¸ Das Redigieren: Regeln (Nach: Wolf Schneider, Paul-Josef Raue, Handbuch des Journalismus, 1998, S.183-188) Ich tue das Äusserste, um nach den kürzest möglichen Wörtern zu suchen; Achtsilber versetzen mich von heute an in Panik. Es ehrt den Journalisten, wenn er mehr als einen Gedanken hat; zum Beispiel zwei. Noch mehr Ehre aber würde er auf sich laden, wenn er diese zwei Gedanken in die simpelste, die nächstliegende, die einzige schlüssige Reihenfolge brächte: erst der erste Gedanke – dann der zweite Gedanke. Was im Satz zusammenhängt, darf nie um mehr als sechs Wörter oder zwölf Silben auseinandergerissen werden. Und was hängt zusammen? • Der Hauptsatz (Am besten sollte er durch nichts unterbrochen werden, maximal aber durch einen Einschub von zwölf Silben.) • Die Bestandteile des Verbums • Subjekt und Prädikat • Artikel und Substantiv Satzbau-Regel 1: Die nächstliegende, die lebendigste, die kraftvollste Form der Mitteilung ist der Hauptsatz. Kurze, miteinander korrespondierende Hauptsätze werden nicht durch Punkte getrennt. Satzbau-Regel 2: Eingeschobene Nebensätze sind unerwünscht, denn sie mogeln eine zweite Aussage mitten in die erste hinein. Ist die zweite Aussage ihrerseits eine Hauptsache, so muss sie in einen zweiten Hauptsatz verwandelt werden; ist sie eine Nebensache, eine blosse Erläuterung, so ist ihr angemessener Platz der angehängte Nebensatz. Unser Kurzzeitgedächtnis bewältigt im Durchschnitt eine Strecke von drei Sekunden, und in diesem Zeitraum liest der Durchschnittsmensch sechs Wörter oder zwölf Silben. Selbstverständlich, das sind grobe Mittelwerte: Im Durchschnitt haben Wörter zwei Silben, «Steuerharmonisierungstendenzen» haben zehn. Satzbau-Regel 3: mlf / ZHW / FU / 15.5.2016 ¸ Das Verb besteht im Deutschen überwiegend aus zwei Teilen: in allen zusammengesetzten Formen (ich habe … geschrieben, ich werde … kommen) und bei vielen Verben auch in Präsens und Präteritum (Ich schlage … vor, mir fiel … auf). Die Grammatik zwingt uns, diese Teile auseinanderzureissen: «Ich schlage einen Kompromiss vor» muss es heissen; «Ich schlage vor einen Kompromiss» ist leider nicht deutsch. Wie lässt sich diese grammatikalische Not mit den Forderungen der Verständlichkeitsforschung versöhnen? Dadurch, dass wir zwischen die Teile des Verbums nie mehr als sechs Wörter oder zwölf Silben schieben. Subjekt und Prädikat, Satzgegenstand und Satzaussage, gehören genauso eng zusammen. Jeder Schreiber, der gelesen werden will, ist gehalten, Satzmonstren zu zerschlagen und aus den Trümmern neue, durchsichtige Sätze zu bauen – ohne Wenn und Aber. Attribute heissen nach ihrer Stellung im Satz diejenigen Wörter, die man zwischen den Artikel und das Substantiv schieben darf (wie die Grammatik sagt), aber nicht schieben sollte: mehr als sechs um keinen Preis, sagt die Verständlichkeitsforschung; doch am besten überhaupt keine oder allenfalls ein Adjektiv, sagen die Stilistik und die Vernunft. Wer Sätze bauen will, die zugleich eingängig und kraftvoll sind, für den sind Hauptsätze die erste Wahl. Nebensätze werden angehängt. Was im Satz zusammengehört – der Hauptsatz, Artikel und Substantiv, Subjekt und Prädikat –, das lässt der Schreiber auch zusammen; wo die Grammatik ihn zum Zerreissen zwingt wie bei mehrteiligen Verben, hat er nach spätestens sechs Wörtern oder zwölf Silben die Verbindung wiederherzustellen. mlf / ZHW / FU / 15.5.2016