2 Raumbegriff und Strukturierung Europas EUROPAS ETHNISCHES BEWUSSTSEIN So wie die topographische Karte Europas (Universalatlas S. 80/81) die kleinräumige Struktur des Kontinents und seine enge Verzahnung mit dem Meer zeigt, so deutlich ist Europas Vielfalt auf der Karte des ethnischen Bewusstseins [Abb.1] zu erkennen. Die Karte stellt keine objektiven ethnischen Kriterien (wie z.B. Sprache) dar, sondern das subjektive ethnische Zugehörigkeitsgefühl der Menschen in den verschiedenen Regionen und Staaten Europas. Die ethnische Kleinräumigkeit und Vielfalt Europas wird verstärkt durch die vielen Minderheiten, die in fast allen europäischen Staaten angetroffen werden. Im Mittel entfallen auf jeden europäischen Staat fünf bis sieben Minderheiten, oft auf mehrere Staaten aufgeteilt, wie z.B. Ungarn oder Russen. Bedeutende Minderheiten einer Ethnie sind mit schwarzen Punkten auf der Karte lokalisiert und durch eine schwarze Linie mit dem Hauptverbreitungsgebiet dieser Ethnie verbunden. Selbst bei flüchtiger Betrachtung der Karte wird deutlich, dass das östliche Mitteleuropa, die Balkanhalbinsel und die Kaukasusregion jene Gebiete Europas sind, in denen das ethnische Gefüge besonders bunt strukturiert und kompliziert ist und beim gegebenen Maßstab auch gar nicht erschöpfend dargestellt werden kann. Da es im Rahmen dieses Kommentars unmöglich ist, einen Überblick über die Fülle der ethnischen Abgrenzungen, Probleme und Minderheiten zu geben, soll an dieser Stelle eine knappe allgemeine Einführung und Begriffsbestimmung von Ethnizität als Politikfeld in Europa stehen. DAS NEUE, BUNTE EUROPA BESTEHT AUS 45 NATIONALSTAATEN, IN DENEN 141 VERSCHIEDENE ETHNISCHE MINDERHEITEN LEBEN. Vor 1989 waren es nur 31 Nationalstaaten. Also sind 14 Staaten, die sich national neu definieren müssen, aus der Konkursmasse des Ostblocks entstanden. Das Ende des Kommunismus in Osteuropa und die Kriege im zerfallenden Jugoslawien (ethnische Säuberungen) machten Begriffe wie Ethnizität und Migration breiten Teilen des übrigen Europas bewusst. IN EUROPA WERDEN ÜBER 100 VERSCHIEDENE SPRACHEN GESPROCHEN, REGIONALE DIALEKTE (WIE Z.B. BAYERISCH ODER ELSÄSSISCH) AUSGENOMMEN. Die heute in der täglichen politischen Debatte verwendeten Begriffe Nation und Ethnie (ethnisch) sind im modernen Sinn Schöpfungen des 18. und 19. Jh. Die Nation ist das Ergebnis einer ideengeschichtlichen Begriffsbildung, die im angelsächsischen Sinn eher den territorialen Herrschaftsverband samt ethnischen Unterschieden meint, im kontinentaleuropäischen Sinn eher die Kulturnation ausdrückt, wie sie durch gemeinsame Abstammung, Sprache, Kultur und vor allem Geschichte entstand. Einfach dargestellt, bedeutet Nation in der Regel ethnische Identität plus Zusammenschluss in einem Staat mit einem Staatsvolk, einem Staatsgebiet und einer Staatsgewalt. Die ethnische Identität wird durch die Ethnie selbst bestimmt und ist Ausdruck eines langfristig gewachsenen historischen Bewusstseins. Vielfach wurde und wird von den führenden Eliten versucht, bei Menschen einer Ethnie eine Kollektividentität zu erzeugen und dadurch die Bevölkerung für bestimmte politische Ziele zu mobilisieren. Zur Pflege der ethnischen Identität dienen viele Feste und auch die Nationalfeiertage, um ein geschichtliches Kollektivbewusstsein wachzuhalten (oder erst zu schaffen). So feiern etwa die Katalanen (eine Ethnie mit rund 9 Mio. Menschen) am 11. September die Niederlage des habsburgischen gegen den französischen Kandidaten im spanischen Erbfolgekrieg. Die Katalanen unterstützten den Habsburger, der ihnen Autonomie von Madrid verhieß. Der französische Sieger unterstellte daraufhin Katalanien streng dem spanischen Zentralismus. Die Serben begehen am 12. Juni ihre Niederlage gegen die Türken im Jahre 1389 auf dem Amselfeld im Kosovo, dem früheren Kerngebiet der Serben, das heute von später eingewanderten Albanern besiedelt ist. Der Tag der Niederlage gilt wie hier oft als Sinnstiftung ethnischer Identität. In Europa entwickelten sich territoriale Staatengebilde unabhängig davon, welche jeweiligen Völker dort lebten und welche Sprachen gesprochen wurden. Die Bevölkerung dieser Staaten war heterogen. So heterogen, dass auch die Nationalstaatenbildung des 19. und 20. Jh. keine ethnisch einheitlichen politischen Gebilde, sondern wiederum Staaten mit vielen Minderheiten schaffen konnte. Der Begriff Minderheit ist inhaltlich meist negativ besetzt, ethnische Minderheiten schaffen in der Regel Probleme. In Wirklichkeit ist es aber die Art und Weise, wie die ethnische Mehrheit mit Minderheiten politisch, sozial und ökonomisch umgeht, die Probleme schafft. Ethnische Minderheiten können nach folgenden Gesichtspunkten betrachtet und gegliedert werden: 1. o Nach der Entstehung Minderheiten haben sich auf verschiedene Weise gebildet. Sie entstanden durch Zuwanderung, Ansiedlung oder Kolonisation in einem bereits von anderen ethnischen Gruppen besiedelten Gebiet. Sie werden auch als (meist ältere) Migrationsminderheiten bezeichnet. Beispiele: Kroaten im Burgenland, Szekler (magyarische Volksgruppe) in Rumänien. o Ethnische Minderheiten sind auch plötzlich durch Änderungen von Staatsgrenzen, Grenzverschiebungen oder durch die Bildung neuer Staaten entstanden. Beispiel: Südtiroler in Italien, Ungarn in der Slowakei. 2. Nach dem Hauptmerkmal der ethnischen Identität: Zu den Hauptmerkmalen zählen Sprache (z.B. bei den Basken, Slowenen in Österreich), o o Religion (Muslime, Serbisch- Orthodoxe, Katholiken in Bosnien und Herzegowina) und o gemeinsames historisches Schicksal und Bewusstsein (z.B. Moldauer, Österreicher, Schweizer). 3. Nach der Verweildauer im heutigen Siedlungsraum „Autochthone“ Minderheiten sind schon seit vielen Generationen im heutigen Lebensraum ansässig, wie z.B. die Slowenen und Kroaten in Österreich oder die Bretonen in Frankreich. o o Junge allochthone Migrationsminderheiten hingegen leben erst seit kürzerer Zeit in ihrem heutigen Siedlungsraum und sind dabei, sich teilweise rasch zu assimilieren, wie z.B. Türken in Deutschland, Algerier in Frankreich oder Serben in Slowenien.