GERHARD ROTH INSTITUT FÜR HIRNFORSCHUNG UNIVERSITÄT BREMEN DIE EVOLUTION DES FREIEN WILLENS G. Roth, 2009 DER „STARKE“ BEGRIFF VON WILLENSFREIHEIT Mentale Verursachung: Meine materiellen Handlungen werden verursacht durch meinen immateriellen Willen. Indeterminismus: Dieser Wille unterliegt, zumindest als moralisches Handeln, nicht dem Determinismus bzw. der Kausalität der Natur. Er ist „selbstverursacht“. Alternativismus: Ich kann anders handeln bzw. hätte anders handeln können, wenn ich nur (anders) will bzw. (anders) gewollt hätte. Mein Wille selbst ist nicht determiniert, sondern frei. Verantwortlichkeit: Ich bin für mein Tun moralisch verantwortlich und damit auch schuldfähig. GRÜNDE FÜR ZWEIFEL AN DER WILLENSFREIHEIT • Es gibt keinerlei vernünftige Vorstellung davon, wie eine „Selbstverursachung“ möglich ist. Kant selbst gab zu, dies sei eine hypothetisch-transzendente und empirisch nicht überprüfbare Fähigkeit des Menschen. • Auch menschliches Verhalten ist determiniert, wenngleich in komplexer Weise. Menschen handeln in ähnlichen Situation aufgrund ähnlicher Motive ähnlich (Hume). • Menschen fühlen sich frei, wenn sie ihren Willen verwirklichen können. Die Bedingtheit des Willens wird dabei nicht empfunden (Hume). EIN ALTERNATIVER BEGRIFF VON WILLENSFREIHEIT Ich fühle mich frei, wenn ich keineN äußeren und inneren Zwängen (z.B. Zwangsstörungen) unterliege. Ich fühle mich frei, wenn ich konkrete Handlungsoptionen habe, zwischen denen ich abwägen kann. Die Wahl zwischen diesen Optionen wird – vom Zufall abgesehen – determiniert durch die Weise, in der meine bewussten und unbewussten Motive miteinander interagieren (MotivDeterminismus). Die Motive wiederum werden determiniert durch Gene, Hirnentwicklung, frühkindliche Prägung und spätere Erfahrungen. Zusammengenommen bildet dies meine Persönlichkeit. AUSGANGSHYPOTHESE Willensfreiheit in einem neu-definierten Sinne hängt entsprechend ab von folgenden Fähigkeiten: Erkennen von Entscheidungs- und Handlungsalternativen, insbesondere im sozialen Bereich Abwägen dieser Alternativen und ihrer Konsequenzen Flexible Verhaltensentscheidung und Steuerung anhand dieser Abwägungen Bewertung der Ergebnisse des eigenen Handelns und mögliche Verhaltenskorrektur Diese Fähigkeiten haben sich im Laufe der Evolution der Primaten zum Menschen hin stark entwickelt. Fähigkeit zur Täuschung Anderer („Machiavellian Intelligtence “). Aus Byrne, 1996. Diese Fähigkeit ist unter Primaten und einigen anderen Säugern und Vögeln verbreitet und setzt eine minimale „Theory of Mind“ voraus. Schimpanse vor einem Spiegel (Photos von D. Bierschwale, aus Byrne, 1996). Außer bei Menschen ist nur bei Schimpansen ist das Erkennen im Spiegel verlässlich nachgewiesen. Es gibt allerdings starke Hinweise, dass auch andere Menschenaffen, Elefanten, Delfine, Elstern und Papageien diese Fähigkeit besitzen. Schimpanse beim Berücksichtigen des Zusammenhangs von Sehen und Wissen. (Photos von D. Bierschwale, aus Byrne, 1996). Ist außer beim Menschen nur bei Menschenaffen (in Vorstufen) sicher nachgewiesen, wird aber auch bei einigen anderen Primaten bzw. Säugern und Vögeln vermutet. Menschenaffen (Orang, Gorilla) beim Imitieren menschlichen Werkzeuggebrauchs. Imitieren im großen Umfang findet sich nur bei Menschenaffen und Menschen. Der Gorilla Koko beim Gebrauch von Zeichensprache. Eine einfache, nichtsyntaktische Sprache findet sich bei vielen Tieren. Eine syntaktischgrammatische Sprache ist eindeutig nur beim Menschen vorhanden Schimpansin Julia beim Meistern eines einfachen und eines komplizierten Labyrinths. Aus B. Rensch, 1968. Problemlösen durch Nachdenken und mentales Entscheiden findet sich außer beim Menschen eindeutig nur bei Menschenaffen. ZUSAMMENFASSUNG I Viele Säugetiere, insbesondere Primaten, zeigen soziale kognitive Leistungen, die denen des Menschen nahekommen. Hierzu gehören u.a. Selbsterkennen im Spiegel, Theory of Mind, Wissensattribution, Empathie, Imitation, geistiges Abwägen, Sprache und Handlungsplanung. Die größten Unterschiede zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Tieren besteht im Besitz einer syntaktischgrammatikalischen Sprache, im Ausmaß des Imitationslernens, des Selbsterkennens, der Theory of Mind, der Einsichtsfähigkeit, der Handlungsplanung und der sprachlichen Kommunikation. Worin sind diese Unterschiede begründet? Säugetiergehirne (im selben Maßstab) Zahnwal Mensch Schimpanse Hund Hase Spitzmaus Gehirngewicht in Gramm Pottwal Elefant Mensch Gorilla Pferd Kuh Schimpanse Löwe Rhesusaffe Hund Katze Ratte Maus 8,500 4,200 1,350 520 510 490 400 260 90 64 25 2 0.3 ZUSAMMENHANG VON „TAKTISCHER TÄUSCHUNG“ UND GRÖSSE DER HIRNRINDE (R. Dunbar) Hirnevolution bei Hominiden, Australopithecinen und Menschenaffen ENZEPHALIZATIONSQUOTIENT BEI SÄUGERN MENSCH 7.8 KAMEL 1.2 DELFIN 5.3 HUND 1.2 KAPUZINERAFFE 4.8 EICHHÖRNCHEN 1.1 SCHIMPANSE 2.5 KATZE 1.0 RHESUSAFFE 2.1 PFERD 0.9 WAL 1.8 SCHAF 0.8 ELEFANT 1.3 MAUS 0.5 WALROSS 1.2 RATTE 0.4 Der EQ gibt an, um wieviel ein Gehirnvolumen im Vergleich zum Körpervolumen über oder unter dem Säugerdurchschnitt (Katze = 1) liegt. ZAHL DER NEURONE IM CORTEX VON SÄUGETIEREN (Roth und Dicke, 2005) ART ZAHL CORTEX-NEURONE (MILLIONEN) MENSCH 11.500 ELEFANT 11,000 WAL 10,500 SCHIMPANSE 6,200 DELFIN 5,800 RHESUSAFFE 480 KATZE 300 HUND 160 OPOSSUM 27 IGEL 24 RATTE 15 MAUS 4 Wernicke-Areal: Einfaches Wortverständnis, Lexikon Broca-Areal: Syntax, Grammatik, komplexes Wort- und Satzverständnis FUNKTIONEN DER GROSSHIRNRINDE • Detailwahrnehmung • Verarbeitung großer, multimodaler Datenmengen • Semantisch tiefe Verarbeitung • Schnelles Erfassen der Verhaltensrelevanz von Sachverhalten • Komplexe mittel-und langfristige Handlungsplanung • Abwägen von Handlungsalternativen und ihrer individuellen und sozialen Konsequenzen EVOLUTION DES FRONTALHIRNS BEI SÄUGERN (aus Wise, 2008) Funktionale Gliederung der Großhirnrinde BEWEGUNGSVORSTELLUNGEN MOTORIK SOMATOSENSORIK KÖRPER RAUM SYMBOLE DENKEN PLANUNG ENTSCHEIDUNG ARBEITSGEDÄCHTNIS SEHEN SPRACHE BEWERTUNG SOZIALE REGELN AUTOBIOGRAPHIE OBJEKTE GESICHTER SZENEN HÖREN/SPRACHE PET-Untersuchungen zum Nachweis einer „generellen Intelligenz“ (Duncan et al., Science 289 (2000)) Allgemeine Intelligenz korreliert am besten mit der Effektivität des Arbeitsgedächtnisses. Das Arbeitsgedächtnis besteht aus einem verbal-auditorischen und einem visuellen Teil. Es ist in seinen Ressourcen und seiner Geschwindigkeit hochgradig beschränkt und stellt beim Problemlösen den kognitiven „Flaschenhals“ dar. Untersuchungen zeigen, dass intelligente Menschen ein effektiver arbeitendes Arbeitsgedächtnis haben als weniger intelligente. Arbeitsgedächtnis als Integrationszentrum von Wissensinhalten, die über die gesamte Großhirnrinde verteilt sind. Expertenwissen Arbeitsgedächtnis Je dicker die Myelinschicht, desto schneller die Leitungsgeschwindigkeit Eine Dendrogliazelle umhüllt mehrere Axone auf eine Länge von 1-2 mm. Durchmesser (µm) 1- 3 2- 5 10 - 20 Leitungsgeschwindigkeit nicht myelinisiert myelinisiert 5 - 20 10 - 30 60 -120 Roland Grabner, Universität Graz, Aljoscha Neubauer, Universität Graz, Elsbeth Stern, MPI Berlin/ETH Zürich Vergleich der kortikalen Aktivierung von überdurch-schnittlich und unterdurchschnittlich intelligenten Taxifahrern bei der Bearbeitung von Aufgaben zum Taxifahren und beim Lösen von Intelligenztestaufgaben Grabner, R., Stern, E., & Neubauer, A. (2003). When intelligence loses its impact: Neural efficiency during reasoning in a highly familiar area. International Journal of Psychophysiology, 49, 89–98 IQ niedrig IQ hoch Taxifahrer-Aufgabe (Berufsroutine) Intelligenz-Aufgabe Säugetiere und hier besonders Primaten besitzen gegenüber den anderen Wirbeltieren eine schnelle rückläufige Verbindung zwischen exekutiven und motorischen Cortex und den Basalganglien (i.W. Nucleus caudatus, Putamen, Globus pallidus) mit dem Thalamus als Umschaltstation. Entscheidungs- und Handlungsflexibilität des Menschen ist wesentlich an eine Steigerung dieser Verbindung gebunden. Im menschlichen Gehirn finden sich vielfache parallele „Schleifen“ zwischen Cortex, Basalganglien und Thalamus. BASAL GANGLIA QUERSCHNITT DURCH DAS MENSCHLICHE GEHIRN AUF HÖHE DES CORPUS STRIATUM Nucleus caudatus Putamen Globus pallidus Verbindungen zwischen Cortex und Striatum bei Säugern/Primaten und bei anderen Wirbeltieren CORTICOSTRIATÄRE BAHN IM MENSCHLICHEN GEHIRN VIELFACHSCHLEIFEN DER WILLKÜRMOTORIK DES MENSCHEN FUNKTION DER BASALGANGLIEN Die Basalganglien sind wesentlich an der Planung und der Kontrolle „gewollter“ Bewegungen, an der bewussten Verhaltensanpassung und am motorischen Lernen beteiligt. Sie bilden eine Art Handlungsgedächtnis, d.h. sie speichern alle Handlungen ab, die erfolgreich ausgeführt wurden. Sie „enthemmen“ gezielt die gewünschten Bewegungen und unterdrücken die nicht gewünschten Bewegungen. Die Basalganglien sind wesentlich an der Entstehung des „Bereitschaftspotenzials“ beteiligt, das jeder Willkürhandlung vorhergeht und von dem Gefühl begleitet wird, die intendierte Handlung gewollt zu haben. BEREITSCHAFTSPOTENZIAL WILLENTLICHE HANDLUNGSENTSCHEIDUNGEN supplementärmotorisches Areal primärer motorischer Cortex somatosensorischer Cortex posterior-parietaler Cortex präfrontaler Cortex THALAMUS Nucleus ventralis lateralis/anterior Nucleus mediodorsalis Pyramidenbahn Globus pallidus Nucleus centromedianus LIMBISCHES SYSTEM HC, AMY, NACC, VTA Nucleus subthalamicus BASALGANGLIEN Ncl. caudatus Putamen Substantia nigra ZUSAMMENFASSUNG II Das Gefühl, willensfrei zu handeln, ist an das Vorhandensein realer Handlungsoptionen gebunden, zwischen denen man aufgrund personaler Motive und mentalen Abwägens entscheiden kann. Dies setzt besondere Fähigkeiten wie Theory of Mind, Ich-Identität, Wissensattribution, Empathie, Imitation, mentale Repräsentation und geistiges Abwägen, Sprache und Handlungsplanung voraus. Wichtigste Voraussetzungen sind hierfür ein effektives Arbeitsgedächtnis und eine flexible Interaktion zwischen der exekutivmotorischen Großhirnrinde und den Basalganglien. Hierdurch wird auch eine „Abstimmung“ zwischen bewussten und unbewussten Motiven erreicht. All dies ist vereinbar mit der Vorstellung, dass das menschliche Gehirn deterministisch arbeitet.