Volker Friebel Gräser am Wegrand Charakterisierung des Haiku Als ich in den sechziger Jahren Haiku zu lesen und zu schreiben begann, verbrachte ich etliche Wochen in einem Rausch. Ich sah, dass die Welt ihre Gedichte vergessen hatte: Sie lagen als Kiesel am Wegrand, wuchsen dort als Gras. Hubertus Thum Das Haiku hat sich in Japan vor ungefähr 500 Jahren aus der Kettendichtung (Renga) entwickelt. Damals trafen sich Dichter in geselliger Runde zum Schreiben etwa eines Kasen, eines 36-gliedrigen Kettengedichts, das festgelegten Themen und Verknüpfungsregeln folgte. Der erste Vers (das Hokku) wurde üblicherweise vom Leiter einer Zusammenkunft verfasst und meist wohl schon zum Treffen mitgebracht. So lässt sich gut vorstellen, wie mancher Dichter durch Wald und Flur streifend eine ganze Sammlung möglicher Anfangsverse anhäufte. Dieser Vers verselbstständigte sich schließlich als eigene literarische Form. Erster bedeutender und bis heute in Japan bedeutendster Autor dieser Form war Matsuo Bashô (1644-1694), aber erst Masaoka Shiki (1867-1902) prägte den Namen Haiku für dieses Gedicht. Das Haiku ist kurz. Die japanische Sprache basiert auf Lauteinheiten (Moren) gleicher Länge. Traditionelle japanische Haiku halten meist ein festes Schema solcher Lauteinheiten ein, geschrieben von oben nach unten in einer Spalte, wobei meist zwei Zäsuren erkennbar sind, der Text sich damit in drei Abschnitte von fünf, sieben und wieder fünf Lauteinheiten gliedert. Im zwanzigsten Jahrhundert haben sich auch freie Formen entwickelt, die ohne eine feste Gliederung nach Lauten bestehen. Die Kürze blieb beibehalten, sie ist auch bei der Übertragung ins Deutsche das wichtigste Merkmal. Die japanische Zählung der Lauteinheiten lässt sich allerdings nicht einfach auf deutsche Silben übertragen, da diese von wechselnder Länge sind und oft aus mehreren Moren bestehen (17 japanische Lauteinheiten entsprechen etwa 10 deutschen Silben). Nach verschiedenen Versuchen, ein ähnlich festes Schema in europäischen Sprachen zu finden, werden heute Haiku in westlichen Ländern meistens in freien Versen geschrieben, fast immer dreizeilig, mit etwa 10 bis 17 Silben, ohne Endreim. Das Haiku ist konkret und gegenwärtig. Es drückt fast immer ein beobachtbares Geschehen oder ein sinnenhaftes Erleben des Augenblicks aus. Gedanken oder Vorstellungen oder allgemeine zeitlose Betrachtungen werden im Haiku kaum thematisiert. Haiku konzentrieren sich also auf die Wahrnehmung einer übersehbaren Zeiteinheit, nicht auf Fantasien. Wenn gelegentlich von Vergangenheit oder Zukunft die Rede ist oder wenn reflektiert wird, vergegenwärtigt sich dies am konkreten Ort und in einer bestimmbaren Zeit. Häufig werden zur Herstellung dieser Gegenwärtigkeit Jahreszeitenwörter (Kigo) verwendet, Kirschblüten etwa, Walpurgisnacht, Astern, Eisblumen, Bratapfel. Das gelungene Haiku sagt nicht alles. Die Offenheit der Bilder, ihr Nachklang und der Verzicht des Verfassers auf Deutungen und Reflexionen, schaffen Raum für die Assoziationen des Lesers. Andeutungen und das Spiel mit Assoziationen sind auch in den meisten westlichen Gedichtformen wichtig, in vielen Haiku haben sie einen einzigartigen Stellenwert. Kürze, Konkretheit, Gegenwärtigkeit und Offenheit, das also sind die wichtigsten Merkmale des Haiku. Nach dem Vorbild französischer Übertragungen fand das Haiku damit schon in den 1920er Jahren Eingang in die deutsche Literatur, mit Versuchen von Franz Blei, Yvan Goll und Rainer Maria Rilke. Lange Zeit führte es ein Schattendasein und galt als exotisches Spiel. Das hat sich geändert, es ist bei uns heimisch geworden. Heute ist das Haiku fast über die ganze Welt verbreitet und auch im deutschsprachigen Raum eine zunehmend verwendete Gedichtform. Wie sich die Welt darbietet, in allen Facetten, wie sie etwas von ihrem durch eingefahrene Weisen der Wahrnehmung und des Erlebens verschütteten Wesen aufschimmern lässt, in den gewöhnlichen und alltäglichen Gegenständen und dem, was sich fortwährend ganz unspektakulär einfach ereignet, das können wir im Haiku erleben – ob im überfüllten Zug oder unter dem Baumhaus, ob vor den Einmachgläsern in der Vorratskammer oder Pixel vor Augen nach Feierabend am Bildschirm, oder einfach am Wegrand, bei Kiesel und Gras. Hans-Peter Kraus Haiku schreiben Wenn du mich fragst, und du fragst mich gerade, wie man ein Haiku schreibt, dann würde ich in aller Kürze folgendes sagen: Beschreibe in drei Zeilen mit insgesamt höchstens 17 Silben (1) ein Ereignis aus deiner Lebensumwelt (2), das bei dir einen Gedankenblitz (3) ausgelöst hat. Stelle dem Leser das Ereignis unmittelbar hin, so dass er es für sich nachvollziehen kann. Nutze dafür das Präsens und eine einfache, konkrete Sprache (4). Lass dem Leser die Möglichkeit, sich seine eigenen Gedanken zu machen. Verzichte auf wertende Ausdrücke und abschließende Kommentare (5). Wenn dir das nicht reicht, dann hab ich hier jede Menge Erläuterungen anzubieten. Und für den Fall, dass dich die Vielzahl der Tu-dies und Lass-das verwirrt, gibt's noch drei Tipps zum Schluss. (1) 17 Silben Praktisch alle Haiku-Einführungen beginnen mit dem wohlbekannten Satz „Ein Haiku besteht aus drei Zeilen mit der Silbenfolge 5-7-5.“ Tja, wir müssen jetzt alle ganz tapfer sein, es heißt Abschied nehmen: Ein deutschsprachiger Text bestehend aus 5 Silben in der ersten, 7 Silben in der zweiten und 5 Silben in der dritten Zeile ist kein Haiku. Was ich damit sagen will: 1. Ein Text im 5-7-5-Silbenrhythmus kann ein Haiku sein, muss aber nicht. Ob's ein Haiku ist, hängt vom Inhalt ab. 2. Du musst dich nicht sklavisch an die Silbenzählung halten. Es ist unnötig, Worte zu verstümmeln oder künstlich zu verlängern, um die 17er-Vorgabe zu erfüllen. Von grammatikalischen Neuerungen und der Nutzung von Füllwörtern ganz zu schweigen. Nun magst du Punkt 1 noch einsehen, aber bei Punkt 2 lehnst du vielleicht dankend ab, weil das Kunststück, diese seltsame Regel einzuhalten, sehr faszinierend ist. Schließlich haben sich die Japaner Jahrhunderte lang daran gehalten. Abgesehen davon, dass dieses Kunststück auch Schulkinder vollbringen können, heißt es nochmal Abschied nehmen: Kein Japaner hat jemals Silben gezählt. Wenn sie überhaupt etwas gezählt haben, dann waren es die japanischen Laute ihrer Texte. Was soll das nun wieder heißen? Die japanische Sprache hat einen festen Vorrat an Lauten bestehend aus Vokalen (a,e,i,o,u), unteilbaren Konsonant-Vokal-Verbindungen (shi, ka, wo u.a.) und dem Einzelkonsonanten N. Was in der transkribierten Form wie eine Silbe aussieht, hat nichts mit der Silbenbildung westlicher Sprachen zu tun. So hat zum Beispiel das Wort London zwei Silben, aber vier japanische Laute: Lo-n-do-n, und nur diese zählen beim japanischen Haiku. Wer also ehrwürdigen japanischen Traditionen folgen wollte, müsste Laute statt Silben zählen, mit fatalen Konsequenzen: „Ein Regentropfen“ hat fünf Silben, aber gnädig gezählt neun Laute. Die scheinbar traditionellen Formen folgende Silbenregel ist ein Hilfskonstrukt, das vielleicht aufgrund von Missverständnissen, vielleicht aus Bequemlichkeit so ins Deutsche übertragen wurde. Die japanische Tradition, Gedichte in 5er- und 7erLautgruppen zu schreiben, ist gegründet auf den Eigenarten der japanischen Sprache. Das Deutsche hat völlig andere Eigenarten. Welche Form dem deutschsprachigen Haiku angemessen ist, bleibt eine offene Frage. Mein Vorschlag ist, drei Zeilen mit ungefähr (tendenziell weniger als) 17 Silben zu schreiben (dazu noch ein Anhang). Die Zeilenlängen sollten vom Sprachrhythmus abhängen, den der Text verlangt, nicht von der Silben-Imitation eines japanischen Lautfolge-Rhythmus, den es im Deutschen nicht gibt. (2) Lebensumwelt Das zweite Stichwort ist beim Haiku immer „Die Natur“. Die Arbeitsdefinition der Natur scheint zu sein: alles was grün ist, blüht oder sonstwie lebt plus das Wasser vom Himmel, aber nicht der Mensch. Eine Straßenbahn voller Menschen ist keine Natur. Eine Straßenbahn voller Menschen und draußen schneit's ist Natur. Seltsam. Ich meine, so selbstverständlich wie die Japaner des 17. Jahrhunderts über die Natur geschrieben haben, so selbstverständlich ist es für einen Menschen des 21. Jahrhunderts über das Leben in der Stadt oder mit den Massenmedien zu schreiben. Wichtiger als die Frage „Natur oder nicht Natur?“ ist die Unterscheidung innen und außen, allgemein und speziell. Nicht gefragt sind Beschreibungen aus dem Innenleben oder allgemeine Betrachtungen über den Zustand der Welt. Gefragt sind einzelne Ereignisse, die erlebt oder vorgestellt sein können. Trotzdem bleibt „Die Natur“ ein Thema, das viele Chancen bietet. Die Beschäftigung mit der Natur lenkt vom Hineinhorchen in sich selbst ab. Die Einbeziehung der Jahreszeit erleichtert es, die Grundstimmung eines Haiku festzulegen und dem Leser ein schärferes Bild vor Augen zu führen. Ob der Regen ein Frühlings- oder Herbstregen, oder ob ein Wald winterlich oder sommerlich ist, macht einen gewaltigen Unterschied. (3) Der Blitz Blitz, Zen, Erleuchtung, Mystik, Quatsch. Wie immer beim Haiku ist alles ganz einfach. Wenn du den Kopf frei hast und bereit bist zu sehen, zu hören, zu fühlen und zu schmecken, dann sammelst du ganz von selbst eine Unmenge von Eindrücken. Die meisten vergisst du gleich wieder, aber einige wenige bleiben hängen. Davon wiederum führen einige Eindrücke dazu, dass in dir plötzlich eine Erkenntnis, ein Gefühl oder eine Frage aufflammt. Der Blitz. Im Haiku gibst du die Sinneseindrücke wieder, die etwas bei dir ausgelöst haben. Das können auch Szenen sein, die nur in deinem Kopf entstanden sind, ausgelöst durch eine Beobachtung oder Erinnerung. Und natürlich musst du manches Ereignis frisieren, um es an die Kürze eines Haiku anzupassen oder um dem Leser eine Chance zu geben, zu erahnen, was der beschriebene Augenblick bei dir ausgelöst hat. (4) Einfach sein Die Kunst bei einem Haiku besteht darin, einen Augenblick so komprimiert zu beschreiben, dass der Leser in ungefähr 17 Silben genug Details erfährt, um sich die Situation vor dem geistigen Auge vergegenwärtigen zu können. Die Kunst eines Haiku besteht auch darin, den Leser gar nicht merken zu lassen, dass Kunst, die von Können kommt, mit im Spiel ist. Meiner Meinung nach sollte das Haiku im Vordergrund stehen, nicht der Haiku-Schreiber. Ein Haiku ist nicht dafür da, zu zeigen, wie clever jemand mit Sprache umgehen kann. Folglich sollte ein HaikuSchreiber weitgehend auf Stilmittel wie Metaphern, Vergleiche oder eine verschlüsselnde Bildersprache verzichten, weil er sich damit vor sein Haiku stellt. Mit diesem Verzicht gewinnt das Haiku einen spontanen und authentischen Eindruck. Es ist nicht mehr der Text eines mehr oder weniger bekannten Dichters, es wird zum Augenblick, den der Leser selbst erlebt. Ein Tipp: Um festzustellen, ob der beschriebene Augenblick für einen Leser nachvollziehbar ist, lass das Haiku ein paar Wochen liegen. Dadurch bekommst du selbst einen fremden Blick und kannst dein Haiku besser einschätzen. (5) Sag's nicht Ein Haiku soll sich im Leser entfalten, es soll offen sein für seine Gedanken und Assoziationen. Die Kunst des Nicht-sagens macht ein Haiku zu einem guten Haiku. Die verführerischste Versuchung ist, ein Haiku in der dritten Zeile mit einem Kommentar abzuschließen. Dieses Abschließen reduziert ein Haiku auf drei Zeilen Lesetext, dabei lebt ein Haiku davon, nach drei Zeilen überhaupt erst anzufangen. Um dem Leser zu helfen, ohne ihm eine Wertung vorzukauen, ist das wichtigste Stilmittel, zwei scheinbar unverbundene Bilder nebeneinander zu setzen. Ein Beispiel: Mein Hund erschnüffelt / den Weg – liest Neuigkeiten / aus der Nachbarschaft. Mein Hund erschnüffelt / den Weg – Drüben der Nachbar / holt die Zeitung rein. Version 1 erklärt die Idee, die ein Hundehalter hatte, als er seinen Hund beim Morgengang beobachtete. Version 2 überlässt es dem Leser, die Bilder zu verbinden. Vielleicht entdeckt der Leser den Gedankengang für sich selbst, vielleicht entdeckt er etwas anderes. Bei Version 1 bleibt das Haiku im Besitz des Schreibenden. Bei Version 2 gehört es dem Leser. Und so soll es auch sein, denn ein Haiku ist ein Geschenk. Der Leser soll es in Ruhe auspacken und nicht schon vorher wissen, was drin ist. Drei Tipps zum Schluss Es ist keine gute Idee, sich beim Haikuschreiben aufs Silbenzählen und seine eigene Sprachkunst zu verlassen, ohne sich mit den Haikuregeln auseinandergesetzt zu haben. Dabei kommen meist mehr oder weniger geistreiche Kurztexte heraus, die halt diesen komischen Silbenrhythmus haben. Trotzdem können die vielen Regeln verwirren und sich als Ballast erweisen. Deshalb zum Schluss drei einfache Tipps: Es ist schwer, eine Sprache zu sprechen, wenn man sich zu sehr auf die grammatikalischen Regeln konzentrieren muss, deshalb: Lerne die Regeln so gut, dass du sie vergessen kannst. Es ist schwer, die Welt auf sich einwirken zu lassen, wenn man zu sehr mit den eigenen Wünschen beschäftigt ist, deshalb: Vergiss, dass du ein Haiku schreiben willst. Es ist schwer, etwas zu vergessen, wenn man zu sehr daran denkt, etwas vergessen zu müssen, deshalb: Vergiss, dass es etwas zu vergessen gibt. Anhang Wieviel Silben braucht ein Haiku „Mein Vorschlag ist, drei Zeilen mit ungefähr (tendenziell weniger als) 17 Silben zu schreiben.“ Wie komme ich darauf? Als Anhaltspunkt für die Länge eines deutschsprachigen Haiku habe ich die Zahl der Silben genommen, die für eine ordentliche Übersetzung von japanischen Haiku gebraucht werden. Leider wollen fast alle Übersetzer von japanischen Haikusammlungen dem deutschen Leser glauben machen, dass die 5-7-5-Form exakt auch im Deutschen passt. Schaut man sich aber diese Übersetzungen genauer an, findet man viele gnadenlos gestauchte oder gestreckte Texte, manche gar bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Dietrich Krusche ist der einzige mir bekannte Übersetzer einer größeren Sammlung von japanischen Haiku, der mutig genug war, sich diesem Trend zur Folterung von Originalen im Namen der heiligen Form zu widersetzen. Sein Ansatz lautete: „Eine Übersetzung, die im Deutschen die Silbenzahl siebzehn trifft, ist gar nicht versucht worden. Versucht worden ist allerdings eine Beibehaltung der Kürze des Haiku; in diesem quantitativen Sinn ist über den Wortbestand der Haiku nicht hinausgegangen worden. Die Zeileneinteilung folgt der inneren Struktur der Haiku, wie sie sich dem Übersetzer – unter Berücksichtigung der Gegebenheiten der deutschen Sprache – darstellt.“ (Dietrich Krusche: Haiku. Dtv, München, 1994, Seite 145f.) Ich habe die Silbenzahl aller 152 von ihm übersetzten Haiku ausgewertet. Das Ergebnis: Zwei Drittel der Übersetzungen hatten 14 bis 18 Silben, 90 Prozent lagen in der Bandbreite von 13 bis 20 Silben. Der gewichtete Durchschnitt betrug 16,3 Silben. So ganz daneben liegt man im Deutschen also nicht mit 17 Silben, aber es darf durchaus etwas weniger und variabler sein. Mit Silbenzählen allein ist es allerdings nicht getan. Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen den sogenannten Silben japanischer Art und den deutschen. Die japanischen Laute, die wir als Silben bezeichnen, sind eigentlich unseren Buchstaben näher verwandt als den Silben. Wenn man das deutsche Alphabet aufsagt, so verbraucht jeder Buchstabe etwa die gleiche Zeitspanne (bis auf das rebellische Ypsilon). Dies gilt grundsätzlich auch für die japanischen Lautsilben, ob a oder u, ob kya oder kyu, die Lese- oder Sprechzeit ist für jede Lautsilbe in etwa gleich. Bei den deutschen Silben ist das jedoch völlig anders: a ist eine Silbe, au ist eine, lau ist auch eine, sogar lauch ist eine, schlauch ebenso und als längste aller Silben hab ich schlauchst zu bieten wie in „Mit dieser Aufzählerei schlauchst du mich ganz schön“. Während also im Japanischen mit den 17 Lautsilben in ihrer Verteilung zu Gruppen von 5, 7, 5 Lauten ein ungefährer Zeittakt beim Lesen oder Sprechen vorgegeben wird, ist im Deutschen die Übertragung dieser Zahlen in Silben völlig taktlos. Zwei Groteskbeispiele: Knisterndes Feuer. Ein Schlauch wälzt sich durch Flussschlamm. Lilienblüten. Rauch quillt aus dem Wald. Die Lilien in Blüte. Ein Schlauch im Flussschlamm. Inhaltlich nicht weiter ernst zu nehmen, halten sich beide Texte streng ans 5-7-5Schema. Diese Beispiele sollen auch nur verdeutlichen, dass es allein mit dem Zählen von Silben im Deutschen nicht getan ist, man muss auch darauf achten, mit welchem Gewicht Silben daherkommen. Da kann ein 19-Silber durchaus der Kürze eines japanischen Haiku entsprechen, während ein 15-Silber viel zu sperrig wirkt. Wer sich an die Vorgabe von ungefähr 17 Silben, tendenziell weniger hält, gewinnt eine Freiheit, die es ermöglicht, Haiku zu schreiben, die an die Leichtigkeit japanischer Texte heranreichen. Wer die japanische Formstrenge auch im Deutschen umsetzen möchte, dem würde ich vorschlagen, sich darauf zu konzentrieren, seine Haiku so knapp wie möglich zu formulieren, um dadurch einer sprachlichen Disziplinierung Rechnung zu tragen. Der Aufsatz erschien erstmals 2000 auf HaikuHaiku.de. Aktuell 04.09.2003 auf www.Haiku-heute.de Alle Rechte bei Hans-Peter Kraus, Essen Beispielhafte deutschsprachige Haiku In zufälliger Reihenfolge Stromausfall. In der Wohnung des Nachbarn spielt jemand Klavier. Sigrid Baurmann Windstille. Vom Ruderblatt tropft der Abendhimmel. Hubertus Thum im drehkreuz zur vollzugsanstalt eine sonnenblume Mario Fitterer Sonnenuntergang. Die leuchtenden Gesichter verblassen wieder. Udo Wenzel keine Worte für das Licht, das mich streifte Michael Denhoff Allein gewandert. Am Abend der fremde Klang meiner Stimme Jochen Hahn-Klimroth Friedhofsbrunnen – das Wasser nimmt Erde mit von meinen Händen Arno Herrmann Beim Schlüsseldienst Luigi erzählt mir von der Sonne Siziliens Andreas Marquardt Schlaflos – auf dem Kissen neben mir Mondlicht Roswitha Erler Zwischen Amselstrophen die Tiefe. Mairegen. Volker Friebel Glockengießerei. Vor der Klangprobe den Atem anhalten Angelika Wienert kein Strafzettel Herbstblätter Martin Berner Früher Fang. Dieses Glitzern – wie es zurückperlt ins Meer Wolfgang Beutke Behutsam meine Hand über deine – ein Schmetterling Claudia Brefeld Auf dem Kunstmarkt – ein Portraitmaler zeichnet mein zweites Gesicht Andrea D'Alessandro „Die ewig alten Geschichten", schreit sie. Draußen fällt Schnee. Marianne Kunz wintergewitter – vor seiner berührung die augen schließen Ramona Linke Erster Januar. In einem Schminktischspiegel die offene Tür. Horst Ludwig Beim Entwirren des Wollknäuels eine Bach-Fuge Rudi Pfaller Kindereisenbahn Opas Zigarrenstummel qualmt im Schornstein Werner Reichhold Geständnis – die Worte werden genauer im Dunkeln Kerstin Scharmberg der alte Hippie – Wind streicht über sein Herz von Wiesenblumen Helga Stania die welt neu ordnen beim sortieren der bücher in meinem regal Heinz Wöllner Wieder verschont – Jetzt bekommt die Fliege einen Namen! Ina Müller-Velten Wolken am Hügel – der Hund des Schäfers treibt sie höher und höher. Reiner Bonack Zwischen Farbkübeln das Weiß der Orchidee Ruth Franke irgendwo musik dem alten quadrillehengst zucken die ohren Eckhard Erxleben Winterabend mit kleinen Stichen kehrt das Lächeln der Puppe zurück Ingrid Kunschke Allein – ihre Winterdecke noch über meine Jörg Rakowski Herbstsonne – an den Bäumen entlang über die Schatten springen Gerd Börner novembersonne gelb leuchten die blätter auf eh sie verlöschen René Possél SMS – mit dem Finger die Lüge wegdrücken Christa Beau Trauerfall – als erstes schneidet sie die Zwiebeln Luise Eilers Pflaumenblüten – einen Atemzug lang steht der Verkehr still Georg Flamm Gewitterluft der Hofhund knurrt seinen Schatten an Gabriele Reinhard Shinkansen – Nach dem Tunnel rast das Licht durch die Waggons. Klaus-Dieter Wirth Die Fähre legt ab. Möwenschwärme zwischen dir und mir. Hans Lesener Abendstunde – im Klang der Gläser ein neuer Ton Ilse Jacobson Reiseschach – ein Jeansknopf ersetzt den fehlenden König Gerhard Winter Mond auf dem See – ein Fisch zupft Wellenringe Norbert Stein ihre sms fliederduft Dietmar Tauchner Der Entwurf auf dem Schreibtisch. Mein Chef zerklatscht Fliegen. Beate Conrad aufschauen von seinem Ringfinger – ein Schwarm Zugvögel Claudia Melchior Frühlingsanfang – der alte Dackel springt über den Graben ... Silvia Kempen Zusammenstellung im März 2008 durch Volker Friebel für eine Pressedarstellung zum Haiku. Alle Autoren haben ihr Einverständnis für eine unentgeltliche Weiterverbreitung ihres Textes in Zeitungen, Zeitschriften und Online-Publikationen zur Berichterstattung über das Haiku gegeben. Bedingung ist die Nennung des jeweiligen Autors zum Text. Eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Für die Aufnahme von Haiku in Anthologien oder für die Verwendung in anderen Zusammenhängen muss die Erlaubnis der Autoren eingeholt werden. Autoren können dazu über [email protected] kontaktiert werden. Die Zusammenstellung war erstmals am Fr. 21. März 2008 im Rahmen der Pressedarstellung im Netz. Lieber Ralf, manchmal meint man etwas Bestimmtes gelesen zu haben und plötzlich muss man erkennen, dass es zwar irgendwie zu dem von Dir nachgefragten Thema (Haiku mit Kindern) passt, dann aber doch am geforderten Thema vorbei geht, weil es sich um das von der französischen Haiku-Gesellschaft für 2013 vorgeschlagene Projekt (Ein Haiku-Buch für die Altersklasse der 7 bis 13jährigen) handelt. Und trotzdem. Ich erinnere mich an eine linke Seite, geschrieben von Isabel Asunsolo. Nach dreimaliger Suche jetzt das Ergebnis, das vielleicht für Dich etwas ernüchternd klingt, weil es Dir vielleicht zu einfach erscheint und nur eine mögliche Vorgehensweise. Für Kinder mag es aber eher logisch erscheinen. Nachfolgend der Text: Um ein Haiku zu schreiben, muss man intelligent sein: man muss vergessen was man weiß. Du sollst schauen, hören und die Dinge einfach benennen. Du darfst nichts erfinden. Das ist es, was ich den Kindern in den Schulen sage, wenn ich ihnen „unser kleines Gedicht“ nahe bringe. Sie sind daran gewöhnt „in ihren Köpfen auf eine Reise zu gehen“, aus ihren Vorstellungen zu schöpfen (dort begegnen sie oft Schriftstellern und Erzählern), sodass die Schüler mit ihrem Latein ziemlich am Ende sind, wenn sie versuchen ihr erstes Haiku zu schreiben. Schaut aus dem Fenster. Was seht ihr da? Seemöwen… Was machen die ? Es sind Seemöwen, die ihre Jungen im Nest füttern, weil es Frühling ist. Das ist es was ihr seht? Betrachtet die Bäume. Es sind Birken. Sie haben noch keine Blätter. Es ist Winter. Sehr gut. Betrachtet nun das weiße Gebäude gegenüber. Die Fenster…. Was seht ihr? Da hängt ein blaues Betttuch, zum Trocknen aufgehängt …. Richtig. Schon hätten wir das erste Haiku: Die Bäume haben keine Blätter und da hängt ein weiß-blaues Betttuch vor dem Fenster. Es ist das Betttuch, das euch vom Wechsel der Jahreszeit erzählen will. Etwas Neues, das sich vorbereitet. Birken ohne Blätter Ein blaues Betttuch am Fenster …… Für die dritte Zeile könnt ihr etwas wählen, was ihr favorisiert: Das Ende des Winters oder Der Frühling kommt oder irgendetwas anderes. Das war also die französische Variante. Im Grunde genonmmen müssen die Lehrer nur das Notwendigste zum Haiku kennen und alles andere mit pädagogischer Kompetenz erledigen. Das Arbeiten mit den Schülern kann ihnen niemand abnehmen. Und da sind sie Möglichkeiten sicherlich so zahlreich, dass die sich sicherlich nicht gern etwas vorschreiben lassen. Mit gleicher Post habe ich bei Claudia nachgefragt, ob sie eventuell weiteres Material zur Verfügung stellen kann. Liebe Grüße Georges