verschiedenen Orten an nationalen und internationalen
Konsultationen beteiligt und/oder ermöglichen diese.
Auf der Ebene der Vereinten Nationen und der internationalen Staatengemeinschaft wurde
ein komplexer Diskussionsprozess mit mehreren Gremien geschaffen. So wurde im Juli 2012
das High-level Panel on Eminent Persons on the Post 2015 Development Agenda von UN
Generalsekretär Ban Ki-moon berufen. Das Gremium wird bis Anfang Juni 2013 seinen
Bericht mit Empfehlungen zum neuen Entwicklungsparadigma vorlegen. Parallel dazu wurde
auf der Rio+20 Konferenz eine Arbeitsgruppe eingerichtet (UN General Assembly Open
Working Group on the SDGs), welche den Auftrag hat, konkrete Vorschläge für
Nachhaltigkeitsziele (SDG) zu erarbeiten. In dieser Open Working Group ist die Schweizer
Regierung aktiv beteiligt. Anders als im Millenniumsprojekt wurde für die SDG frühzeitig eine
Expertengruppe eingerichtet, welche Empfehlungen für die Finanzierung nachhaltiger
Entwicklung aussprechen wird. Schliesslich leitet Jeffrey Sachs das Sustainable
Development Solutions Network SDSN. Sachs war bereits bei der Formulierung der
Millenniumsziele als externer Experte intensiv involviert.
Zudem finden über 50 Länderkonsultationen und 11 thematische Konsultationen statt, die
von UN Institutionen oder einzelnen Staaten durchgeführt werden. Hier hat die Schweiz die
Ko-Leitung in den Konsultationen zu Wasser und Bevölkerungsdynamik übernommen.
Auch die zivilgesellschaftlichen Konsultationen sind vielschichtig organisiert und
hochdynamisch. Neben zivilgesellschaftlicher Partizipation im Rahmen nationaler
Konsultationen sind auf der internationalen Ebene beispielsweise die Civil Society Reflection
Group on Global Development Perspectives, Beyond 2015 und The Global Call to Action
Against Poverty zu nennen. Aus kirchlicher Sicht ist z.B. Act Alliance aktiv insbesondere in
der Analyse, warum es ein neues Entwicklungsparadigma braucht.
Für Diskussionen zum Entwicklungsparadigmen steht neu auch die Internetbasierte
Plattform „Dialogue4change“ zur Verfügung. Diese wurde von Brot für alle und Fastenopfer
als Schnittstelle zwischen elektronischem Austausch, der Arbeit in der Praxis und der
Entwicklungspolitik eingerichtet.
4
Ökumenische Nachhaltigkeitsziele
3
Wie könnte ein ökumenischer Beitrag zur Debatte um globale Nachhaltigkeitsziele
aussehen? Im Folgenden werden acht wichtige Bereiche definiert und theologisch-ethisch
begründet. Sie könnten einen ersten Beitrag für eine von der 10. Vollversammlung des ÖRK
in Busan lancierte, ökumenische Debatte leisten.
Ecumenical
SDG 1: Wasser ist Leben
Eine zentrale Herausforderung der Weltgemeinschaft ist es, den Zugang zu Wasser als
Menschenrecht umfassend zu gewährleisten.4 Hierzu gehören auch funktionierende
Abwassersysteme (sanitation), denn Wasser ist als Kreislauf zu betrachten; nur so ist
gesundes Wasser nachhaltig verfügbar. Eng verbunden mit ökologisch bedingter
Wasserknappheit ist das Problem der zunehmenden Bodendegradation, d.h. der
Landverödung und Verwüstung.5 Hauptgründe für das Fehlen von bezahlbarem Wasser in
ausreichender Menge sind jedoch gravierende soziale Ungleichheit und die fehlende
politische Durchsetzung von Grundrechten. Zwar kann die Privatisierung von Teilfunktionen
der Wasserversorgung durchaus funktionieren (die Erfahrungen sind unterschiedlich und es
gibt differenzierte Analysen zu den notwendigen Rahmenbedingungen6). Die
Gesamtverantwortung für Wasser als öffentliches Gut kann die öffentliche Hand jedoch nicht
abgeben, ohne die Rechte der Schwächsten und damit den Zusammenhalt des
Gemeinwesens zu opfern. Auch Gendergerechtigkeit steht hier auf dem Spiel: denn in vielen
Regionen mit gravierender Wasserverknappung sind es die Frauen und Kinder, vor allem die
Mädchen, die Wasser aus immer weiter entfernten Brunnen beschaffen und dafür
stundenlang marschieren.
Theologisch ist auf die spirituelle Bedeutung von Wasser in allen Religionen, auch im
Judentum und Christentum zu verweisen, ausserdem auf die Rechte der Armen als Prüfstein
sozialer Gerechtigkeit. Von den Paradiesströmen in Gn 2 bis zum kristallklaren Fluss im
himmlischen Jerusalem (Off 22) bestimmt Wasser entscheidend die biblische Lebens- und
Vorstellungswelt. Viele wesentliche Begegnungen der Heilsgeschichte sind Brunnengeschichten. Das Wasser der Taufe macht das Leben der Gläubigen zu einem Leben in der
Verheissung. Wasser ist das elementarste Grundbedürfnis. Deshalb erwähnt der
Kirchenvater Johannes Chrysostomus das Glas Wasser als das schlichteste materielle
Zeichen der Nächstenliebe, die für ihn genauso wie Taufe und Abendmahl ein Sakrament ist:
das Sakrament der Geschwisterlichkeit. Die „Option für die Armen“ beinhaltet die Sicherung
der Versorgung mit Wasser. An manchen alten Brunnen steht noch der Spruch aus Jesaja
55,1: „Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser!“ „Nicht für Geld“, sagt der
4
5
6
Vgl. Ökumenischer Rat Christlicher Kirchen Brasiliens CONIC/ Katholische Bischofskonferenz Brasiliens
CNBB/ Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund SEK/ Schweizer Bischofskonferenz: Ökumenische
Erklärung zum Wasser als Menschenrecht und als öffentliches Gut, 2005, 1-3; Synodalrat der Reformierten
Kirche Bern-Jura-Solothurn: Für die Globalisierung der Gerechtigkeit, Bern 2003, 16f; vgl. auch Evangelische
Kirche von Westfalen: Globalisierung. Wirtschaft im Dienst des Lebens. Stellungnahme der Evangelischen
Kirche von Westfalen zum Soesterberg-Brief, Bielefeld 2005, 33f.
Vgl. Vgl. SEK (Hella Hoppe / Christoph Stückelberger): Globalance. Christliche Perspektiven für eine
menschengerechte Globalisierung, SEK Position 5, Bern 2005.
Z.B. Rosemann, Nils: Das Menschenrecht auf Wasser unter den Bedingungen der Handelsliberalisierung und
Privatisierung – Eine Untersuchung der Privatisierung der Wasserversorgung und Abwasserversorgung von
Manila (Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung), 2003
4
Prophet, ist uns das verheissen, was uns labt und leben macht; er redet zuerst vom Wasser
und dann vom „ewigen Bund“ (Jes. 55,3), den Gott mit uns Menschen schliesst.
Schon die 9. Vollversammlung des ÖRK in Porto Alegre 2006 hat ein „Statement on Water
for Life“ verabschiedet und darin die brasilianisch-schweizerische ökumenische
Zusammenarbeit bei der Wassererklärung von 2005 lobend hervorgehoben. Mehr
Engagement für die Umsetzung wäre seither wünschenswert und nötig gewesen. Das
Thema ist nicht nur nicht erledigt, sondern brennend aktuell. Die Kirchen und der ÖRK (mit
seinem Ecumenical Water Network EWN) tun gut daran, es in der Form eines SDG erneut
zu formulieren. Die Schweiz, das „Wasserschloss Europas“ und zugleich ein
Unternehmensstandort, von dem starke Tendenzen zur Privatisierung von Wasser
ausgehen, ist hier besonders gefordert. Die Zivilgesellschaft der EU hat mit der europäischen
Bürgerinitiative „Wasser ist ein Menschenrecht“, der ersten Initiative dieser Art, die seit ihrem
Bestehen seit einem Jahr überhaupt zustande gekommen ist, bewiesen, dass diese Fragen
den Menschen in den reichen und gut mit Wasser versorgten Industrieländern nicht
gleichgültig sind. Die Schweizer Kirchen haben allen Grund, ihr Engagement in dieser Sache
10 Jahre nach dem „Internationalen Wasserjahr“ 2003 fortzusetzen und international zu
vernetzen.
Ecumenical
SDG 2: Die Finanzwirtschaft in den Dienst der Realwirtschaft stellen
Wie ist das Verhältnis von Realökonomie und Finanzökonomie?
Aus christlicher Sicht hat die Realökonomie Vorrang, die Finanzwirtschaft steht in ihrem
Dienst. Diese Anschauung hat viel mit der Kulturgeschichte des Christentums zu tun. Eine
entscheidende kulturprägende Wirkung des Christentums, schon in der späten Antike, ist die
Wertschätzung der Arbeit, einschliesslich vieler einfacher, manueller Arbeiten. In dieser
Hinsicht bricht der christliche Glaube mit dem abgehobenen, intellektualistischen
Lebensideal der griechischen Philosophen. Im christlichen Menschenbild und Erziehungsziel
müssen Kopf, Herz und Hand immer zusammenpassen. Aus dieser Anschauung lässt sich
ableiten, dass die reale Wirtschaft immer einen Vorrang vor der Finanzwirtschaft haben
muss. Eine eigene Finanzwirtschaft, das Bankenwesen als Wirtschaftssektor, haben die
Reformatoren dadurch gerechtfertigt, dass Kredite dem unternehmerischen Handeln in der
realen Wirtschaft zugute kommen. Die Finanzökonomie hat der Realökonomie zu dienen.7
Koppelt sich die Finanzwirtschaft von der Realwirtschaft ab, dann spiegelt sie wirtschaftliche
Verhältnisse vor, die nicht tragfähig sind. Die jüngsten Finanzkrisen haben gezeigt, dass
Regulierungsunterschiede in verschiedenen Teilen des Finanzsektors, durch die risikoreiche
Geschäfte unbehelligt getätigt werden können, sowie die starke Ausrichtung auf kurzfristige
Gewinne nicht die Effizienz der Volkswirtschaften erhöhen, sondern erhebliche
Systemrisiken mit sich bringen.
7
Vgl. SEK (Hoppe, Hella, Schäfer, Otto): Gerechtes Haushalten und faires Spiel. Studie zu den jüngsten
Finanz- und Wirtschaftskrisen aus evangelischer Sicht. Bern 2010.
5
Die sozialen Folgen waren fatal. Zahlreiche Menschen in Entwicklungsländern bezahlen die
Folgen der jüngsten Finanzkrisen „in der harten Währung ihrer alltäglichen Existenz“8.
Insbesondere viele Frauen, die in der Exportproduktion ihrer Länder beschäftigt waren,
verloren in Folge der realwirtschaftlichen Folgen der Finanzkrisen ihren Job. Sie wurden aus
dem formalen Arbeitsmarkt in den informellen Bereich abgedrängt. Dazu gehören der
Strassenverkauf oder Heimarbeit. Viele Frauen waren auch von staatlichen
Budgetkürzungen im sozialen Bereich betroffen (v.a. im Gesundheitsbereich). Um ihre
Familien zu schützen haben Frauen die unterschiedlichsten Bewältigungsstrategien gewählt.
Sie nehmen mehrere schlecht bezahlte Jobs gleichzeitig an oder sie gehen als niedrig
bezahlte Hausangestellte ins Ausland, schuften unter prekären Arbeitsbedingungen und
lassen gleichzeitig ihre Kinder zurück.9
Die jüngsten Krisen haben auch gezeigt, dass Finanz- und Wirtschaftskrisen und die globale
Umweltkrise, speziell die Klimakrise, nicht gegen einander auszuspielen, sondern als
gemeinsames Problem zu behandeln sind. Denn ein Scheitern des Klimaschutzes würde zu
einer weiteren dramatischen finanziellen Belastung der Weltwirtschaft führen.10 Die
Finanzkrisen können folglich nicht auf Kosten der Klimakrise gelöst werden, sondern sind als
Chance für einen Wechsel zu einer nachhaltigen Ökonomie zu verstehen.
Ecumenical
SDG 3: Das Recht auf Nahrung für alle gewährleisten
Dies bedeutet, angemessene, zugängliche und nachhaltig produzierte Nahrungsmittel und
Ernährung für alle Menschen zu gewährleisten.
Zu den bemerkenswerten Kennzeichen der neutestamentlichen Wundergeschichten gehört
ihre „Alltagstauglichkeit“. Aufschlussreich in dieser Hinsicht ist das Verhältnis der
sakramentalen Elemente „Brot und Wein“ zu den Alltagselementen „Brot und Fisch“. Die
Speisungswunder Jesu beziehen sich – in einer Gesellschaft von galiläischen Fischern am
See Genezareth – auf Brot und Fisch: fünf Brote und zwei Fische werden so vermehrt, dass
vier- bis fünftausend Menschen davon satt werden (Mk 6,30-44; Mk 8,1-9). Auch die
Gemeinschaft mit dem Auferstandenen ist eine Mahlgemeinschaft des Alltags mit Brot und
Fisch (Jh 21). Die Vermehrung von Brot und Fisch wird so beschrieben, dass alles mit dem
Danken und mit dem Teilen beginnt. Danken und Teilen steht vor Arbeiten und Produzieren.
Diese Umkehr ist wesentlich. Sie kommt auch im Sakrament zum Ausdruck, in Brot und
Wein. Die Stärkung durch das Brot wird ergänzt mit der Fröhlichkeit des Weines und beides
ist „Eucharistie“ – „Danksagung“ auf Griechisch. Das Neue Testament bezeugt sehr klar,
dass das Sakrament des Abendmahls keine ritualisierte, alltagsferne „Heiligkeit“ als Flucht
aus der Welt heraus sein kann. Denn im Alltag werden Brot und Wein zu Brot und Fisch –
und dort geschieht das Wunder, dass alle satt werden, wenn das Ganze beginnt mit Danken
und Teilen.
8
9
10
Jürgen Habermas
Vgl. SEK (Hoppe, Hella, Schäfer, Otto): Gerechtes Haushalten und faires Spiel. Studie zu den jüngsten
Finanz- und Wirtschaftskrisen aus evangelischer Sicht. Bern 2010.
Der Ökonom Nicholas Stern beziffert die ökonomischen Verluste bei Untätigkeit auf fünf bis zwanzig Prozent
des globalen BIP pro Jahr. Vgl. Stern, Nicholas: The Economics of Climate Change. The Stern Review, Cambridge 2006.
6
Von Schweizerischen Werken aus der (kirchlichen) Entwicklungszusammenarbeit wird das
Ziel „Recht auf Nahrung für Alle“ in fünf Unterziele aufgefächert: (1) Unterernährung und
Hunger in jeglicher Form zu beseitigen einschliesslich der Unterernährung,
Mangelerscheinungen und Überernährung, so dass alle Menschen das Recht auf Nahrung
zu allen Zeiten geniessen können; (2) Sicherzustellen, dass Kleinbauern und ländliche
Gemeinden, insbesondere von Frauen und benachteiligte Gruppen, einen angemessenen
Lebensunterhalt und Einkommen erhalten, und ihr Zugangsrecht auf produktive Ressourcen
und Vermögenswerte überall zu gewährleisten; (3) eine Transformation hin zu nachhaltigen,
vielfältigen und robusten Landwirtschafts- und Ernährungssystemen zu schaffen, die
natürlichen Ressourcen und Ökosysteme zu erhalten, und einer Degradation des Lands
entgegen zu wirken; (4) zu erreichen, dass Nachernteverluste und andere
Lebensmittelverluste und Verschwendung unterbunden sind; (5) die Einrichtung von
inklusiven, transparenten und gerechten gesetzlichen und anderen Entscheidungsprozessen
im Bereich Lebensmittel, Ernährung und Landwirtschaft auf allen Ebenen.11
Hinzuweisen ist hier auch auf einen Zusammenhang, den die schweizerischen kirchlichen
Hilfswerke Brot für Alle und Fastenopfer mit dem Thema ihrer ökumenischen Kampagne
2009 unterstrichen haben: „Das Recht auf Nahrung braucht ein gesundes Klima“. Vor den
möglichen Folgen, die der Klimawandel mit sich bringt, warnen die Vereinten Nationen
erneut in ihrem gerade erschienenen „Bericht über die menschliche Entwicklung 2013". Bei
Untätigkeit könnte bis 2050 die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben, durch
Umweltkatastrophen auf drei Milliarden steigen. Durch die globale Erwärmung drohen
massive Entwicklungsrückschritte mit tiefgreifenden wirtschaftlichen und sozialen
Verwerfungen weltweit.
Finanzmärkte zeigen nach den Finanzkrisen einen zunehmend grossen Appetit auf
Nahrungsmittelmärkte: Die rohstoffbezogenen spekulativen Aktivitäten an den
Kapitalmärkten gehen weit über das traditionelle Hedging zur Absicherung der
Ernteeinnahmen hinaus.12 Dieser Handel mit neuartigen Finanzprodukten im Rohstoffbereich
hebt die Weltmarktpreise deutlich an und wirkt auf die Preisbildung in Entwicklungsländern.
Die Ernährungssicherheit wird dadurch gefährdet und Hunger verursacht.13
Frauen spüren Preisniveauerhöhungen bei Nahrungsmitteln wie Getreide, Reis oder Soja
besonders deutlich, denn sie sind hauptverantwortlich für die Ernährungssicherheit.
Gleichzeitig verfügen Frauen über beträchtliche Kenntnisse und Erfahrungen bei der
Bewirtschaftung und Erhaltung natürlicher Ressourcen. Die Rolle der Frauen beim
Bestreben um eine nachhaltige Entwicklung ist aber bisher durch Diskriminierung, das heisst
Mangel an Ausbildung, an Grundeigentum und gleichberechtigten beruflichen Positionen
eingeschränkt worden. Die Wahrung der Grundrechte von Frauen und Massnahmen für ihre
Gleichstellung sind unabdingbar für mehr Nachhaltigkeit.
11
12
13
Vgl. Discussion Paper: SDG/Post-2015 Goals on Food Security and Nutrition, and Sustainable Agriculture and
Food Systems, 2013, S. 2
Vgl. Bass, Hans-Heinrich: Finanzmärkte als Hungerverursacher? Studie für die Deutsche Welthungerhilfe
e.V., Bonn 2011.
Vgl. Bass, Hans-Heinrich: Finanzmärkte als Hungerverursacher? Studie für die Deutsche Welthungerhilfe
e.V., Bonn 2011.
7
Ecumenical
SDG 4: Massvoll umgehen mit Energie
Der Energieverbrauch der Industrieländer ist seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts
rasant angestiegen. In der Schweiz hat sich der Primärenergieverbrauch innerhalb des
letzten halben Jahrhunderts verdreifacht, ja sogar verfünffacht, wenn die „graue Energie“
einbezogen wird; graue Energie wird in anderen Ländern für Produkte aufgewandt, welche
die Schweiz importiert. Der Verbrauch von fossilen Energien erzeugt Kohlendioxid, das zwar
bei weitem nicht stärkste, aber mengenmässig wichtigste Klimagas (ca. 80% Beitrag zum
Klimawandel). Schon längst sind es nicht mehr nur die klassischen Industrieländer, die zu
dem hohen Verbrauch von fossilen Energien und dem hohen CO2-Ausstoss beitragen.
Grosse Schwellenländer liegen in der gleichen Grössenordnung und weisen weit höhere
Steigerungsraten auf14. Einen Einfluss auf die Schwellenländer können die klassischen
Industriestaaten aber nur ausüben, wenn sie selbst mit gutem Beispiel vorangehen und ihre
historische Verantwortung sowie ihre grösseren Handlungsmöglichkeiten anerkennen15.
Energiepolitik und Klimapolitik stehen in engem Zusammenhang, decken sich aber nicht. Die
Ernährungsweise in den Industrieländern und die intensive Landwirtschaft beispielsweise
bewirken nicht nur CO2-, sondern auch Methan- und Stickoxid-Emissionen; es handelt sich
um hochwirksame Klimagase. Umgekehrt ist die Neuorientierung des Energiesystems nicht
nur aus Klimagründen notwendig. Der Rückgang der Reserven, die Gefährdung von Frieden
und Menschenrechten durch die harte Konkurrenz der energiehungrigen Nationen, die
Risiken beim Betrieb von Kernkraftwerken und bei der Lagerung der Abfälle, schliesslich
auch die Einsicht, dass der Ressourcenverbrauch der entwickelten Länder nicht nachhaltig
und nicht verallgemeinerbar sein kann, zwingen zu einer neuen Energiepolitik. Die
Entwicklung erneuerbarer Energien kann die Probleme nur lösen, wenn der
Energieverbrauch drastisch reduziert wird (Ziel ist die „2000-Watt-Gesellschaft“). Dazu sind
technische Wirksamkeitssteigerungen notwendig (weniger Energieeinsatz für die gleiche
Energiedienstleistung; Stichwort „efficiency“), aber auch Verhaltensänderungen, zumal sich
bei anderen als nur Energieressourcen die gleichen Probleme stellen (es braucht eine neue
Genügsamkeit; Stichwort „sufficiency“).
Die kirchliche und theologische Reflexion betont an dieser Stelle eine „Ethik des Masses“.
Diese Thematik wird in der neueren theologischen Umwelt- und Wirtschaftsethik behandelt16
und ist in der Ökumenischen Konsultation zu sozialen und wirtschaftlichen Fragen im
Abschnitt „Kultur des Masses im Umgang der Natur“ aufgegriffen worden17.Sie stellt aber
einen viel älteren Grundsatz theologischen Denkens dar. Es lässt sich nachweisen, dass das
Motiv der „Mässigung aus Dankbarkeit“ bei den Reformierten des 16. Jahrhunderts eine
grosse Rolle spielt (z. B. der Abschnitt über den „rechten Gebrauch der irdischen Güter“ in
Calvins Institutio, III,X), dort schon mit einem deutlichen Bezug zu dem, was wir
14
15
16
17
Seit 2006 steht China an erster Stelle der Klimagas-Emissionen, noch vor den USA. Pro Kopf – und das wird
nicht immer genügend betont – sind die Klimagas-Emissionen der USA immer noch viermal höher als die der
Volksrepublik China. Bei Einbezug der grauen Energie verschiebt sich das Verhältnis noch einmal erheblich.
Im Sinne der „common but differentiated responsibilities and respective capabilities” von Art. 3 der
Weltklimakonvention von 1992.
Vgl. Stückelberger, Christoph: Umwelt und Entwicklung. Eine sozialethische Orientierung. Stuttgart-BerlinKöln, W. Kohlhammer, 1997.
Wort der Kirchen: Miteinander in die Zukunft. Bern-Freiburg, 2001, S. 147.
8
„Ressourcennutzung“ nennen18. „Temperantia“ taucht aber schon viel früher auf. Die Tugend
der Mässigung wurde bereits in der Antike und im christlichen Mittelalter als Kardinaltugend
hoch gehalten. So sah beispielsweise Hildegard von Bingen im rechten Mass (bei ihr:
discretio) die „Mutter aller Tugenden“19.
In den Schweizer Kirchen wird seit Jahren die Orientierung hin zu einem massvollen
Umgang mit Energie und zu einer drastischen Senkung der Klimagas-Emissionen
unterstützt. Beispiele sind die „Energieethik“ des Schweizerischen Evangelischen
Kirchenbundes20 und die entsprechenden Stellungnahmen zu Klimafragen21, sowie die
Vernehmlassungsantwort zur Energiestrategie 205022. Der Kirchenbund unterstützt hier nicht
nur eine verantwortliche Gesamtenergieperspektive, sondern trägt den Ausstieg aus der
Kernkraft ausdrücklich mit. Schon die Erste Europäische Ökumenische Versammlung in
Basel an Pfingsten 1989 erklärte unmissverständlich, dass Kernkraft aufgrund der vielfältigen
Risiken nicht die Grundlage einer künftigen Energiepolitik sein kann23.
Eine grosse Schwierigkeit der internationalen Klimaverhandlungen sind die Interessengegensätze der Nationen. Deshalb haben sich mehrere Kirchen, darunter auch der
Schweizerische Evangelische Kirchenbund mit Brot für Alle für das menschenrechtlich
definierte Konzept der Greenhouse Development Rights eingesetzt. Dieser Ansatz vergleicht
nicht pauschal die Emissionsrechte von Staaten, sondern gesteht jedem Bewohner und jeder
Bewohnerin des Planeten Erde ein Emissionsrecht zu bis zu einer Schwelle, die als
minimales, menschenrechtlich motiviertes Entwicklungsniveau anerkennt wird. Dieses liegt
deutlich über der Armutsschwelle. Alle Emissionen, die über der Entwicklungsschwelle
liegen, müssen kompensiert oder reduziert werden, ganz gleich ob sie Menschen in
Industriestaaten, in Schwellenländern oder in Entwicklungsländern betreffen.
Gerechtigkeitstheoretisch ist dieses Modell weitaus überzeugender als die Ansätze, bei
denen Staaten pauschal behandelt werden; aber es bewirkt aus diesem Grund auch
erhebliche Widerstände. Die Kirchen als supranationale Gemeinschaft sollten es weiterhin
mit Nachdruck vertreten.
Ecumenical
SDG 5: Zugang zu Care ist ein Menschenrecht
Seit den 1980er Jahren hat sich zunehmend die Einsicht durchgesetzt, dass
Selbstbestimmungsrechte (Autonomie) nur teilweise die Achtung vor der Person abbilden.
Denn als Person anerkannt werden wir nicht nur auf Grund unserer Fähigkeit zur
Selbstbestimmung, sondern gerade auch dann, wenn uns diese Fähigkeit fehlt. Eine (oft
feministisch begründete) Ethik der Fürsorge (ethics of care, Carol Gilligan) tritt neben das
Autonomie-Ideal, das häufig nur eine Abstraktion ist und Personen entgegen jeder
Lebenserfahrung als nur selbstbezogene Entscheidungsträger versteht. Was wir sind, sind
18
19
20
21
22
23
Schäfer, Otto: „Der Heimatbach sei mein Nil“ Französisch-reformierte Beiträge zu einer Ethik des Masses. –
Beihefte zur Ökumenischen Rundschau, Nr. 93 (Festgabe Christoph Stückelberger), 2012, S. 75-82.
http://www.medizin-ethik.ch/publik/medizinische_ethik_hildegard.htm
SEK: Energieethik (Autor: Otto Schäfer), Bern 2008.
SEK: Vernehmlassungsantwort zur Revision des CO2-Gesetzes (Autor: Otto Schäfer), Bern 2009.
SEK: Vernehmlassungsantwort zur Energiestrategie 2050 (Autor: Otto Schäfer), Bern 2013.
Frieden in Gerechtigkeit. Die offiziellen Dokumente der Europäischen Ökumenischen Versammlung 1989 in
Basel. Reinhardt, Benziger, Basel, Zürich, 1989, S. 79, (Abschnitt 87b).
9
wir mindestens so sehr durch das, was uns als Gabe übertragen und was uns als Beziehung
geschenkt ist, als durch das, was wir aus eigenem Vermögen und eigener Freiheit
entscheiden. Eine Ethik der Fürsorge nimmt fundamentale Motive christlicher Ethik auf.
Theologisch betrachtet sind wir Handelnde, weil uns Gott zu Partnern macht. Das ist der
Sinn der biblisch zentralen Bundestheologie: Gott schliesst einen Bund mit uns Menschen
und macht uns fähig, gerecht zu handeln – und gerecht heisst sowohl verantwortlich als auch
fürsorglich. In den Bund eingeschlossen sind gerade diejenigen (biblisch Witwen, Waisen
und Fremde), die ihre Rechte oft aus eigener Kraft nicht durchsetzen können.
Aus christlicher Sicht zielen Menschenrechte darauf, die menschliche Würde eines jeden
Menschen über das Recht zu schützen.24 Dazu gehört – neben den politischen Rechten und
bürgerlichen Freiheiten sowie den kulturellen, ökonomischen und sozialen Rechten – auch
das Menschenrecht auf Entwicklung. Zudem dienen Menschenrechte mit ihren
präzisierenden Verträgen und Kommentaren als Orientierung für sozialethische
Anwendungsregeln eines jeden Einzelnen.25
In diesem Sinne sind Frauenrechte Menschenrechte, die Frauen spezifisch für sich
beanspruchen. Diese spiegeln sich in verschiedenen internationalen Abkommen. Mit Ziel 3
der Millenniumsziele hat sich die Staatengemeinschaft beispielsweise auf die Gleichstellung
der Geschlechter verpflichtet und darauf, die politische, wirtschaftliche und soziale
Beteiligung von Frauen zu fördern. Die Förderung von Frauen ist somit ein eigenes Ziel, aber
sie ist auch eine Voraussetzung für die Erreichung aller MDG, u.a. in den Bereichen Bildung
und Gesundheit.
Care als Menschen- und Frauenrecht wird bislang jedoch weitestgehend ausgeblendet.
„Care bedeutet, sich – unbezahlt oder bezahlt – um die körperlichen, psychischen,
emotionalen und entwicklungsbezogenen Bedürfnisse eines oder mehrerer Menschen zu
kümmern.“26 Von Lebensanfang bis Lebensende ist das Sein massgeblich von der CareÖkonomie geprägt. Standard und Qualität ist abhängig davon, wie Gesellschaften die
unabdingbare Versorgungs- und Sorgearbeit organisieren. „Es ist die Aufgabe der
Gesellschaft und des Staates, dafür zu sorgen, dass jedes Mitglied Anrecht auf Sorge und
auf Versorgung mit dem Lebensnotwendigen hat, auch wenn es kostet.“27
Ecumenical
SDG 6: Freiheitliche Gesellschaft braucht religiöse Vielfalt28
Menschenrechte stellen nicht nur die Gewissens- und Glaubensfreiheit unter ihren Schutz,
sondern auch die Kultusfreiheit, weil Glauben und religiöses Leben wesentlich auf
24
25
26
27
28
Vgl. SEK: Den Menschen ins Recht setzen. Menschenrechte und Menschenwürde aus theologisch-ethischer
Perspektive. Bern 2007, S. 18f (Autor: Frank Mathwig).
Vgl. SEK: Gerechtes Haushalten und faires Spiel. Studie zu den jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrisen aus
evangelischer Sicht. Bern 2010, S. 52 (Autoren: Hella Hoppe und Otto Schäfer).
Vgl. WIDE: Switzerland care-free?. Einblicke in vier Schauplätze der Care-Ökonomie: Haushalt, Gesundheitsund Pflegewesen, globalisierter Care-Arbeitsmarkt und Staatsfinanzen. Bern 2013, S. 4.
Vgl. WIDE: Switzerland care-free?. Einblicke in vier Schauplätze der Care-Ökonomie: Haushalt, Gesundheitsund Pflegewesen, globalisierter Care-Arbeitsmarkt und Staatsfinanzen. Bern 2013, S.30
Der Textabschnitt zu „Freiheitliche Gesellschaft braucht religiöse Vielfalt „ ist zitiert aus: Frank Mathwig:
Freiheitliche Gesellschaft braucht religiöse Vielfalt. Argumente zur Volksabstimmung ‹Gegen den Bau von
Minaretten› 2009.
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Gemeinschaft bezogen sind. Die Religionsgemeinschaften entscheiden selbst über Inhalt,
Form und öffentliche Bekundung ihres gemeinschaftlich geteilten Glaubens. Die Grenzen
sind erst dort erreicht, wo andere Grundrechte berührt werden. Und selbst auf dieser Grenze
darf nicht pauschal entschieden werden, sondern immer von Fall zu Fall.
Der sich im Ausgang der Reformation entwickelnden rechtlichen Idee der Religionsfreiheit
verdanken die christlichen Konfessionen ihre eigene Existenz. Zur Religionsfreiheit für jeden
Menschen – unabhängig von seinem Glauben – gibt es keine Alternative. Der demokratische
Rechtsstaat kann bestimmte Religionsgemeinschaften in gewissem Rahmen fördern. Er darf
aber keine Religionsgemeinschaft und ihre Gläubigen an der öffentlichen Ausübung ihres
Glaubens hindern.
Gemäss der Ankündigung Jesu, „Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt
sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Matthäus 18,20), setzt Glauben die Gemeinschaft der
Gläubigen voraus. Diese gemeinsame Praxis grundlos und einseitig zu beschränken, trifft,
nach christlicher Auffassung, die Gläubigen selbst. Gemeinschaftliche Religionsausübung
und öffentliche Präsenz sind integraler Bestandteil von Religionsfreiheit. Im Respekt vor dem
Glauben und den religiösen Überzeugungen einer jeden Person lehnen die Kirchen daher
jede willkürliche staatliche Einschränkung der Glaubens- und Kultuspraxis als Angriff auf die
Religionsfreiheit ab.
Das Menschenrecht auf Glaubens-, Bekenntnis- und Kultusfreiheit ist in vielen Regionen der
Welt bedroht, wird eingeschränkt oder mit Füssen getreten. Darunter leiden religiöse
Minderheiten unabhängig davon, welcher Religionsgemeinschaft sie angehören.
Religionsfreiheit muss deshalb für jede Glaubensgemeinschaft in jedem Land der Erde
erkämpft werden. Vor allem können Menschenrechtsverletzungen in einem anderen Land
nicht dasselbe Unrecht im eigenen Land rechtfertigen. Die Beschränkung der
Religionsfreiheit im eigenen Land schadet vielen, aber nützt niemandem, auch denjenigen
nicht, auf die als Argument verwiesen wird.
Eine solche Vergeltungslogik ‹wie du mir so ich dir› wird in der fünften Bitte des
gemeinsamen Gebets der Christen deutlich zurückgewiesen: «Und vergib uns unsere
Schuld, wie auch wir vergeben haben jenen, die an uns schuldig geworden sind.» (Matthäus
6,12). Die christlichen Kirchen orientieren sich in ihrem Verzicht auf Vergeltung an ihrem
Vorbild Jesus Christus und seinem Aufruf zu Vergebung, Versöhnung und Frieden unter den
Menschen, der selbst die Feinde miteinbezieht (Matthäus 5,43–45). Ausserdem erinnern die
Kirchen daran, dass die Migrantinnen und Migranten in der Schweiz selbst häufig Opfer
solcher Staatsgewalt geworden und deshalb zu uns geflohen sind. Sie würden durch den
Vergeltungsgedanken noch einmal gedemütigt, weil sie nun auch noch die Bestrafung jener
Taten, deren Opfer sie wurden, am eigenen Leib ertragen müssten. Der christliche
Versöhnungs- und Friedensauftrag in der Welt gilt ohne Einschränkung und unabhängig
davon, ob er von allen Menschen, Staaten und Religionsgemeinschaften geteilt wird.
Ecumenical
SDG 7: Gerechten Frieden erwirken
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In der christlichen Friedensethik der jüngsten Zeit hat das Konzept des „gerechten Friedens“
die klassische Theorie von den Bedingungen eines „gerechten Krieges“ abgelöst. Der Friede
ist der Ernstfall (Karl Barth), und die ökumenische Bewegung hat – zuletzt auf der
Friedenskonvokation von Kingston/Jamaika 2011 – den Bedingungen eines Friedens, der
gerecht ist, ihre ganze Aufmerksamkeit gewidmet. Frieden ist nicht Abwesenheit von Krieg,
sondern ein politisches Grossprojekt; Frieden zu schaffen, zu erhalten und
wiederherzustellen braucht erhebliche Mittel, wie sie bisher in Militärhaushalten eingesetzt
werden. Auch bei der Diskussion über Sicherheitspolitik betonen die Kirchen ein
umfassendes Konzept von Sicherheit (human security), in dem nationale Interessen
relativiert werden von dem Bemühen um weltweite Durchsetzung der Menschenrechte und in
dem militärische Präsenz und Intervention nur ein Mittel unter vielen sein kann, ein letztes
Mittel.
Frieden und Sicherheit wird jedoch immer weniger von rein zwischenstaatlichen Konflikten
und Kriegen bedroht. Vielmehr ist für die Gewährleistung und Wiederherstellung von Frieden
und Sicherheit – und dies umfasst die menschliche Sicherheit - eine lange Liste von sozioökonomischen als auch sicherheitspolitischen Herausforderungen zu lösen. In seinem
Abschlussbericht kommt die vom UNO-Generalsekretär eingesetzte „Hochrangige Gruppe
für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel“ (HLP) zum Schluss, dass aufgrund der
zunehmenden und grenzüberschreitenden Bedrohungen ein funktionierendes System
kollektiver Sicherheit unabdingbar sei. Das HLP identifiziert insgesamt sechs „Bündel“ von
Bedrohungen, denen sich die Weltgemeinschaft derzeit und in den kommenden Jahren
ausgesetzt sieht: (a) Kriege zwischen Staaten; (b) Gewalt innerhalb von Staaten,
einschliesslich Bürgerkriegen; (c) massive Menschenrechtsverletzungen und Völkermord, (d)
Armut, Infektionskrankheiten und Umweltzerstörung, (e) nukleare, radiologische, chemische
und biologische Waffen; und (f) Terrorismus und grenzüberschreitende Kriminalität.29 Die
Gefahrenpotenziale haben sich im Zuge der Globalisierung verschärft, da sich kein Staat
mehr autonom gegen die sich global auswirkenden bzw. verbreitenden Bedrohungen wie
Nuklearterrorismus oder Infektionskrankheiten wappnen kann.30
Zunehmende Beachtung wird der Tatsache geschenkt, dass Frauen durch
geschlechtsspezifische Gewaltanwendungen und Menschenrechtsverletzungen wie
Vergewaltigung und Zwangsprostitution Opfer in Konflikten und Kriegen sind. Frauen sind
jedoch nicht nur Opfer, sie spielen auch eine wichtige Rolle bei der Vorbeugung und
Beilegung von Konflikten sowie bei der Friedenskonsolidierung. Diese veränderte
Wahrnehmung der Rolle von Frauen in Kriegen, Konflikten und Friedensprozessen spiegelt
sich insbesondere in der UNO-Resolution 1325 wider, die im Oktober 2000 vom
Sicherheitsrat verabschiedet wurde.
29
30
Vgl. Vgl. SEK (Hella Hoppe / Christoph Stückelberger): Globalance. Christliche Perspektiven für eine
menschengerechte Globalisierung, SEK Position 5, Bern 2005; vgl. auch Vereinte Nationen:
Zusammenfassung Eine sicherere Welt: Unsere gemeinsame Verantwortung. Bericht der vom
Generalsekretär einberufenen Hochrangigen Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel, New
York 2004, 1.
Vgl. Ozgercin, Kevin/Steinhilber, Jochen: Toward a More Secure World? The Report of the High-Level Panel
on Threats, Challenges and Change. New York 2005, 3; United Nations: A more secure world: our shared responsibility, Report of the High-level Panel on Threats, Challenges and Change, New York: 2004, 16f; SEK:
Die UNO mit Reformen stärken, Bern 2005, xxx.
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Die ökumenische Bewegung hat immer wieder den engen Zusammenhang zwischen
Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung betont. Die ökumenische Dekade zur
Überwindung von Gewalt ist ebenso ein Beitrag dazu wie die zahlreichen kleinen
Friedensschritte in Kirchgemeinden oder die vermittelnden Bemühungen in Konfliktgebieten
durch den Ökumenischen Rat der Kirchen.31
Die Kirchen in der Schweiz haben sich in der Vergangenheit insbesondere stark für
Rüstungsbegrenzung, die Einschränkung von Kriegsmaterialexporten32, das Verbot von
Antipersonenminen, Vermittlung und Versöhnung in Konflikten, Friedensforschung33 und
weitere friedenspolitische Vorstösse eingesetzt. Die Stimme der Schweizer Kirchen in diesen
Fragen ist leiser geworden. In Zeiten zunehmender politischer Polarisierung und medialer
Vergröberung der Diskussion ist es für die Kirchen allerdings auch schwerer geworden, den
christlich motivierten Einsatz für die Verminderung von Gewalt öffentlich so darzustellen,
dass seine geistliche Dimension, seine Fundierung in den prophetischen Verheissungen, in
den provozierenden Geboten der Bergpredigt und in der Nachfolge Jesu erkennbar bleibt.
Unter der Voraussetzung, dass es gelingt, auch der spirituellen Kraft christlichen
Friedensengagements Ausdruck zu geben, ist es wünschenswert, dass die Schweizer
Kirchen sich am weltweiten ökumenischen Engagement für den Frieden auch in brennenden
Sachfragen stärker einbringen. Dazu gehören die nukleare Abrüstung, die Verminderung von
Waffenproduktion und Waffenhandel (auch von Kleinwaffen), sowie die Reduzierung der
Militärausgaben.
Ecumenical
SDG 8: Korruptionsbekämpfung
Partikularinteressen
als
Schutz
des
Gemeinwohls
vor
Demokratische Rechts- und Verfassungsstaaten beruhen auf gewachsenen und von Staat
zu Staat verschiedenen Beteiligungsformen und -verfahren. Die Schweiz gilt weltweit als
Vorbild, insbesondere hinsichtlich umfangreicher Beteiligungsrechte und -möglichkeiten für
ihre Bürgerinnen und Bürger. Die Wahl des Nationalrates, Volksinitiativen,
Volksabstimmungen, die Möglichkeiten politischer Mitarbeit auf den verschiedenen Ebenen,
betriebliche Mitwirkung, zivilgesellschaftliche Beteiligungsmöglichkeiten in Verbänden,
Vereinen oder Bürgerinitiativen, Gewerkschaftsarbeit oder die Wahl des Kirchgemeinderates
und der Pfarrpersonen durch das Kirchenvolk präsentieren Formen der Beteiligung
demokratisch verfasster Institutionen.34
Theologisch beruht die besondere Affinität der reformierten Kirchen mit dem demokratischen
Rechtsstaat und seinen Beteiligungsstrukturen auf der zentralen Stellung der
Bundestheologie: Gott schliesst einen Bund mit seinem Volk und bezieht die Vielfalt der
Stämme und Geschlechter, später im Neuen Testament die Vielfalt der Sprachen, Kulturen
31
32
33
34
Vgl. SEK (Hella Hoppe / Christoph Stückelberger): Globalance. Christliche Perspektiven für eine
menschengerechte Globalisierung, SEK Position 5, Bern 2005.
Nein zu Waffengewalt, ja zur Selbstverteidigung der Schweiz. Argumentarium des Rates des Schweizerischen
Evangelischen Kirchenbundes zur Eidgenössischen Volksinitiative „Für ein Verbot von KriegsmaterialExporten“, Bern 2011.
Z.B. die Stiftung Swisspeace.
Vgl. SEK: Grundwerte (Autoren : Christoph Stückelberger & Frank Mathwig), Bern 2007, S. 49 (Grundwert
Beteiligung).
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und Ortskirchen in dieses verbindliche Miteinander ein. Die gemeinsame Verpflichtung auf
den Bund (z.B. Jos. 24) mit seinen Lebensregeln (Zehn Gebote, Ex 20; Dt 5) oder dann auch
der Zusammenhalt der paulinischen Gemeinden und ihr solidarisches Verhältnis zur
Jerusalemer Urgemeinde (z.B. 2. Kor. 8 u. 9) sind biblische Urbilder der reformierten
Kirchenorganisation, die ihrerseits als presbyterial-synodales System die moderne
Demokratie und politische Ethik geprägt hat (Althusius, Locke, Rousseau).
Demokratie und Rechtsstaat als Beteiligungsordnungen können sich nur dann entfalten und
erhalten, wenn Strukturen und Verfahren gegen Willkür und Missbrauch geschützt sind (z.B.
durch Gewaltenteilung oder im einzelnen durch Regeln zur Ämterhäufung, zur Erteilung
öffentlicher Aufträge, zur Freiheit von Meinung und Information, zur Verbandsklage usw.).
Das gilt sinngemäss auch für die interne Organisation von Unternehmen und für die
Sozialpartnerschaft von Unternehmern und Gewerkschaften.
Auf internationaler Ebene war die UNO-Konferenz für Entwicklungsfinanzierung eine
wichtige Etappe im Nachgang der Millenniumsdeklaration. Dies gilt insbesondere, weil der
Monterrey Konsensus strukturelle Fragen der Machtverteilung wie die Machtausnutzung
durch Steuerflucht oder Machtungleichgewichte im Welthandels- und Finanzsystem
thematisiert.35 Auch Korruption als Missbrauch öffentlicher Macht für privaten Nutzen36 wird
vom Monterrey Konsensus verurteilt. Korruption unterwandert demnach das Gemeinwohl
durch Partikularinteressen.37 Korruption, Geldwäscherei und Steuerhinterziehung durch
Steuerflucht widersprechen fairem und gerechtem Wirtschaften in hohem Masse.
Korruption wirkt sich unterschiedlich auf Frauen und Männer aus, ebenso gibt es
geschlechterbegründete Ursachen der Korruption. Entscheidend ist der ungleiche Zugang
von Männern und Frauen zu Ressourcen und Machtpositionen, die ihrerseits für korrupte
Zwecke missbraucht werden können. Politisches Empowerment von Frauen ist deshalb
wichtiger Bestandteil von struktureller Armuts- und Korruptionsbekämpfung.38
Korruption gehört weltweit zu den Haupthindernissen nachhaltiger, gerechter und
friedensfördernder Entwicklung. Die Entwicklungsethik (gerade auch die theologische) und
die Entwicklungszusammenarbeit (besonders auch die kirchliche) haben sich daher in den
letzten Jahren intensiv mit den Problemen der Korruption befasst.
35
36
37
38
Siehe Globalance, vgl. auch United Nations: Report of the International Conference on Financing for Development Monterrey, Mexico, 18-22 March 2002, New York 2002, Art. 4; vgl. auch Millennium Project: Investing
in Development. A Practical Plan to Achieve the Millennium Development Goal Report to the UN SecretaryGeneral, London 2005, 5. [deutschsprachige Quellen angeben]
Definition gemäss Transparency International
Maak/Ulrich, 1999, 103.
Zitiert nach Andrea Kolb, Grundlagendokument zu Gender und Korruption, BFA 2010.
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