Erworbene Störungen der Schriftsprachverarbeitung Dyslexien und Agraphien Von Helen Leuninger Abtrudeln ab-trudel-n Dyslektisch: Abt ...ruder Zugriff Zu-griff Dyslektisch: Zug George Bernhard Shaw : Man könnte für fish auch ghoti schreiben? Warum? Shaw nutzt die Graphem-Phonem-Regeln (Korrespondenzen) des Englischen aus: Gh = f O=i Ti = sch wie in laugh [la:f] wie in women [wimən] wie in nation [nejschen] sch und schwa Was wir besprechen wollen Modalität: Lesen und Schreiben GPK-Regeln Lesen Was passiert beim Lesen? Kognitive Neuropsychologie Historisches/Terminologie Lesen von Sätzen Modellierung des Lesens: Das Logogenmodell Dyslexien: zentrale und periphere Der Gehalt der lexikalischen Komponenten Morphologische Prozesse und Schriftverarbeitung Agraphien Beziehung zwischen Lauten und Buchstaben Übersetzung von Graphemen in Phoneme (GPK-Regeln) Modalität Schreiben: Übersetzen von Phonemen in Grapheme (PGK-Regeln) Beziehung in vielen Sprachen nicht eins-zu-eins Deutsch Gestern schüttete Helen, die ihre Hare Chaqui gefärbt hatte, dem Jörk in Ksanten Waks auf seine gesamte Haabe und auch kwer über seinen Ze, so dass alle Häne chräten und besagter Herr nicht im Khor das Krehdo mitsingen durfte. Helen kennt die Regeln nicht. Sie sollte sie schnell lernen Graphem-Phonem-Korrespondenzen für /k/ /k/ <c> Cola, Credo /k/ <kh> Khaki /k/ <ch>/Wort [___] Christ, Chor /k/ <ch>/V [-lang]___s] Wachs /k/ <x>/V [-lang]___s] Jux /k/ <q>/ ___ [v] quer, Qualle /k/ <k>/sonst Graphem-Phonem-Korrespondenzen für die Längung <h> Hahn, Zeh Doppelvokal Waage, Beet <e> Liebe nix Habe, Bad Was passiert beim Lesen? Ein schriftsprachlicher Stimulus wird zunächst visuell analysiert, dann wird das Ergebnis in ein graphematisches Lexikon übergeben, semantisch analyssiert, übergeben in ein phonologisches Lexikon, im Arbeitsspeicher weiter berechnet und dann ausgesprochen. Wird zwar visuell analysiert und im graphematischen Input-Lexikon weiterverarbeitet, aber nicht semantisch analysiert, kann der Stimulus direkt an das phonologische Output-Lexikon übergeben werden. Sollen Formen gelesen werden, die keinen Lexikoneintrag, daher auch keine Semantik haben, kann das Ergebnis der visuellen Analyse direkt an die GPK-Regeln übergeben werden. Alle drei Wege arbeiten im ungestörten Lesen zusammen. Daher geben nur selektive Beeinträchtigungen Aufschluss darüber, ob diese Wege/Komponenten isolierbar sind (Module, Transparenz). kognitive Neuropsychologie Modularität: jede Komponente hat ihre eigenen Aufgaben Transparenz: selektiv störbare Komponenten identifizieren psychologisch reale Komponenten Einzelfallstudien: individuelle Störungsprofile Paradigma der kognitiven Neuropsychologie: multiple modellorientierte Einzelfallstudien; spezielles Störungsprofil für jeden einzelnen Probanden, Dissoziationen (verschonte im Vergleich zu beeinträchtigten Komponenten) Historisches - Terminologie Früher: Unterscheidung von Dyslexie (Störungen des Schriftspracherwerbs) und Alexie (Störungen der Schriftsprache nach abgeschlossenem Spracherwerb) Einfluss der angelsächsischen Forschung: Dyslexie als Störungen der Schriftsprache nach abgeschlossenem Spracherwerb hat sich im Wesentlichen durchgesetzt Kussmaul (1877): Wortblindheit Déjérine (1982): reine Wortblindheit ohne Agraphie Wortblindheit mit Agraphie Goldstein (1948): primäre Alexie (ohne Aphasie) Sekundäre Alexie (mit Aphasie) 70er Jahre Marshall & Newcombe (1973) Visual dyslexia Surface dyslexia Deep dyslexia 2 Patienten ohne Aphasie mit nur visuellen Fehlern ohne Störungen der semantischen oder phonologischen Verarbeitung beim Lesen (vergleichbar mit bestimmten legasthenischen Leistungen bei Kindern) 1. Gestaltfehler: h statt b, o statt c, t statt f, i statt l 2. Umkehrungsfehler: b statt d, p statt q 3. Inversionsfehler: b statt p, d statt q, u statt n 4. Partielle oder totale Umstellungsfehler im Wort: grill statt girl, from statt form, was statt saw Surface Dyslexia (Oberflächendyslexie) Erhalten: Lesen isolierter Buchstaben Gestört: Lesen von Wörtern Fehlermuster bei 2 Patienten 1. Partielle Fehler in der Graphem-Phonem-Konvertierung bei Konsonanten, deren phonetischer Wert vom graphematischen Kontext abhängig ist: incense increase, good gin 2. Stimmlose statt stimmhafter Konsonanten: disease decease 3. Ignorieren von Vokallänge: bike bik 4. stumme graphematische Konsonanten erhalten phonetischen Wert: island izland 5. viele phonematische Paralexien 6. Verschieben des Wortakzents: omít ómmit 7. Gelegentliches Auslassen von ganzen Silben Deep Dyslexia (Tiefendyslexie; überwiegend bei Patienten mit Broca-Aphasie; Shallice & Warrington, 1980) 1. Hauptsächlich semantische Paralexien 2. Schwierigkeiten, vom „phonologischen Weg“ Gebrauch zu machen, z.B.sehr schlechte Leistungen bei nonsense-Silben 3. Wortarteneffekt: Nomina > Adjektive > Verben > Funktionswörter 4. Konkretheitseffekt 3 entspricht Fehlern der Broca-Aphasie: Ein Patient reagierte auf eine Vorlage mit Funktionswörtern so: „Big words – Yes! Little words –No!“ Daten Semantisch verwandte Funktionswörter Me I Us we We me and you Optisch-graphisch ähnliche Funktionswörter His is Our or Semantisch nicht verwandte Funktionswörter Both perhaps The and Semantische Paralexien – kein Funktionswort Beneath downstairs Her girl Generell aber Dissoziation von Inhalts- und Funktionswörtern Schuell (1959) Suit coat Cream milk Summer winter Marshall & Newcombe (1973) Employ factory Daughter sister Er war Maler und verstand sich selbst als Denker Er wal walter und 1 verseb sich als lek 2 selcht sich selbst als leker 3 verselcht sicht selbst als denker Der war maler und verstand sich selb als denker Der war malter und verstalt sind 1 sibst als depper Er war Maler und verstand sich 2 laibst als denker Er war Malter und verstand sich 1 ver als denker 2 selbst Sprachplanungsstörung mit vielen Perseverationen, aber keine besondere Anfälligkeit von Flexion und Funktionswörtern Milch macht stark Milch … milch ist sauer Das Auto fährt vorbei das auto ist schnell Die Kinder lachen die kinder spielen (aus de Langen, 1983) Logogenmodell Heutige Dyslexieund Agraphieforschung macht sich das LogogenModell (Morton, 1966) zu Nutze: Dyslexien Dyslexien sind erworbene Störungen des sprachlichen Leseprozesses trotz guter prämorbider* Lesefähigkeit (*vor der Erkrankung). Meist nach linkshemisphärischen Läsionen. Selten als isolierte Störungen, sondern mit Aphasien und/oder Agraphien (Störungen des Schreibens) Sprachen mit alphabetischer Schrift: Störung bei Einzelbuchstaben (literal alexia) oder bei Wörtern (verbal alexia; GPK-Regeln oder Verknüpfung zur Bedeutung fehlen) Sprachen mit nicht-alphabetischer Schrift, z.B. Japanisch mit den beiden Schriftsystem Kanji und Kana: nur eines der Systeme kann betroffen sein (vgl. Keller & Leuninger, 2004) Typen von Dyslexien 1. periphere Dyslexien 2. zentrale Dyslexien ROUTEN Semantisch-lexikalische Route das geschriebene Wort wird unmittelbar mit der Wortbedeutung verknüpft phonologisch-lexikalische Route das orthographische Wort wird unmittelbar mit dem phonologischen Wort verknüpft für orthographisch unregelmäßige Wörter: BUS ---> [bus], *[bu:s] nicht lexikalische Route (GPK-Route) die Graphem-Phonem-Korrespondenzen (GPK) werden hergestellt Lesen von unbekannten Wörtern und Neologismen: KNONK ----> [knok], *[kno:k] ZENTRALE DYSLEXIEN Tiefendyslexie Symptome • semantische Fehler (Paralexien): Prinz ---> König • visuelle Fehler: Gigant ---> Gitarre • morphologische Fehler: gerettet ---> retten; größer ---> groß, schuldig ---> Schuld • visuelle und darauf basierende semantische Fehler: Sympathie --> (Symphonie) ---> Orchester • Neologismen können nicht gelesen werden • konkrete Wörter (Apfel) werden besser gelesen als abstrakte (Grammatik) • Nomina > Adjektive > Verben > funktionale Kategorien Modelltheoretisch • GPK-Route fällt aus • phonologisch-lexikalische Route fällt aus • ausschließliche Verwendung der semantischen Route; diese aber ist teilweise geschädigt Direkte Dyslexie Symptome • Lesen ohne Sinnverständnis • korrektes und flüssiges Lesen regelmäßiger und unregelmäßiger Wörter (keine Regularisierungen) • Neologismen können nicht gelesen werden Modelltheoretisch • Ausfall der semantischen Route • Ausfall der GPK-Route • Erhalten ist die direkte phonologisch-lexikalische Route Phonologische Dyslexie Symptome • Neologismen können nicht oder nur sehr fehlerhaft gelesen werden • gutes Sprachverständnis, keine semantischen Paralexien Modelltheoretisch • GPK-Route ist stark gestört oder fällt aus • Verschonung der semantischen und phonologischlexikalischen Route Oberflächendyslexie Symptome • Regularisierung orthographisch unregelmäßiger Wörter; orthographisch regelmäßige Wörter und Neologismen werden gut gelesen 2 Gruppen Gruppe 1: Bedeutung, die diese Gruppe angibt, ist nicht die des Zielitems (Bsp. listen/“hören“), sondern die der Reaktion (Liston/ „Boxer“) Gruppe 2: Bedeutung, die diese Gruppe angibt, ist die des Zielitems Modelltheoretisch Lesen nur über die GPK-Route Gruppe 1: Störung der semantischen und lexikalischen Route Gruppe 2: Verschonung der semantischen und lexikalischen Route PERIPHERE DYSLEXIE Das buchstabierende Lesen („letter-by-letter-reading“; reine Alexie) Symptome • lautes Benennen der Buchstaben beim Lesen • Ersetzen visuell ähnlicher Buchstaben • kurze Wörter werden besser gelesen als lange Modelltheoretisch • Störung der visuellen Analyse • Zutritt zum eigentlichen Lesesystem ist unmöglich Störungen des Lesens als Begleiterscheinung zu anderen neuropsychologischen Störungen Neglect-Dyslexie Symptome • kontralaterale Lesestörungen (Bsp: Patienten mit rechtshirniger Schädigung zeigten Paralexien im linken Teil des Worts: Hockeyspieler ---> Tennisspieler) • Aufmerksamkeitsstörung, nicht nur für sprachliche, sondern für alle visuellen Stimuli • der eigentliche Lesevorgang ist ungestört (verschiebt man die Stimuli (Eishockey), so liest der Patient das nun rechts stehende Wort einwandfrei) Die agnostische Dyslexie Symptome • buchstabierendes Lesen mit visuellen Fehlern • bei mehreren vorgebenen Buchstaben kann nur ein Buchstabe benannt werden • Störung der Wahrnehmung, extrem eingeschränkte Aufmerksamkeit (zweiseitige Hirnschädigungen im occipitalen Bereich) Lesemodell Der Gehalt der Komponenten bleibt unklar, meist werden nur monomorphematische Items getestet. Die meisten Wörter des Deutschen sind jedoch polymorphematisch. Frage: Gibt es wortbildungsspezifische Dissoziationen? Morphologische Prozesse und Schriftsprachverarbeitung (de Bleser & Bayer, 1988) Lexikon: gelistete Lexeme Inhaltswörter/Funktionswörter/Affixe unregelmäßige Flexion Komposition Derivation regelmäßige Flexion Patientin HJ: embolisch bedingte Aphasie mit 22 J., Broca Agrammatismus in der Spontansprache: nach 7-jähriger Therapie sehr stark gebessert, aber Dyslexie blieb erhalten Spontansprache U: Will Ihr Sohn abends nicht ins Bett? P: Nee, freiwillig, nee ich bin nicht müde, aber jetzt habe ich gesagt, du musst im Bett , du musst morgen Schule, Wochende darf er dann länger aufbleiben, aber so, das geht ja nicht, die halbe Nacht. Im Kontrast die Leseleistungen von HJ: Mir wird schlecht Mir ... Schlecht Er schrie er sei blind Er schreien er blind Wir liebten diese Rose Lieben ... Rose HJ zeigte typische Symptome einer Tiefendyslexie Unfähigkeit, Neologismen zu lesen (keiner der Neologismen, z.B. Funst, wurde gelesen) Konkrete Nomina > Abstrakta Inhaltswörter < Funktionswörtern Sehr viele semantische Paralexien (Beil Hammer; trübe das wetter, bewölkt, lexikalisches Entscheiden auditive Modalität: Leistungen im Normalbereich visuelle Modalität: alle Leistungen im Normalbereich bis auf neologistische Komposita (Kugelsänger): Geschenkskrümel: zu wenige Geschenke, aber nein Pflanzenwohnung: könnte es geben, habe ich aber noch nie gehört modellorientierte Erklärung: Tiefendyslexie nicht bei der Inputverarbeitung (graphemischer Stimulus semantisches System), sondern zwischen der semantischen Repräsentation und dem phonologischen Wort (neologistische Komposita können nachgesprochen werden, daher phonologische Wortform selbst intakt), aber typische Lesefehler: Kugelsänger Bleistift, irgendwas, Sänger Pflanzenwohnung Wohnung-Blumen nicht HJ’s Weg beim Lesen: 1. Segmentieren der Buchstabenkette mithilfe des lexikalisch-semantischen Systems 2. Graphemische Einheiten werden auf Bedeutung bezogen 3. Der semantische Gehalt wird mit einem entsprechenden Eintrag im phonologischen Lexikon verbunden Morphologische Lesefehler Verben: hauptsächlich Infinitive werden gelesen (für flektierte Formen im Präsens und Präteritum) Regulär/irregulär: wenn überhaupt, dann wurden irreguläre Präteritumformen gelesen Plural/Komparativ: Plural besser (auch irregulärer) als reguläre Komparative Ebenenunterscheidung scheint auch psychologisch plausibel Patientin GE 36 Jahre: hämorrhagischer Infarkt im Versorgungsgebiet der vorderen und mittleren Mediaastgruppe links brachiofaziale Hemiparese rechts Untersuchungszeitpunkt: Aphasie seit 2;5 Jahren; Spontansprache: kurze Sätze, Beeinträchtigung von Flexionsformen und Funktionswörtern, Redefloskeln, vereinzelt phonematische Paraphasien und phonematische Unsicherheiten U: Wie sieht dein Tagesablauf aus? P: Hm mit`m Sherry spazierengehen und essen äh...äh Kaffee trinken ...hm...üben sprechen...hm...nach Mama...gehen. Testung Monomorphematische Nomina Auditives lexikalisches Entscheiden (passt der Artikel: der Stuhl) Visuelles lexikalisches Entscheiden (schriftliches Vorgeben von Nomina und die drei definiten Artikel, Patient soll zeigen, welcher Artikel passt: Schiff – der, die das) Nachsprechen mit Hinzufügung des Artikels (Hut wird vorgelesen, nachgesprochen werden soll der Hut) Verwenden der direkten lexikalischen Route Mündliches Benennen mit Hinzufügung des Artikels (Bild mit Tasse: Patient soll Bild mit passendem Artikel benennen die Tasse) Nomina Komposita Auditives lexikalisches Entscheiden für echte Komposita Auditives lexikalisches Entscheiden für Pseudokomposita Visuelles lexikalisches Entscheiden für echte Komposita Visuelles lexikalisches Entscheiden für Pseudokomposita Nachsprechen mit Hinzufügung des Artikels für echte Komposita Nachsprechen mit Hinzufügung des Artikels für Pseudokomposita Semantisch transparente Komposita: Haustür Komposita mit opaker Erstkonstituente: Strohmann Komposita mit opakem Kopf: Nilpferd Neologistische Komposita Wurmbank Artikel muss mithilfe von Wortbildungsregeln gefunden werden Zusätzlich bei auditivem lexikalischen Entscheiden: Die Flutlicht (Artikel vom Erstglied)/ der Flutlicht (Artikel weder vom Erst- noch vom Zweitglied) Derivierte Nomina Nachsprechen mit Hinzufügung des Artikels für native Wörter (Maler) Nachsprechen mit Hinzufügung des Artikels für Fremdwörter (Nation) Nachsprechen mit Hinzufügung des Artikels für Neologismen mit nativen Suffixen (Strippung) Nachsprechen mit Hinzufügung des Artikels für Neologismen mit fremden Suffixen (Spatur) Pluralbildung Nachsprechen regelmäßige Plurale Nachsprechen unregelmäßige Plurale Kasusproduktion auf Satzebene (schriftliche Darbietung von Lückensätzen, schriftliches Einfügen der fehlenden Morpheme) Kasusproduktion für SVO- und OSV-Sätze Patientin GE Modalitätsspezifische Effekte Auditiv Entscheiden, Nachsprechen, mündlich Benennen > visuell Entscheiden Artikelaufgaben: Auditiv Entscheiden, Nachsprechen > visuell Entscheiden Modalitätsspezifische Beeinträchtigung der Genusflexion im visuellen Input-Lexikon Itemweiser Vergleich: Wortarteneffekt, Konkretheitseffekt, Frequenzeffekt vollständige Blockierung der nicht-lexikalischen GPK-Route (daher auch keine Neologismen), überwiegende Verwendung der semantischen Route Beleg: semantische Paralexien Stoff Tuch Sofa Sessel Wut Fluch Sohn Junge Wortbildungsspezifische Effekte Derivationale und kompositionale Wortbildungsmuster im OutputLexikon sind beeinträchtigt Fraktionierung des Lexikons für regelmäßige und unregelmäßige Flexion (unregelmäßiger Plural ist besser) Signifikante Unterschiede beim auditiven Entscheiden und Nachsprechen eigenständige Ebene für die morphologische Verarbeitung von Komposita modalitätsspezifische Beeinträchtigung bei der rezeptiven visuellen Verarbeitung selektive Beeinträchtigung im graphematischen Input-Lexikon leichte selektive Störungen bei der Komposition und Derivation im phonologischen Input-Lexikon AGRAPHIEN (Blanken, 1991) Ausgangsbeobachtung: korrekte Schreibleistungen trotz gestörter mündlicher Wortformproduktion ---> 2 Lexika: phonologisches Ausgangslexikon orthographisches Ausgangslexikon und: graphematisches Repräsentationen sind nicht identisch mit motorischen Programmen (dieselben Störungen beim Handschreiben oder mit der Maschine schreiben) Bsp. für intakte Schreibleistungen bei gleichzeitiger Störung des phonologischen Ausgangslexikons: Aphasiker, dessen Spontansprache korrekt war, aber mit vielen Wortfindungsstörungen, Umschreibungen, leeren Stellvertreterwörtern; Fähigkeiten im mündlichen Benennen waren nahezu aufgehoben, aber schriftliches Benennen war möglich mdl: 1 korrekt benannt 20 Objekte: schriftl. 15 korrekt* * auch mit „conduite“ (Annäherung): „newspaper“ ---> READ, NEWSPAPER Typen von Agraphien 1. zentrale Agraphien 2. periphere Agraphien ROUTEN Semantisch-lexikalische Route auditive Analyse, phonologisches Eingangslexikon, semantisches System, orthographisches Ausgangslexikon, Graphem-Ebene Lexikalisch nicht semantische Route auditive Analyse, phonologisches Eingangslexikon, phonologisches Ausgangslexikon, orthographisches Ausgangslexikon, GraphemEbene Phonologische Route auditive Analyse, Phonem-Ebene, Phonem-GraphemKonvertierungsmechanismus, Graphem-Ebene ZENTRALE AGRAPHIEN Lexikalisch-orthographische Agraphie/ Oberflächenagraphie/phonologisches Schreiben Symptome (Schädigung: parieto-occipital) • Schreiben nach Diktat von Nichtwörtern ist fehlerfrei: ziguno, hozija • Fehler bei Wörtern mit ambiger Orthographie: franz: /o:/ CHATEAU, CHATO CHATAU; CHATAUX;CHATOT • Regularisierungsfehler bei irregulärer Schreibweise (Graphie): franz: fam <--femme; Fehler sind phonologisch plausibel: franz: messieu <--- monsieur; erbe <--- herbe • Fehler treten auch beim Spontanschreiben und schriftlichen Benennen auf • Schreiben ist „ökonomisch“: franz: patien <-- patient; o <-- eau Modelltheoretisch • gestörter Zugang zum orthographischen Ausgangslexikon Phonembezogene Agraphie Symptome Fehler beim Schreiben von Nichtwörtern (Neologismen) Fehler auch bei mündlichen Aufgaben • ungestörte Verarbeitung von realen Wörtern (auch in der Spontansprache, im Benennen und beim Nachsprechen) Modelltheoretisch • Ausfall der phonologischen nicht-lexikalischen Schreibroute wegen Störungen im Phonem-Speicher Phonologische Agraphie Symptome • die mündliche Sprachverarbeitung ist unbeeinflußt • reale Wörter werden gut geschrieben • das Schreiben von Nichtwörtern ist gestört • die Fehler sind phonologisch unplausibel Modelltheoretisch • PGK-Route ist stark gestört oder fällt aus: das Innere der PGK-Komponente ist betroffen • Verschonung der semantischen und phonologischlexikalischen Route • direkte Verbindung des semantischen Systems zum orthographischen Ausgangslexikon und zur Graphemebene Graphembezogene Agraphie (Graphem-Speicher) Symptome • nur die schriftliche Sprachproduktion ist gestört; Störungen in allen Aufgaben (Spontanschreiben, schriftliches Benennen,Diktat-schreiben) • Störung nicht nur beim Schreiben mit der Hand • Störungen bei Wörtern und Nichtwörtern • Schreibfehler sind phonologisch nicht erklärbar • Wortlänge korreliert mit Fehlerhäufigkeit modelltheoretisch • Störungen des Graphemspeichers Störungen der lexikalischen nicht-semantischen Route Symptome • korrektes Schreiben regulärer und irregulärer Wörter (YACHT, CIRCUIT) • Fehler bei Homophonen, die sich graphisch unterscheiden (Verwechseln von THEIR und THERE, SOLE und SOUL) Modelltheoretisch • erhaltener Zugang zum orthographischen Wissen (Eingangs- und Ausgangslexikon) • Auflösung der Verbindung zwischen dem semantischen System und dem orthographischen Ausgangslexikon • semantisches Wissen selbst ist intakt Tiefenagraphie Symptome • Wortklasseneffekte: konkret > abstrakt Nomina > Verben > Funktionswörter • semantische Paragraphien (CLOCK für TIME, TABLE für CHAIR;MY für OUR) • Lesen und nachsprechen aller Zielwörter ist fehlerfrei • Fähigkeit des Diktatschreibens ist völlig aufgehoben Modelltheoretisch • Schädigung der phonologischen Schreibroute • Verschonung der semantisch-lexikalischen Schreibroute bei gleichzeitiger Beeinträchtigung des semantischen Systems PERIPHERE AGRAPHIEN 2 Typen sog. apraktischer Agraphien a) Störung der Aktivierung graphisch-motorischer Muster b) visuelle Vorstellung von Buchstaben („letter imagery“) Afferente Agraphie Linksneglect Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit Literatur Bierwisch, M. (1972): Phonologie und Schriftstruktur. Probleme und Ergebnisse der Psychologie 43, 21-44 Blanken, G. (1991): Die kognitive Neurolinguistik des Schreibens (darin ausführliche Literaturhinweise zu den einzelnen Agraphieformen). In: Blanken, G. (Hrsg.): Einführung in die linguistische Aphasiologie. Theorie und Praxis. Trier: HochschulVerlag, 287-328 Celik, H., Kron, B. & Leuninger, H. (2000): Modellorientierte Neurolinguistik. Frankfurter Linguistische Forschungen (wenige Exemplare noch erhältlich bei uns, 3 Euro) Cholewa, J. (1998): Die Verarbeitung polymorphematischer Wörter bei Aphasie. Eine multiple Einzelfallstudie zum Logogenmodell. Freiburg:HochschulVerlag Coltheart, M., Patterson, K. & Marshall, J. (1980)(Hrsg.): Deep dyslexia. London: Routledge (darin auch Shallice & Warrington) de Bleser, R. & Bayer, J. (1988): Morphological reading errors in a German case of deep dyslexia. In: Nespoulos, J. & Villiard, P. (Hrsg.): Morphology, phonology and aphasia. New York: Springer, 32-59 de Bleser, R. (1991): Formen und Erklärungsmodelle der erworbenen Dyslexien (darin ausführliche Literaturhinweise zu den einzelnen Dyslexieformen). In: Blanken, G. (Hrsg.): Einführung in die linguistische Aphasiologie. Theorie und Praxis. Trier: HochschulVerlag, 329-348 de Langen, E.G. (1983): Wortkategorielle Aspekte und Fehlerspezifik der Tiefenalexie auf Wort- und Satzebene. Diss: Universität München Déjérine, J. (1892): Contribution à l’étude anatomo-clinique et clinique des différentes variétés de cécité verbale. C.R.Soc.Biol. 4, 61-90 Frisby, J. (o.J.): Sehen. Optische Täuschungen. Gehirnfunktionen. Bildgedächtnis. Gütersloh: Bertelsmann Goldstein, K. (1948): Language and language disturbances. New York: Grune & Stratton Keller, J. & Leuninger, H. (2004): Grammatische Strukturen – kognitive Prozesse. Tübingen: Narr Verlag Kussmaul, A. (1877): Die Störungen der Sprache. Versuch einer Pathologie der Sprache. Leipzig: Vogel Leuninger, H. (1982): Eine psycholinguistische Interpretation gestörten Sprechens. Papiere zur Linguistik, 26, 3-22 Marshall, J. & Newcombe, F. (1973): Patterns of paralexia: a psycholinguistic approach. Journal of Psycholinguistic Research 2, 175-199 Morton, J. (1969): The interarction of information in word recognition. Psychological Review 76, 165-178