Gräser am Wegrand - Deutsche Haiku Gesellschaft

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Volker Friebel
Gräser am Wegrand
Charakterisierung des Haiku
Als ich in den sechziger Jahren Haiku zu lesen und zu schreiben begann, verbrachte ich
etliche Wochen in einem Rausch. Ich sah, dass die Welt ihre Gedichte vergessen hatte: Sie
lagen als Kiesel am Wegrand, wuchsen dort als Gras.
Hubertus Thum
Das Haiku hat sich in Japan vor ungefähr 500 Jahren aus der Kettendichtung
(Renga) entwickelt. Damals trafen sich Dichter in geselliger Runde zum Schreiben
etwa eines Kasen, eines 36-gliedrigen Kettengedichts, das festgelegten Themen und
Verknüpfungsregeln folgte. Der erste Vers (das Hokku) wurde üblicherweise vom
Leiter einer Zusammenkunft verfasst und meist wohl schon zum Treffen mitgebracht.
So lässt sich gut vorstellen, wie mancher Dichter durch Wald und Flur streifend eine
ganze Sammlung möglicher Anfangsverse anhäufte. Dieser Vers verselbstständigte
sich schließlich als eigene literarische Form. Erster bedeutender und bis heute in
Japan bedeutendster Autor dieser Form war Matsuo Bashô (1644-1694), aber erst
Masaoka Shiki (1867-1902) prägte den Namen Haiku für dieses Gedicht.
Das Haiku ist kurz. Die japanische Sprache basiert auf Lauteinheiten (Moren)
gleicher Länge. Traditionelle japanische Haiku halten meist ein festes Schema
solcher Lauteinheiten ein, geschrieben von oben nach unten in einer Spalte, wobei
meist zwei Zäsuren erkennbar sind, der Text sich damit in drei Abschnitte von fünf,
sieben und wieder fünf Lauteinheiten gliedert. Im zwanzigsten Jahrhundert haben
sich auch freie Formen entwickelt, die ohne eine feste Gliederung nach Lauten
bestehen. Die Kürze blieb beibehalten, sie ist auch bei der Übertragung ins Deutsche
das wichtigste Merkmal. Die japanische Zählung der Lauteinheiten lässt sich
allerdings nicht einfach auf deutsche Silben übertragen, da diese von wechselnder
Länge sind und oft aus mehreren Moren bestehen (17 japanische Lauteinheiten
entsprechen etwa 10 deutschen Silben). Nach verschiedenen Versuchen, ein ähnlich
festes Schema in europäischen Sprachen zu finden, werden heute Haiku in
westlichen Ländern meistens in freien Versen geschrieben, fast immer dreizeilig, mit
etwa 10 bis 17 Silben, ohne Endreim.
Das Haiku ist konkret und gegenwärtig. Es drückt fast immer ein beobachtbares
Geschehen oder ein sinnenhaftes Erleben des Augenblicks aus. Gedanken oder
Vorstellungen oder allgemeine zeitlose Betrachtungen werden im Haiku kaum
thematisiert. Haiku konzentrieren sich also auf die Wahrnehmung einer
übersehbaren Zeiteinheit, nicht auf Fantasien. Wenn gelegentlich von Vergangenheit
oder Zukunft die Rede ist oder wenn reflektiert wird, vergegenwärtigt sich dies am
konkreten Ort und in einer bestimmbaren Zeit. Häufig werden zur Herstellung dieser
Gegenwärtigkeit Jahreszeitenwörter (Kigo) verwendet, Kirschblüten etwa,
Walpurgisnacht, Astern, Eisblumen, Bratapfel.
Das gelungene Haiku sagt nicht alles. Die Offenheit der Bilder, ihr Nachklang und der
Verzicht des Verfassers auf Deutungen und Reflexionen, schaffen Raum für die
Assoziationen des Lesers. Andeutungen und das Spiel mit Assoziationen sind auch
in den meisten westlichen Gedichtformen wichtig, in vielen Haiku haben sie einen
einzigartigen Stellenwert.
Kürze, Konkretheit, Gegenwärtigkeit und Offenheit, das also sind die wichtigsten
Merkmale des Haiku. Nach dem Vorbild französischer Übertragungen fand das Haiku
damit schon in den 1920er Jahren Eingang in die deutsche Literatur, mit Versuchen
von Franz Blei, Yvan Goll und Rainer Maria Rilke. Lange Zeit führte es ein
Schattendasein und galt als exotisches Spiel. Das hat sich geändert, es ist bei uns
heimisch geworden. Heute ist das Haiku fast über die ganze Welt verbreitet und auch
im deutschsprachigen Raum eine zunehmend verwendete Gedichtform.
Wie sich die Welt darbietet, in allen Facetten, wie sie etwas von ihrem durch
eingefahrene Weisen der Wahrnehmung und des Erlebens verschütteten Wesen
aufschimmern lässt, in den gewöhnlichen und alltäglichen Gegenständen und dem,
was sich fortwährend ganz unspektakulär einfach ereignet, das können wir im Haiku
erleben – ob im überfüllten Zug oder unter dem Baumhaus, ob vor den
Einmachgläsern in der Vorratskammer oder Pixel vor Augen nach Feierabend am
Bildschirm, oder einfach am Wegrand, bei Kiesel und Gras.
Hans-Peter Kraus
Haiku schreiben
Wenn du mich fragst, und du fragst mich gerade, wie man ein Haiku schreibt, dann
würde ich in aller Kürze folgendes sagen:
Beschreibe in drei Zeilen mit insgesamt höchstens 17 Silben (1) ein Ereignis aus
deiner Lebensumwelt (2), das bei dir einen Gedankenblitz (3) ausgelöst hat. Stelle
dem Leser das Ereignis unmittelbar hin, so dass er es für sich nachvollziehen kann.
Nutze dafür das Präsens und eine einfache, konkrete Sprache (4). Lass dem Leser
die Möglichkeit, sich seine eigenen Gedanken zu machen. Verzichte auf wertende
Ausdrücke und abschließende Kommentare (5).
Wenn dir das nicht reicht, dann hab ich hier jede Menge Erläuterungen anzubieten.
Und für den Fall, dass dich die Vielzahl der Tu-dies und Lass-das verwirrt, gibt's noch
drei Tipps zum Schluss.
(1) 17 Silben
Praktisch alle Haiku-Einführungen beginnen mit dem wohlbekannten Satz „Ein Haiku
besteht aus drei Zeilen mit der Silbenfolge 5-7-5.“ Tja, wir müssen jetzt alle ganz
tapfer sein, es heißt Abschied nehmen: Ein deutschsprachiger Text bestehend aus 5
Silben in der ersten, 7 Silben in der zweiten und 5 Silben in der dritten Zeile ist kein
Haiku.
Was ich damit sagen will:
1. Ein Text im 5-7-5-Silbenrhythmus kann ein Haiku sein, muss aber nicht. Ob's ein
Haiku ist, hängt vom Inhalt ab.
2. Du musst dich nicht sklavisch an die Silbenzählung halten. Es ist unnötig, Worte
zu verstümmeln oder künstlich zu verlängern, um die 17er-Vorgabe zu erfüllen. Von
grammatikalischen Neuerungen und der Nutzung von Füllwörtern ganz zu
schweigen.
Nun magst du Punkt 1 noch einsehen, aber bei Punkt 2 lehnst du vielleicht dankend
ab, weil das Kunststück, diese seltsame Regel einzuhalten, sehr faszinierend ist.
Schließlich haben sich die Japaner Jahrhunderte lang daran gehalten. Abgesehen
davon, dass dieses Kunststück auch Schulkinder vollbringen können, heißt es
nochmal Abschied nehmen: Kein Japaner hat jemals Silben gezählt. Wenn sie
überhaupt etwas gezählt haben, dann waren es die japanischen Laute ihrer Texte.
Was soll das nun wieder heißen?
Die japanische Sprache hat einen festen Vorrat an Lauten bestehend aus Vokalen
(a,e,i,o,u), unteilbaren Konsonant-Vokal-Verbindungen (shi, ka, wo u.a.) und dem
Einzelkonsonanten N. Was in der transkribierten Form wie eine Silbe aussieht, hat
nichts mit der Silbenbildung westlicher Sprachen zu tun. So hat zum Beispiel das
Wort London zwei Silben, aber vier japanische Laute: Lo-n-do-n, und nur diese
zählen beim japanischen Haiku. Wer also ehrwürdigen japanischen Traditionen
folgen wollte, müsste Laute statt Silben zählen, mit fatalen Konsequenzen: „Ein
Regentropfen“ hat fünf Silben, aber gnädig gezählt neun Laute.
Die scheinbar traditionellen Formen folgende Silbenregel ist ein Hilfskonstrukt, das
vielleicht aufgrund von Missverständnissen, vielleicht aus Bequemlichkeit so ins
Deutsche übertragen wurde. Die japanische Tradition, Gedichte in 5er- und 7erLautgruppen zu schreiben, ist gegründet auf den Eigenarten der japanischen
Sprache. Das Deutsche hat völlig andere Eigenarten. Welche Form dem
deutschsprachigen Haiku angemessen ist, bleibt eine offene Frage. Mein Vorschlag
ist, drei Zeilen mit ungefähr (tendenziell weniger als) 17 Silben zu schreiben (dazu
noch ein Anhang). Die Zeilenlängen sollten vom Sprachrhythmus abhängen, den der
Text verlangt, nicht von der Silben-Imitation eines japanischen Lautfolge-Rhythmus,
den es im Deutschen nicht gibt.
(2) Lebensumwelt
Das zweite Stichwort ist beim Haiku immer „Die Natur“. Die Arbeitsdefinition der
Natur scheint zu sein: alles was grün ist, blüht oder sonstwie lebt plus das Wasser
vom Himmel, aber nicht der Mensch. Eine Straßenbahn voller Menschen ist keine
Natur. Eine Straßenbahn voller Menschen und draußen schneit's ist Natur. Seltsam.
Ich meine, so selbstverständlich wie die Japaner des 17. Jahrhunderts über die Natur
geschrieben haben, so selbstverständlich ist es für einen Menschen des 21.
Jahrhunderts über das Leben in der Stadt oder mit den Massenmedien zu schreiben.
Wichtiger als die Frage „Natur oder nicht Natur?“ ist die Unterscheidung innen und
außen, allgemein und speziell. Nicht gefragt sind Beschreibungen aus dem
Innenleben oder allgemeine Betrachtungen über den Zustand der Welt. Gefragt sind
einzelne Ereignisse, die erlebt oder vorgestellt sein können.
Trotzdem bleibt „Die Natur“ ein Thema, das viele Chancen bietet. Die Beschäftigung
mit der Natur lenkt vom Hineinhorchen in sich selbst ab. Die Einbeziehung der
Jahreszeit erleichtert es, die Grundstimmung eines Haiku festzulegen und dem Leser
ein schärferes Bild vor Augen zu führen. Ob der Regen ein Frühlings- oder
Herbstregen, oder ob ein Wald winterlich oder sommerlich ist, macht einen
gewaltigen Unterschied.
(3) Der Blitz
Blitz, Zen, Erleuchtung, Mystik, Quatsch. Wie immer beim Haiku ist alles ganz
einfach. Wenn du den Kopf frei hast und bereit bist zu sehen, zu hören, zu fühlen
und zu schmecken, dann sammelst du ganz von selbst eine Unmenge von
Eindrücken. Die meisten vergisst du gleich wieder, aber einige wenige bleiben
hängen. Davon wiederum führen einige Eindrücke dazu, dass in dir plötzlich eine
Erkenntnis, ein Gefühl oder eine Frage aufflammt. Der Blitz.
Im Haiku gibst du die Sinneseindrücke wieder, die etwas bei dir ausgelöst haben.
Das können auch Szenen sein, die nur in deinem Kopf entstanden sind, ausgelöst
durch eine Beobachtung oder Erinnerung. Und natürlich musst du manches Ereignis
frisieren, um es an die Kürze eines Haiku anzupassen oder um dem Leser eine
Chance zu geben, zu erahnen, was der beschriebene Augenblick bei dir ausgelöst
hat.
(4) Einfach sein
Die Kunst bei einem Haiku besteht darin, einen Augenblick so komprimiert zu
beschreiben, dass der Leser in ungefähr 17 Silben genug Details erfährt, um sich die
Situation vor dem geistigen Auge vergegenwärtigen zu können.
Die Kunst eines Haiku besteht auch darin, den Leser gar nicht merken zu lassen,
dass Kunst, die von Können kommt, mit im Spiel ist. Meiner Meinung nach sollte das
Haiku im Vordergrund stehen, nicht der Haiku-Schreiber. Ein Haiku ist nicht dafür da,
zu zeigen, wie clever jemand mit Sprache umgehen kann. Folglich sollte ein HaikuSchreiber weitgehend auf Stilmittel wie Metaphern, Vergleiche oder eine
verschlüsselnde Bildersprache verzichten, weil er sich damit vor sein Haiku stellt. Mit
diesem Verzicht gewinnt das Haiku einen spontanen und authentischen Eindruck. Es
ist nicht mehr der Text eines mehr oder weniger bekannten Dichters, es wird zum
Augenblick, den der Leser selbst erlebt.
Ein Tipp: Um festzustellen, ob der beschriebene Augenblick für einen Leser
nachvollziehbar ist, lass das Haiku ein paar Wochen liegen. Dadurch bekommst du
selbst einen fremden Blick und kannst dein Haiku besser einschätzen.
(5) Sag's nicht
Ein Haiku soll sich im Leser entfalten, es soll offen sein für seine Gedanken und
Assoziationen. Die Kunst des Nicht-sagens macht ein Haiku zu einem guten Haiku.
Die verführerischste Versuchung ist, ein Haiku in der dritten Zeile mit einem
Kommentar abzuschließen. Dieses Abschließen reduziert ein Haiku auf drei Zeilen
Lesetext, dabei lebt ein Haiku davon, nach drei Zeilen überhaupt erst anzufangen.
Um dem Leser zu helfen, ohne ihm eine Wertung vorzukauen, ist das wichtigste
Stilmittel, zwei scheinbar unverbundene Bilder nebeneinander zu setzen. Ein
Beispiel:
Mein Hund erschnüffelt / den Weg – liest Neuigkeiten / aus der Nachbarschaft.
Mein Hund erschnüffelt / den Weg – Drüben der Nachbar / holt die Zeitung rein.
Version 1 erklärt die Idee, die ein Hundehalter hatte, als er seinen Hund beim
Morgengang beobachtete. Version 2 überlässt es dem Leser, die Bilder zu
verbinden. Vielleicht entdeckt der Leser den Gedankengang für sich selbst, vielleicht
entdeckt er etwas anderes. Bei Version 1 bleibt das Haiku im Besitz des
Schreibenden. Bei Version 2 gehört es dem Leser. Und so soll es auch sein, denn
ein Haiku ist ein Geschenk. Der Leser soll es in Ruhe auspacken und nicht schon
vorher wissen, was drin ist.
Drei Tipps zum Schluss
Es ist keine gute Idee, sich beim Haikuschreiben aufs Silbenzählen und seine eigene
Sprachkunst zu verlassen, ohne sich mit den Haikuregeln auseinandergesetzt zu
haben. Dabei kommen meist mehr oder weniger geistreiche Kurztexte heraus, die
halt diesen komischen Silbenrhythmus haben. Trotzdem können die vielen Regeln
verwirren und sich als Ballast erweisen. Deshalb zum Schluss drei einfache Tipps:
Es ist schwer, eine Sprache zu sprechen, wenn man sich zu sehr auf die
grammatikalischen Regeln konzentrieren muss, deshalb: Lerne die Regeln so gut,
dass du sie vergessen kannst.
Es ist schwer, die Welt auf sich einwirken zu lassen, wenn man zu sehr mit den
eigenen Wünschen beschäftigt ist, deshalb: Vergiss, dass du ein Haiku schreiben
willst.
Es ist schwer, etwas zu vergessen, wenn man zu sehr daran denkt, etwas vergessen
zu müssen, deshalb: Vergiss, dass es etwas zu vergessen gibt.
Anhang
Wieviel Silben braucht ein Haiku
„Mein Vorschlag ist, drei Zeilen mit ungefähr (tendenziell weniger als) 17 Silben zu
schreiben.“ Wie komme ich darauf? Als Anhaltspunkt für die Länge eines
deutschsprachigen Haiku habe ich die Zahl der Silben genommen, die für eine
ordentliche Übersetzung von japanischen Haiku gebraucht werden. Leider wollen
fast alle Übersetzer von japanischen Haikusammlungen dem deutschen Leser
glauben machen, dass die 5-7-5-Form exakt auch im Deutschen passt. Schaut man
sich aber diese Übersetzungen genauer an, findet man viele gnadenlos gestauchte
oder gestreckte Texte, manche gar bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt.
Dietrich Krusche ist der einzige mir bekannte Übersetzer einer größeren Sammlung
von japanischen Haiku, der mutig genug war, sich diesem Trend zur Folterung von
Originalen im Namen der heiligen Form zu widersetzen. Sein Ansatz lautete: „Eine
Übersetzung, die im Deutschen die Silbenzahl siebzehn trifft, ist gar nicht versucht
worden. Versucht worden ist allerdings eine Beibehaltung der Kürze des Haiku; in
diesem quantitativen Sinn ist über den Wortbestand der Haiku nicht hinausgegangen
worden. Die Zeileneinteilung folgt der inneren Struktur der Haiku, wie sie sich dem
Übersetzer – unter Berücksichtigung der Gegebenheiten der deutschen Sprache –
darstellt.“ (Dietrich Krusche: Haiku. Dtv, München, 1994, Seite 145f.)
Ich habe die Silbenzahl aller 152 von ihm übersetzten Haiku ausgewertet. Das
Ergebnis: Zwei Drittel der Übersetzungen hatten 14 bis 18 Silben, 90 Prozent lagen
in der Bandbreite von 13 bis 20 Silben. Der gewichtete Durchschnitt betrug 16,3
Silben. So ganz daneben liegt man im Deutschen also nicht mit 17 Silben, aber es
darf durchaus etwas weniger und variabler sein.
Mit Silbenzählen allein ist es allerdings nicht getan. Es gibt einen fundamentalen
Unterschied zwischen den sogenannten Silben japanischer Art und den deutschen.
Die japanischen Laute, die wir als Silben bezeichnen, sind eigentlich unseren
Buchstaben näher verwandt als den Silben. Wenn man das deutsche Alphabet
aufsagt, so verbraucht jeder Buchstabe etwa die gleiche Zeitspanne (bis auf das
rebellische Ypsilon). Dies gilt grundsätzlich auch für die japanischen Lautsilben, ob a
oder u, ob kya oder kyu, die Lese- oder Sprechzeit ist für jede Lautsilbe in etwa
gleich. Bei den deutschen Silben ist das jedoch völlig anders: a ist eine Silbe, au ist
eine, lau ist auch eine, sogar lauch ist eine, schlauch ebenso und als längste aller
Silben hab ich schlauchst zu bieten wie in „Mit dieser Aufzählerei schlauchst du mich
ganz schön“. Während also im Japanischen mit den 17 Lautsilben in ihrer Verteilung
zu Gruppen von 5, 7, 5 Lauten ein ungefährer Zeittakt beim Lesen oder Sprechen
vorgegeben wird, ist im Deutschen die Übertragung dieser Zahlen in Silben völlig
taktlos. Zwei Groteskbeispiele:
Knisterndes Feuer.
Ein Schlauch wälzt sich durch Flussschlamm.
Lilienblüten.
Rauch quillt aus dem Wald.
Die Lilien in Blüte.
Ein Schlauch im Flussschlamm.
Inhaltlich nicht weiter ernst zu nehmen, halten sich beide Texte streng ans 5-7-5Schema. Diese Beispiele sollen auch nur verdeutlichen, dass es allein mit dem
Zählen von Silben im Deutschen nicht getan ist, man muss auch darauf achten, mit
welchem Gewicht Silben daherkommen. Da kann ein 19-Silber durchaus der Kürze
eines japanischen Haiku entsprechen, während ein 15-Silber viel zu sperrig wirkt.
Wer sich an die Vorgabe von ungefähr 17 Silben, tendenziell weniger hält, gewinnt
eine Freiheit, die es ermöglicht, Haiku zu schreiben, die an die Leichtigkeit
japanischer Texte heranreichen. Wer die japanische Formstrenge auch im
Deutschen umsetzen möchte, dem würde ich vorschlagen, sich darauf zu
konzentrieren, seine Haiku so knapp wie möglich zu formulieren, um dadurch einer
sprachlichen Disziplinierung Rechnung zu tragen.
Der Aufsatz erschien erstmals 2000 auf HaikuHaiku.de.
Aktuell 04.09.2003 auf www.Haiku-heute.de
Alle Rechte bei Hans-Peter Kraus, Essen
Beispielhafte deutschsprachige Haiku
In zufälliger Reihenfolge
Stromausfall.
In der Wohnung des Nachbarn
spielt jemand Klavier.
Sigrid Baurmann
Windstille.
Vom Ruderblatt tropft
der Abendhimmel.
Hubertus Thum
im drehkreuz
zur vollzugsanstalt
eine sonnenblume
Mario Fitterer
Sonnenuntergang.
Die leuchtenden Gesichter
verblassen wieder.
Udo Wenzel
keine Worte
für das Licht, das
mich streifte
Michael Denhoff
Allein gewandert.
Am Abend der fremde Klang
meiner Stimme
Jochen Hahn-Klimroth
Friedhofsbrunnen –
das Wasser nimmt Erde mit
von meinen Händen
Arno Herrmann
Beim Schlüsseldienst
Luigi erzählt mir
von der Sonne Siziliens
Andreas Marquardt
Schlaflos –
auf dem Kissen neben mir
Mondlicht
Roswitha Erler
Zwischen Amselstrophen
die Tiefe.
Mairegen.
Volker Friebel
Glockengießerei.
Vor der Klangprobe
den Atem anhalten
Angelika Wienert
kein Strafzettel
Herbstblätter
Martin Berner
Früher Fang.
Dieses Glitzern – wie es zurückperlt
ins Meer
Wolfgang Beutke
Behutsam
meine Hand über deine –
ein Schmetterling
Claudia Brefeld
Auf dem Kunstmarkt –
ein Portraitmaler zeichnet
mein zweites Gesicht
Andrea D'Alessandro
„Die ewig alten Geschichten",
schreit sie.
Draußen fällt Schnee.
Marianne Kunz
wintergewitter –
vor seiner berührung
die augen schließen
Ramona Linke
Erster Januar.
In einem Schminktischspiegel
die offene Tür.
Horst Ludwig
Beim Entwirren
des Wollknäuels
eine Bach-Fuge
Rudi Pfaller
Kindereisenbahn
Opas Zigarrenstummel
qualmt im Schornstein
Werner Reichhold
Geständnis –
die Worte werden genauer
im Dunkeln
Kerstin Scharmberg
der alte Hippie –
Wind streicht über sein Herz
von Wiesenblumen
Helga Stania
die welt neu ordnen
beim sortieren der bücher
in meinem regal
Heinz Wöllner
Wieder verschont –
Jetzt bekommt die Fliege
einen Namen!
Ina Müller-Velten
Wolken am Hügel –
der Hund des Schäfers treibt sie
höher und höher.
Reiner Bonack
Zwischen Farbkübeln
das Weiß
der Orchidee
Ruth Franke
irgendwo musik
dem alten quadrillehengst
zucken die ohren
Eckhard Erxleben
Winterabend
mit kleinen Stichen kehrt das Lächeln
der Puppe zurück
Ingrid Kunschke
Allein –
ihre Winterdecke
noch über meine
Jörg Rakowski
Herbstsonne –
an den Bäumen entlang
über die Schatten springen
Gerd Börner
novembersonne
gelb leuchten die blätter auf
eh sie verlöschen
René Possél
SMS –
mit dem Finger die Lüge
wegdrücken
Christa Beau
Trauerfall –
als erstes schneidet sie
die Zwiebeln
Luise Eilers
Pflaumenblüten –
einen Atemzug lang
steht der Verkehr still
Georg Flamm
Gewitterluft
der Hofhund knurrt
seinen Schatten an
Gabriele Reinhard
Shinkansen –
Nach dem Tunnel rast das Licht
durch die Waggons.
Klaus-Dieter Wirth
Die Fähre legt ab.
Möwenschwärme
zwischen dir und mir.
Hans Lesener
Abendstunde –
im Klang der Gläser
ein neuer Ton
Ilse Jacobson
Reiseschach –
ein Jeansknopf ersetzt
den fehlenden König
Gerhard Winter
Mond auf dem See –
ein Fisch
zupft Wellenringe
Norbert Stein
ihre sms fliederduft
Dietmar Tauchner
Der Entwurf auf dem Schreibtisch.
Mein Chef zerklatscht Fliegen.
Beate Conrad
aufschauen
von seinem Ringfinger –
ein Schwarm Zugvögel
Claudia Melchior
Frühlingsanfang –
der alte Dackel springt
über den Graben ...
Silvia Kempen
Zusammenstellung im März 2008 durch Volker Friebel für eine Pressedarstellung
zum Haiku. Alle Autoren haben ihr Einverständnis für eine unentgeltliche
Weiterverbreitung ihres Textes in Zeitungen, Zeitschriften und Online-Publikationen
zur Berichterstattung über das Haiku gegeben. Bedingung ist die Nennung des
jeweiligen Autors zum Text. Eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Für die
Aufnahme von Haiku in Anthologien oder für die Verwendung in anderen
Zusammenhängen muss die Erlaubnis der Autoren eingeholt werden. Autoren
können dazu über [email protected] kontaktiert werden. Die Zusammenstellung
war erstmals am Fr. 21. März 2008 im Rahmen der Pressedarstellung im Netz.
Lieber Ralf,
manchmal meint man etwas Bestimmtes gelesen zu haben und plötzlich muss man
erkennen, dass es zwar irgendwie zu dem von Dir nachgefragten Thema (Haiku mit
Kindern) passt, dann aber doch am geforderten Thema vorbei geht, weil es sich um
das von der französischen Haiku-Gesellschaft für 2013 vorgeschlagene Projekt (Ein
Haiku-Buch für die Altersklasse der 7 bis 13jährigen) handelt.
Und trotzdem. Ich erinnere mich an eine linke Seite, geschrieben von Isabel
Asunsolo. Nach dreimaliger Suche jetzt das Ergebnis, das vielleicht für Dich etwas
ernüchternd klingt, weil es Dir vielleicht zu einfach erscheint und nur eine mögliche
Vorgehensweise. Für Kinder mag es aber eher logisch erscheinen. Nachfolgend der
Text:
Um ein Haiku zu schreiben, muss man intelligent sein: man muss vergessen was
man weiß. Du sollst schauen, hören und die Dinge einfach benennen. Du darfst
nichts erfinden. Das ist es, was ich den Kindern in den Schulen sage, wenn ich ihnen
„unser kleines Gedicht“ nahe bringe. Sie sind daran gewöhnt „in ihren Köpfen auf
eine Reise zu gehen“, aus ihren Vorstellungen zu schöpfen (dort begegnen sie oft
Schriftstellern und Erzählern), sodass die Schüler mit ihrem Latein ziemlich am Ende
sind, wenn sie versuchen ihr erstes Haiku zu schreiben.
Schaut aus dem Fenster. Was seht ihr da?
Seemöwen…
Was machen die ?
Es sind Seemöwen, die ihre Jungen im Nest füttern, weil es Frühling ist.
Das ist es was ihr seht? Betrachtet die Bäume.
Es sind Birken. Sie haben noch keine Blätter. Es ist Winter.
Sehr gut. Betrachtet nun das weiße Gebäude gegenüber. Die Fenster…. Was seht
ihr?
Da hängt ein blaues Betttuch, zum Trocknen aufgehängt ….
Richtig. Schon hätten wir das erste Haiku: Die Bäume haben keine Blätter und da
hängt ein weiß-blaues Betttuch vor dem Fenster. Es ist das Betttuch, das euch vom
Wechsel der Jahreszeit erzählen will. Etwas Neues, das sich vorbereitet.
Birken ohne Blätter
Ein blaues Betttuch am Fenster
……
Für die dritte Zeile könnt ihr etwas wählen, was ihr favorisiert: Das Ende des Winters
oder Der Frühling kommt oder irgendetwas anderes.
Das war also die französische Variante. Im Grunde genonmmen müssen die Lehrer
nur das Notwendigste zum Haiku kennen und alles andere mit pädagogischer
Kompetenz erledigen. Das Arbeiten mit den Schülern kann ihnen niemand
abnehmen. Und da sind sie Möglichkeiten sicherlich so zahlreich, dass die sich
sicherlich nicht gern etwas vorschreiben lassen.
Mit gleicher Post habe ich bei Claudia nachgefragt, ob sie eventuell weiteres Material
zur Verfügung stellen kann.
Liebe Grüße
Georges
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