Einführung in die Europäische Ethnologie WS 2008/09 Prof. Dr. Johannes Moser Bitte beachten Sie, dass in diese Einführungsvorlesung Literatur von verschiedenen Kolleginnen und Kollegen eingearbeitet wurde, die nicht mehr einzeln nachgewiesen werden kann. In der Literaturliste sind alle entsprechenden Titel genannt. Die Inhalte auf diesen Folien entstammen daher nur teilweise eigenen , Forschungsleistungen, weshalb diese Folien nicht zitierfähig sind. Sie sind nur für die begleitende Verwendung zum Vorlesungsbesuch vorgesehen. Einführung in die Europäische Ethnologie 2 • Volkskunde/Europäische Ethnologie ist eine Disziplin, die sich im weitesten Sinn mit der Alltagskultur bzw. mit kulturellen Phänomenen in Europäischen Gesellschaften in Geschichte und Gegenwart beschäftigt. • In ihrer Tradition als Volkskunde lange Zeit mehr auf die eigene nationale Gesellschaft fokussiert, hat sich der Blickwinkel in den letzten Jahrzehnten verstärkt auf kulturelle Phänomene in ganz Europa erweitert. • Im Gegensatz zu manchen anderen Kulturwissenschaften richtet die Volkskunde/Europäische Ethnologie ihr Augenmerk weniger auf die Hochkultur oder Lebenswelten der höheren Schichten, sondern auf das Denken, Handeln und Fühlen von Gruppen aus der breiten Bevölkerung. • Vor allem die symbolischen Ordnungen des Alltagslebens in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem Wandel stehen im Zentrum des Interesses, wobei die Beziehungen von Kultur, Macht und Ungleichheit eine zentrale Rolle spielen. 2 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Kultur ist ein zentraler oder wahrscheinlich der zentrale Begriff des Faches. • Für die Begriffsgeschichte von Kultur kann zunächst auf das lateinische Wort cultura verwiesen werden, mit dem die menschliche Aneignung der Natur beschrieben wird: die Kultivierung des Bodens, die Pflege der Landwirtschaft und in weiterer Folge überhaupt Fraugen der Pflege, der Veredelung und der Ausbildung von Menschen. • Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wird Kultur dann der Natur gegenüber gestellt. Kultur ist dabei das von Menschen Erschaffene, Natur das Ursprüngliche. Natur umfasst die menschliche Leiblichkeit, Kultur die humane Geistigkeit. • Herder spricht etwa von einer „Kultur des Volkes“ und versteht darunter noch Ursprüngliches und Unverbildetes. • Goethe wiederum schreibt von „Bildungskultur“ und meint menschliche Herzens- und intellektuelle Geistesbildung. 3 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Diese unterschiedlichen Semantiken, so Wolfgang Kaschuba, fließen auch in die Volkskunde des 19. Jahrhunderts ein, bleiben vielfach ungeordnet nebeneinander bestehen und werden kaum begriffs- und ideologiegeschichtlich hinterfragt. • Herders „Kultur des Volkes“ sucht nach ästhetischen Zeugnissen, nach einer natürlichen Poetik, die in Märchen und Liedtexten vermutet wird. Eine „Kulturkunde“ der frühen Landes- und Reisebeschreibungen wiederum sammelt ländliche Bräuche, populäre Sitten, Kenntnisse über den Stand der Landespflege. • Bereits hier wird klar, dass die Vorstellung einer Bildungskultur neben einer Kultur von Land und Leuten – vor allem verbunden mit dem Namen Wilhelm Heinrich Riehl – existierte. • Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts kommt dazu auch noch die politische Karriere von Kultur, die als „Deutsche Kultur“ zum Synonym für einen Nationalismus wurde, dem zunächst noch sie staatlich-politische Gestalt fehlte. 4 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Neben der Vorstellung von materieller und geistiger Kultur wirkte auch jene von niederer und hoher Kultur lange weiter. • Riehl unterschied Bildungsgut vom primitiven Gemeinschaftsgut, Friedrich Naumann sprach von gesunkenem Kulturgut und sah die schöpferische Kompetenz bei den oberen Schichten. • Erst die Reformdebatten seit den 1960er Jahren führten zu einem reflektierten Kulturbegriff, was auch Auswirkungen auf Fragestellungen und Betrachtungsweisen hatte. • Die Volkskunde hatte sich seit ihrer Etablierung für Veränderungsprozesse interessiert, zunächst aber noch mit einem sentimentalen und bewahrenden Blick, dann interessierte sie sich dafür, wie die Veränderungen von Menschen wahrgenommen werden, welche Bedeutungen die Menschen diesen Veränderungen beimessen und welche Handlungsoptionen sich daraus ergeben. • Die Diskussion um den Kulturbegriff wie das Fach insgesamt wurde durch verschiedene theoretische Konzepte beeinflusst. 5 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Eines dieser Konzepte ist das der Zivilisation von Norbert Elias. • Norbert Elias (1897-1990), als Sohn jüdischer Eltern in Breslau geboren, 1915 Abitur, bis 1917 Kriegsdienst. Er studierte in Breslau, Heidelberg (u.a. bei Karl Jaspers), Freiburg im Breisgau (u.a. bei Edmund Husserl). Er promoviert 1922 mit der Arbeit „Idee und Individuum. Eine kritische Untersuchung zum Begriff der Geschichte“. • 1924 ging er wieder nach Heidelberg, arbeitete für Karl Mannheim und saß im Oberseminar bei Alfred Weber. • Er folgte dann Karl Mannheim nach Frankfurt am Main, wo er 1932/ 33 seine Habilitationsschrift „Der höfische Mensch“ einreichte. Für die Lehrbefugnis fehlte nur noch die Antrittsvorlesung, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen. • Elias floh nach Frankreich und 1935 weiter nach England. Dort schrieb er – im Lesesaal des British Museum – sein zweibändiges Werk „Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen“ (1936; publiziert 1939). 6 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Elias schlug sich mit Unterricht an Volkshochschulen durch. • Erst 1954 erhielt er eine Dozentenstelle am Department of Soziology der Universität Leicester, wo er bis 1962 unterrichtete. Bei ihm studierten etwa Anthony Giddens und Martin Albrow. • Von 1962 bis 1964 hatte er eine Professur an der University of Ghana in Accra inne. • 1965 kam er als Gastprofessor an der Universität Münster erstmals seit seiner Flucht nach deutschland zurück. • Seit 1975 hatte er seinen Hauptwohnsitz in den Niederlanden und erst in den 1970er Jahren wurde aus seinem „Prozeß der Zivilisation“ ein wissenschaftlicher Bestseller. • 1977 erhält Elias den ersten Adorno-Preis und von 1978 bis 1984 arbeitet er am Zentrum für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld und an der Ruhr-Universität Bochum. • Bis zu seinem Tod im Jahr 1990 in Amsterdam arbeitete er unermüdlich an seinem Werk weiter. 7 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Sein Hauptwerk ist der „Prozeß der Zivilisation“, das nachhaltigen Einfluß auf die Sozial- und Geisteswissenschaften ausübte. • Im Grunde geht es dabei darum, die Veränderungen menschlichen Verhaltens, der Empfindungen und Affekte als einen Zivilisationsprozess zu verstehen. • Zivilisation ist für Elias dabei die langfristige Umwandlung von Außenzwängen in Innenzwänge. • Elias beschreibt "Zivilisierung" als einen langfristigen Wandel der Persönlichkeitsstrukturen, den er auf einen Wandel der Sozialstrukturen zurückführt. • Faktoren des sozialen Wandels sind der kontinuierliche technische Fortschritt und die Differenzierung der Gesellschaften einerseits sowie der ständige Konkurrenz- und Ausscheidungskampf zwischen Menschen und Menschengruppen andererseits. 8 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Diese führen zu einer Zentralisierung der Gesellschaften (Einrichtung staatlicher Gewalt- und Steuermonopole) sowie zur Geldwirtschaft. • Das Bindeglied zwischen diesen sozialstrukturellen Veränderungen und den Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur ist die Tatsache, dass die gegenseitigen Abhängigkeiten wachsen, durch die "Inter-aktionsketten", in die Menschen eingebunden sind. • Dies erzwingt eine zunehmende Affektkontrolle, d.h. zwischen spontanem emotionalem Impuls und tatsächlicher Handlung tritt immer mehr ein Zurückhalten dieses Impulses und ein Überdenken der (Rück)Wirkungen des eigenen Handelns. 9 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • • • • • Das hat verschiedene Folgen: das Sinken der Gewaltbereitschaft; das Vorrücken der "Schamschwellen"; das Vorrücken der "Peinlichkeitsschwellen"; eine "Psychologisierung", d.h. die Steigerung der Fähigkeit, die Vorgänge innerhalb anderer Menschen zu verstehen; • eine "Rationalisierung", d.h. eine Steigerung der "Langsicht", also der Fähigkeit, die Folgen der eigenen Handlungen über immer mehr Glieder der Kausalketten vorauszu"berechnen". • Elias zeigt "wie etwa von den verschiedenen Seiten her Fremdzwänge sich in Selbstzwänge verwandeln, wie in immer differenzierterer Form menschliche Verrichtungen hinter die Kulisse des gesellschaftlichen Lebens verdrängt und mit Schamgefühlen belegt werden, wie die Regelung des gesamten Trieb- und Affektlebens durch eine beständige Selbstkontrolle immer allseitiger, gleichmäßiger und stabiler wird." 10 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Für Elias bestimmt eine fundamentale dynamische Verflechtungsordnung ("Figuration") den Gang des geschichtlichen Wandels; "sie ist es, die dem Prozess der Zivilisation zugrunde liegt." • Diese Verflechtungsordnung ist recht einfach: "Pläne und Handlungen, emotionale und rationale Regungen der einzelnen Menschen greifen beständig freundlich oder feindlich ineinander." • Aber er weist auch darauf hin, "dass sich aus allem Planen und Handeln der Menschen vieles ergibt, was kein Mensch bei seinem Handeln eigentlich beabsichtigt hat“. • In der Entwicklung der abendländischen Gesellschaft "differenzieren sich die gesellschaftlichen Funktionen unter einem starken Konkurrenzdruck mehr und mehr." Die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Funktionen bestimmt die Richtung der "Veränderung des Verhaltens im Sinne einer immer differenzierteren Regelung der gesamten, psychischen Apparatur." 11 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Diese differenziertere und stabilere Regelung wird dem einzelnen Menschen von klein auf mehr und mehr, als ein Automatismus angezüchtet, "als Selbstzwang, dessen er sich nicht erwehren kann, selbst wenn er es in seinem Bewußtsein will." • "Die fortschreitende Differenzierung der gesellschaftlichen Funktionen ist nur die erste, die allgemeinste der gesellschaftlichen Transformationen. ... Mit ihr, ... geht eine totale Umorganisierung des gesellschaftlichen Gewebes Hand in Hand." • "Die eigentümliche Stabilität der psychischen Selbstzwang-Apparatur, ..., steht mit der Ausbildung von Monopolinstitution der körperlichen Gewalt und mit der wachsenden Stabilität der gesellschaftlichen Zentralorgane in engstem Zusammenhang.“ • In früheren Gesellschaften lebt der Einzelne ungeschützter. Auf der einen Seite war er freier, sich der Lust hinzugeben, auf der anderen Seite war er gefährdeter durch Feinde oder Naturphänomene. Es war ein Leben zwischen Extremen. 12 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Elias behauptet nicht, dass es früher keine Formen von Selbstzwängen gegeben hätte, aber es "ist ein anderer Typus von Selbstbeherrschung oder Selbstzwang." Der neue Typus ist nicht mehr so ausgelassen, nicht mehr so extrem in den Schwankungen - zwischen Lust und Unlust, Freude und Leid -, sondern bewegt sich auf einer mittleren Linie. • Elias beschrieb also eine Entwicklung hin zur Individualisierung, die die Ausbildung individueller Fähigkeiten ebenso befördert wie die Anpassung von Verhaltensstandards. • Die Geschichte der Zivilisierung sieht er als einen „sozio- und psychogenetischen Vorgang“, als einen Prozess der gesellschaftlichen Verhaltenskonditionierung, der sich in moralischen Strategien der Bedürfnis- und Triebkontrolle niederschlägt. • Der „Prozeß der Zivilisation rief natürliche auch viele Kritiker auf den Plan. Vor allem der Ethnologe Hans Peter Duerr versuchte, den Zivilisationsprozess als Mythos zu entlarven. 13 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Dieser Mythos, so Duerr, besage, dass die derzeitige Domestikation unserer tierischen Natur das Ergebnis eines langwierigen Prozesses sei, der im westlichen Europa gegen Ende des Mittelalters und bei den „primitiven Völkern“ erst in jüngster Zeit begonnen habe. • Vor allem wehrt sich Duerr nicht zu Unrecht gegen ein Zerrbild fremder Kulturen, denn Elias hat offenbar überhaupt keine rezenten ethnologischen Bücher gelesen und kommt daher zu einer ziemlichen Fehleinschätzung dieser von ihm so genannten „Primitiven“. • In akribischer Quellenarbeit widerlegt Duerr Elias, er bringt für die unterschiedlichen Epochen – sowohl in Europa als auch in der „Dritten Welt“ – Belege, die den Thesen Elias’ weitgehend widersprechen. • Während Elias unter der Rubrik „natürliche Bedürfnisse“ nachzuzeichnen versucht, wie sich gewisse Scham- und Peinlichkeitsgrenzen erst nach und nach herausbilden, kann Duerr zeigen, dass Urinieren, Defäkieren und Furzen in praktisch allen Kulturen dieser Welt mit Ekel- und Schamgefühlen sowie Peinlichkeitsschwellen besetzt ist. 14 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Andere Kritiker meinen, sein Geschichtsmodell sei zu nahe an längst überholten Evolutionstheorien. • Zudem wird der Verdacht geäußert, Elias habe seine Belege zu sehr an die bereits bestehende Theorie angepasst.. • Ein anderer Kritikpunkt bezieht sich darauf, wie Elias seine an der Oberschicht gefundenen Befunde auf andere Schichten und Milieus sowie auf andere Völker und Kulturen überträgt. • Durch seine übervereinfachende Modellkonstruktion, so ein letzter hier zu erwähnender Kritikpunkt, geraten aber auch einzelne Befunde von Elias in ein schiefes Licht, weil damit Entwicklungen nicht gedeutet werden können, die seiner Konstruktion zuwiderlaufen – z.B. im Bereich der wieder liberaler gewordenen Vorstellungen und Praktiken in Bezug auf Nacktheit oder Sexualität. • Die Zivilisationstheorie sollte aber dennoch nicht zu gering geschätzt werden, weil sie gewisse Perspektiven eröffnet. 15 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Ein Erbe von Elias Theorie liegt in einer nachdrücklichen Orientierung an gesellschaftlichen Prozessen – Prozesse, die niemals zu Ende sind und laufend beobachtet aber ebenso gestaltet werden können. • Ein anderer zentraler Punkt ist sicherlich die Beobachtung, dass eine Verlagerung der Kontrolle durch andere von einer Selbstkontrolle – der so genannten Selbstzwangapparatur – abgelöst wird. Damit ist auch jene Entwicklung zur Individualisierung angedeutet, die spätestens seit Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ auf der Agenda der Sozialwissenschaften steht. • Schließlich war Norbert Elias ein großer Intellektueller, der mit seinem Spätwerk noch zu überzeugen wusste und neben der Zivilisationstheorie eben noch andere wichtige Bücher verfasste: seine wissenssoziologischen Studien „Engagement und Distanzierung“ und „Über die Zeit“; „Die Gesellschaft der Individuen“; Studien über die Deutschen“ und zusammen mit John Scotson das Buch „Etablierte und Außenseiter“, um nur einige zu nennen. 16 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • In den 1970er Jahren beeinflussen aber auch andere Debatten die Kulturwissenschaften – so insbesondere die unter dem Namen „Cultural Studies“ bekannt gewordene Richtung. • Der Ursprung dieser Debatte ist vor allem mit drei Namen verbunden, die auch als die Gründungsväter der Cultural Studies gelten: Richard Hoggart, Raymond Williams, und Edward P. Thompson. • Raymond Williams (1921 – 1988): „Culture and Society“ (1958) • Edward Palmer Thompson (1924 - 1993) • Richard Hoggart (* 1918): „The Uses of Literacy“ (1957), Begründer des Centre of Contemporary Cultural Studies (CCCS) in Birmingham • Alle drei Wissenschaftler verabschieden sich von einem Verständnis von Kultur, das sich ausschließlich auf ästhetische und intellektuelle Werke und Prozesse bezieht. • Hoggart und Williams waren so genannte scholarship boys (Schulstipendiaten), die aus dem Arbeitermilieu stammten 17 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Der scholarship boy war so etwas wie die soziale Figur des marginal man nach Robert E. Park. Dabei handelt es sich um eine Person, die sich im Grenzbereich zweier Kulturen befindet, an beiden teilhat, aber keiner wirklich angehört. • Williams meint in einem programmatischen Essay aus dem Jahr 1958 „Culture is ordinary“, Kultur also etwas alltägliches. • Damit werden die gelebten Erfahrungen und das Alltagshandeln als sozial bedeutsame und kulturell bedeutungsvolle Praxen thematisiert. • Williams prägte die vielzitierte Definition von Kultur als "umfassende Lebensweise", "als Weg, alle unsere gemeinsamen Erfahrungen darzustellen". • Für Hoggart wiederum spielte die Bildung die entscheidende Rolle für den Aufbau einer gerechteren und demokratischen Gesellschaft. • Sein Buch „The Uses of Literacy“ ist ein Textbuch zur Populär- und Massenkultur, dem er allerdings einen ethnographischen Teil voranstellt, der die Rezipienten dieser Massenpublikationen beschrieb. 18 • • • • • • Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur Hoggart beschreibt den Schauplatz und die Protagonisten, deren Denk- und Sprachmuster, Alltagsleben und Freizeitvergnügen. Dieser Teil kann als eine authentische Beschreibung der Arbeiterkultur der Zwischenkriegszeit gelten – von den kühnen Tapetenmustern bis zum Einkauf im Woolworth, von den Gerüchen bis zur „debunking art“, der volkstümlichen Kunst des Verarschens. Ihn zeichnete, wie Rolf Lindner meinte, „eine Aufmerksamkeit für die scheinbar nebensächlichsten und minderwertigsten Untersuchungsgegenstände“ aus. Bei Hoggart verfügen die Dinge über eine emotionale Sprache, allem Dekorativen kommt großer Glanz zu. Die Nippes sind Zeichen für die guten Zeiten, zeugen von Rummelplatzbesuchen, von Ausflügen etc. Für Hoggart sind es die Prinzipien der Selbstachtung, der Geselligkeit, auch der Kumpanei, des „leben und leben lassen“, die den Bezug zur Massenkultur und zu den „wirklichen Dingen“ regulieren. Keine Rede ist bei ihm vom so genannten Notwendigkeitsgeschmack der „populären Klasse“, sondern diese ist ganz im Gegenteil trotz aller ökonomischen Zwänge in der Lage, „ihren Mitgliedern Selbstachtung und Würde zu verleihen“. 19 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Bei Hoggart ist das angelegt, was Stuart Hall insgesamt zum Kulturverständnis der Cultural Studies meinte: „Das heißt, dass die Kultur eher im Hinblick auf ihre Beziehung zwischen einer sozialen Gruppe und den Dingen, die deren Lebensweise ausdrücken, betrachtet werden muß als im Hinblick auf die Dinge selbst – also nicht das Bild, der Roman, das Gedicht, die Oper, sondern die Beziehung zu der sozialen Gruppe, deren Leben sich in diesen Objekten widerspiegelt. Dann kommt die Kultur den historischen und sozialen Verhältnissen sehr viel näher, und ich glaube, dass an diesem Punkt die ‚anthropologische Definition der Kultur’, wie sie gelegentlich in England bezeichnet wird, einsetzen kann. • Dahinter steht das Theorem der kulturellen Homologie, was bedeutet, dass Artefakte, Kunstwerke und Konsumobjekte den Vorstellungs- und Handlungsmustern von Personen und Gruppen entsprechen müssen. • Damit sind aber auch allzu einfache Vorstellungen von der Manipulation der Konsumenten und Rezipienten in Frage gestellt. Konsum wird hier – und diese Auffassung ist einflussreich bis heute – als ein Akt der Aneignung verstanden, durch den ein Objekt adaptiert und modifiziert werden kann. 20 • • • • • Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur Auch der Beitrag von Edward P. Thompson wird unter dem engeren Kreis der Cultural Studies-Vertreter häufig unterschätzt. Thompson war wahrscheinlich am besten für seine historischen Arbeiten über die britischen radikalen Bewegungen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts bekannt, insbesondere für sein Buch The Making of the English Working Class (1963, dt. 1987), das Historiker der Arbeiterbewegung auf der ganzen Welt beeinflusste. Auch für Thompson konstituierte sich Kultur „in den Werten und Sinngebungen, die soziale Gruppen und Klassen in der Auseinandersetzung mit gegebenen Bedingungen entwickeln und zum Ausdruck bringen“. Seine Geschichtsschreibung von unten stellte „die Herausbildung der englischen Arbeiterklasse als einen dialektischen Prozeß dar: als Formieren der Klasse durch externe determinierende Faktoren, vor allem aber auch als einen Akt der Selbstschöpfung und Identitätsbildung“. Sein Konzept der „moralischen Ökonomie“, das er für das Verhalten der englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert entworfen hat, ist bis heute einflussreich. 21 • • • • • • Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur Es ging ihm um eine Betrachtung von gewissen Vorgängen in der Geschichte – konkret um so genannte Lebensmittelunruhen –, die er nicht lediglich mit Reaktionen auf elementare ökonomische Stimuli erklärt wissen wollte. Vielmehr verweist Thompson darauf, dass der Mensch ein komplexes soziales Wesen sei, dessen Handlungen und Reaktionsweisen eben auch Vorstellungen von Legitimität beinhalten. Thompson versteht unter Legitimitätsvorstellungen, dass die Männer und Frauen in einem Bewusstsein handelten, traditionelle Rechte und Gebräuche zu verteidigen, und dass sie sich dabei auf die breite Zustimmung des Gemeinwesens stützen konnten. Die Jugendkulturforschung ist ein Paradebeispiel für die Forschungen des CCCS. Die Forscher stießen zunächst auf das Problem, dass die Jugend als eine mehr oder weniger homogene Gruppe gesehen wurde, die – in etwa – derjenigen einer Klasse entsprach. Außerdem wurde die Adoleszenz als eine schwierige Zeit und Übergangsphase zum Erwachsenensein eingeschätzt. 22 • • • • • • Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur Die Forscher des CCCS beobachteten allerdings die Heterogenität der Jugend und den Einfluss des Klassenbewusstseins auf die Prägung des Generationenbewusstseins. So gelangten sie zu der Erkenntnis, dass von einer homogenen Generation keine Rede sein kann. War die Klasse zunächst nur eine sekundäre Variable, die hauptsächlich als Vermittlerin von Generationenerfahrungen relevant ist, so hat sich dann die Grundannahme durchgesetzt, dass das Genera-tionsbewusstsein fest mit einem Klassenbewusstsein verankert ist und die kulturellen Artikulationen daher unterschiedlich sind. Es wurde also nicht mehr von einer Jugendkultur, sondern nur noch von Jugend-Subkulturen gesprochen. Die Entstehung der Jugend-Subkulturen konnte dann auf die gleiche Art erklärt werden wie die Entstehung von Klassenkulturen. Die Vertreter des CCCS gehen davon aus, dass in einer Gesellschaft mehrere Kulturen existieren, die in Herrschafts- und Unterordnungsbeziehungen zueinander stehen, dass sie quasi einen permanenten Konflikt miteinander austragen. 23 • • • • • • • Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur Die mächtigste der „Kulturen“ ist die so genannte dominante, die herrschende Kultur. Als Stammkultur (auch „parent culture“) bezeichnet man die Klassenkulturen, da die sozialen Klassen die wichtigsten Gruppen in modernen Gesellschaften bilden und diese damit die fundamentalsten kulturellen Artikulationen liefern. In kapitalistischen Gesellschaften stellt die bürgerliche Klasse die dominante Kultur dar. Gleichzeitig kann natürlich auch die bürgerliche Kultur als Stammkultur bezeichnet werden, jedoch wird in der Regel die Funktion als dominante Kultur diejenige der Stammkulturen überlagern. Die Jugend-Subkulturen sind in diesem System von Klassenkulturen Subsysteme. Es sind kleinere, stärker lokalisierte und differenzierte Strukturen innerhalb der Stammkultur, aus der sie erwachsen und bilden eigenständige Teile derselben. Subkulturen weisen eine eigenständige Struktur und Gestalt auf, anhand derer sie von ihrer Stammkultur zu unterscheiden sind. 24 • • • • • • Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur Sie müssen um gewisse Aktivitäten und Werte, um bestimmte Formen des Gebrauchs von materiellen Artefakten, um gewisse Territorien zentriert sein, welche sie eindeutig von der umfassenderen Kultur – nämlich der Stammkultur – unterscheiden. Da es sich aber auch um Subsysteme handelt, verfügen sie über signifikante Merkmale, die sie mit der Stammkultur verbinden. Wenn sich solche Subkulturen auch hinsichtlich ihres Alters von den Stammkulturen unterscheiden, dann spricht man von Jugend-Subkulturen. Jugendliche Subkulturen sind dementsprechend „generationsspezifische Subsysteme klassenspezifischer Stammkulturen“. Hier wurde erstens ein Schritt zur Auflösung der falschen Dichotomie – entweder Generation oder Klasse – getan. Zweitens liegt das besondere an der Betrachtung der Jugend-Subkulturen durch das CCCS nun darin, dass es deren doppelte Artikula-tion erkannt hat, nämlich einerseits im Verhältnis zu ihrer Stamm-kultur und andererseits in ihrer Beziehung zur dominanten Kultur. Zwei wichtige Begriffe sind in diesem Zusammenhang Hegemonie und Ideologie. 25 • • • • • • • Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur Der Begriff Hegemonie meint so viel wie Oberherrschaft. Wenn über dominante Kultur gesprochen wird, fällt häufig auch der Begriff Hegemonialkultur, was jedoch nicht immer richtig sein muss. Nach Antonio Gramsci – mit dessen Konzept die Vertreter des CCCS hier arbeiten – existiert eine Hegemonie erst dann, wenn es der herrschenden Klasse gelingt, eine untergeordnete Klasse nicht nur zu zwingen, ihren Interessen zu gehorchen, sondern die „totale gesellschaftliche Autorität“ über diese auszuüben. Hegemonie beinhaltet die spontane Zustimmung der untergeordneten zur Herrschaft der dominanten Klasse. Hegemonie ist also, um es mit Antonio Gramsci zu sagen, die „natürliche soziale Autorität“ der herrschenden Klasse. Den Boden, auf dem diese Hegemonie gewonnen oder verloren wird, bilden die gesellschaftlichen Institutionen der zivilen Gesellschaft und des Staates. Diese wiederum funktionieren zum Teil durch Ideologie, was bedeutet, dass „die in diesen Apparaten institutionalisierten Definitionen der Realität ... schließlich für die untergeordneten Klassen eine erlebte ‚Realität an sich‘ bilden“. 26 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Dieses Ideologieverständnis knüpft an Karl Marx an, der argumentierte, dass jede Klasse eine ihrer gesellschaftlichen Lage und ihren Interessen entsprechende Ideologie hervorbringt. • Die Ideologie ist demnach das Bewusstsein verschiedener Klassen, das nur dann auch ein „falsches Bewusstsein“ ist, wenn es der Aufrechterhaltung von Herrschaft dient, die der Erkenntnis gesellschaftlicher Realität widerspricht. • Ein Beispiel – im Sinne marxistischer Denker – für eine Ideologie der dominanten Kultur über und für die Arbeiterklasse wäre die Wohlstandsideologie der fünfziger Jahre. Sie wurde benutzt, um die Lücken zwischen der realen Ungleichheit und der versprochenen Utopie der Gleichheit für alle und dem stets wachsenden Konsum zu füllen und damit die hegemoniale Ordnung zu sichern. • Der Zusammenhang zwischen Hegemonie und Ideologie macht deutlich, dass vorherrschende Ideologien, also vorherrschende Realitätsdiskurse, immer auch die Interessen der herrschenden gesellschaftlichen Gruppe widerspiegeln. 27 • • • • • • Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur Der Begriff „Stil“ spielt in der Jugendkulturforschung eine besonders wichtige Rolle und es waren abermals die Vertreter des CCCS, die den bedeutendsten Beitrag zu dieser Debatte beisteuerten. Vor allem Phil Cohen, John Clarke, Dick Hebdige und Paul Willis haben sich intensiv mit Fragen der Stilanalyse auseinandergesetzt, wobei Stil zunächst immer Ausdrucksform einer Subkultur war. Dabei wurde grundsätzlich festgestellt, dass Jugendliche ihre eigenen „aus der alltäglichen Lebenswelt erwachsenen Erfahrungen, Handlungsmuster und Orientierungsweisen haben, die in ihrem Stil zum Ausdruck kommen können. Phil Cohen, der sich als erster intensiv mit den subkulturellen Stilen beschäftigt hatte, definierte die Subkultur als eine Kompromisslösung zwischen zwei gegensätzlichen Bedürfnissen: dem Bedürfnis, Unabhängigkeit und Verschiedenheit von der Elternkultur auszudrücken, und dem Bedürfnis, die elterliche Identifikation zu bewahren. Für ihn hatte Subkultur die latente Funktion, diejenigen Widersprüche auszudrücken und – wenn auch magisch – zu lösen, die verborgen oder ungelöst in der Elternkultur verblieben sind. Für John Clarke wurden die subkulturellen Stilformen in der Freizeit am sichtbarsten, wobei es sich auch bei den Freizeitaktivitäten um Formen des Ausdrucks von Erfahrungen der ganzen Klasse handelt. 28 • • • • • Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur Um den Prozess der Stilschöpfung beschreiben zu können, wurde auf den französischen Anthropologen Claude Lévi-Strauss und seinen Begriff der Bricolage zurückgegriffen. Bricolage oder Bastelei meint die Neuordnung und Rekontextualisierung von Objekten, um neue Bedeutungen zu kommunizieren, und zwar innerhalb eines Gesamtsystems von Bedeutungen, das bereits andere, den gebrauchten Objekten anhaftende Bedeutungen enthält. Objekt und Bedeutung bilden zusammen ein Zeichen, und in jeder Kultur werden solche Zeichen immer wieder zu charakteristischen Diskursformen gruppiert. Wenn aber der bricoleur das signifikante Objekt innerhalb dieses Diskurses in eine andere Position versetzt, und zwar unter Verwendung des gleichen Gesamtrepertoires an Zeichen, oder wenn das Objekt in eine andere Gesamtheit von Zeichen versetzt wird, dann entsteht ein neuer Diskurs, und eine andere Botschaft wird vermittelt.“ Der subkulturelle bricoleur muss sich auf eine grundlegende Diskursform beziehen, wenn er eine Botschaft kommunizieren will – das ist der Diskurs der Mode. 29 • • • • • Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur Wie Lévi-Strauss Mythenbastler ist auch der Subkulturbricoleur den vorhandenen Bedeutungen der Zeichen innerhalb eines Diskurses unterworfen. Das heißt, die Objekte, aus denen ein neuer subkultureller Stil zusammengesetzt wird, müssen nicht nur bereits existieren, sondern sie müssen auch allseits bekannte Bedeutungen enthalten, damit die Transformation, die sie im neuen Kontext erfahren, erkennbar ist. Die Elemente dieses subkulturellen Stils sind in der Regel Waren, die für spezifische Märkte produziert wurden. Die Waren müssen für jene Leute aber auch erreichbar sein, die sie transformieren wollen, daher bleibt ihre Verwendung immer auch in einem gewissen Klassenverhältnis. Die Schaffung von Objekten und Bedeutungen entsteht also nicht aus dem Nichts, sondern es handelt sich vielmehr um die Transformation von Gegebenem in ein Muster, das eine neue Bedeutung vermittelt. Die Elemente des Stils, das kann von der Körpersprache bis zur Kleidung reichen, sind nicht zufällig, sondern sie sind den Werten der stilbildenden Gruppe homolog. 30 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Die Elemente des Stils sind so nichts anderes als das nach außen verlagerte Selbstbild der Gruppenmitglieder. • Um gewisse symbolische Objekte zu übernehmen, muss eine Gruppe sich in den mehr oder minder verdrängten potentiellen Bedeutungen dieser Objekte wiedererkennen. • Die Gruppe muss auch über ein gewisses Selbstbewusstsein verfügen, um einen Stil schaffen zu können. • Aber die Gruppenidentität, die auch im Stil ihren Ausdruck findet, entsteht nicht nur durch gruppeninterne Prozesse, sondern auch durch die Auseinandersetzung mit anderen Gruppen. • Häufig wird diese Abgrenzung nur gegenüber anderen Jugendsubkulturen gesehen, aber sie reicht weit darüber hinaus. • Die Beziehungen der Subkultur zu verschiedenen Außengruppen manifestiert sich nicht primär in den symbolischen Aspekten des Stils (Kleidung, Musik usw.), sondern zeigt sich in der ganzen Skala von Aktivitäten, Kontexten und Objekten, die zusammen das StilEnsemble bilden. 31 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Die Elemente des Stils sind so nichts anderes als das nach außen verlagerte Selbstbild der Gruppenmitglieder. • Um gewisse symbolische Objekte zu übernehmen, muss eine Gruppe sich in den mehr oder minder verdrängten potentiellen Bedeutungen dieser Objekte wiedererkennen. • Die Gruppe muss auch über ein gewisses Selbstbewusstsein verfügen, um einen Stil schaffen zu können. • Aber die Gruppenidentität, die auch im Stil ihren Ausdruck findet, entsteht nicht nur durch gruppeninterne Prozesse, sondern auch durch die Auseinandersetzung mit anderen Gruppen. • Ähnlich wie Cohen und Clarke betont auch Dick Hebdige in seinem zum Klassiker gewordenen Buch „Subculture. The Meaning of Style“ den widerständigen Charakter subkultureller Stile. • Er versteht Stil als eine Form der Verweigerung, als eine Dialektik zwischen Aktion und Reaktion, die manche Objekte bedeutungsvoll werden lässt. 32 • • • • • • Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur Durch ein einziges Objekt, so Hebdige, können sich die Spannungen zwischen herrschenden und untergeordneten Gruppen in den aus banalen Objekten mit doppelten Bedeutungen gemachten Stilen spiegeln. Hebdige geht es dabei um Prozesse, durch die Objekte bedeutsam werden und in einem subkulturellen Stil zum Ausdruck gelangen. Dieser Prozess beginnt für Hebdige mit einem „Verbrechen gegen die Ordnung“, auch wenn diese Abweichung gering ist. Und der Prozess endet mit der Konstruktion eines Stils, der Verweigerung signalisiert. Diese Verweigerung hat gute Gründe und daher haben der Stil und die Formen seines Ausdrucks einen gewissen subversiven Charakter. Ein Beispiel bei Hebdige sind die sog. Teddy Boys oder Teds, sie rekrutierten sich aus der Schicht der ungelernten Arbeiter. Als Zeichen ihrer Ablehnung des trüben Alltags von Schule, Job und Familie legten sie sich einen übertriebenen Stil zu, der zwei unverfroren geplünderte Formen gegeneinander stellte: schwarzen Rhythm & Blues und aristokratische Anleihen in der Kleidung. 33 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Ausgangspunkt der Bewegung war ein kommerzielles Modeangebot der Schneider aus der eleganten Savile Row, die auf den Gedanken gekommen waren, um den Absatz zu heben, für den Mann auf der Straße den Edwardian Style verfügbar zu machen. • König Edward war ein Modefan und Dandy und ein bisschen das schwarze Schaf des Königshauses, wodurch er den Jugendlichen ein Rollenmodell als Provokateur war. • Durch die Verwendung seines Anzugsstils schafften sie eine ironische Identifikation. • Mittels Mode bewegten sie sich aus ihrer eigenen Klasse heraus und schufen einen städtisch-romantischen Jugendstil. • Sie trugen lange taillierte Jacken mit Weste, dazu enge Hosen, Schuhe mit breiten Bändern und weiße Hemden mit weitem Kragen sowie eine Windsorknotenkrawatte. • Die Teds übertrieben dabei die Edwardsche Vorgabe noch, wählten farbige Schnürsenkel sowie Schlipse, und sie liebten grellfarbige Wildlederschuhe. 34 • • • • • • Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur Die Frisuren dagegen blieben häufig proletarisch-pomade-glänzende Haare. Indem sie sich eine historische Mode aneigneten, bekannten sie sich nicht nur zu ihrem Außenseitertum, sondern sie verspotteten gleichzeitig die ‚gute Gesellschaft‘, der sie nicht zugehören konnten und wollten. Die Revolte lag sozusagen nicht in politischem Handeln, sondern in der verwirrenden Zitation von Modestilen, die einer anderen, der aristokratischen Klasse zugehörten. Die Teds zitieren diesen Stil nicht, um eine Klassenzugehörigkeit zu signalisieren, die ihnen nicht zusteht, sondern um die ererbten Zeichen der Kleiderordnung endgültig zu entmachten. Einen anderen Subkulturstil kreierten die Mods, sie waren in ihrer Erscheinung subtiler und zahmer: sie trugen offensichtlich konservative Anzüge in respektablen Farben und waren geradezu pedantisch sauber und ordentlich. Mit ihrem Stil konnten sie geschickt zwischen Schule, Arbeit und Freizeit lavieren – der Stil verbarg mehr, als er zeigte. 35 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Sie trieben Ordentlichkeit und Sauberkeit bis zur Absurdität und untergruben so die konventionelle Bedeutung von ‚Anzug, Hemd und Kragen. • Die Mods waren fester in Jobs eingespannt, die strenge Anforderungen an Erscheinung, Pünktlichkeit etc. hatten, weshalb sie ihre Freizeitaktivitäten auf das Wochenende verlagerten. • Diese Zeiten versuchten sie dann mit Amphetaminen auszudehnen. • Ein dritter bedeutender Stil, der in den Blick der Subkulturforscher geriet, war schließlich der Punk. • 1976 wurde in der Nähe der King’s Road in Londons Südwesten ein Stil geboren, der zusammengewürfelte Elemente aus einer ganzen Reihe heterogener Jugendstile miteinander kombinierte (in Bezug auf Kleidung, Musik etc.). • Das ganze bunte Durcheinander – mit Sicherheitsnadeln buchstäblich zusammengehalten – wurde zu jenem gefeierten und auch überaus fotogenen Phänomen, das als Punk ab 1977 die Medien und damit die breitere Öffentlichkeit eroberte. 36 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Punk reproduzierte sämtliche Kleidungsstile der Nachkriegsjugendsubkulturen und kombinierte die verschiedenen Elemente zu einer zerschnipselten Collage. • Auch der Punk hatte – wie der Rhythm & Blues der Teds – schwarze Vorbilder, nämlich den Reggae. • Reggae war als „Musik der schwarzen Bevölkerung“ ein Fremdkörper in der Hauptströmung der britischen Kultur, die ihn als eine Art Bedrohung empfand. • Damit befand sich der Reggae im Einklang mit den vom Punk aufgestellten Werten: Anarchie, Kapitulation und Untergang. • Der Punk produzierte quasi zu den Krisen des modernen Lebens (Arbeitslosigkeit, Wirtschaftskrise etc.) die entsprechenden Gegenstände und ikonenhafte Bilder (Sicherheitsnadeln, zerrissene Klamotten etc.) • Dies kann gelesen werden als Zustand völliger Isolierung und Entfremdung, als ein freiwilliges Exil, das den hoffnungslosen Zustand der weißen britischen Jugend ausdrücken sollte. 37 • • • • • • Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur Die Verbreitung subkultureller Stile durch Medien und Modeindustrien beinhaltet auch bereits ihre Auflösung. Clarke konstatiert eine Ausbeutung subkultureller Stilformen durch die dominante Kultur. Als positives Resultat dieser Ausbeutung sieht er massive kommerzielle Investitionen im Sektor der Jugendmoden. Als negative Auswirkung nennt er die Verwendung von Stil-Charakterisierungen als bequeme Stereotypen, um Gruppen, die als „antisozial“ gelten, zu identifizieren und zu isolieren. Rolf Lindner meinte, „daß auch ein subkultureller Stil den Weg alles Irdischen innerhalb der auf Neuerungen angewiesenen Konsum- und Kulturindustrie geht und schließlich als Modevariante, ein wenig geglättet, in den Regalen der Shopping Centres endet“. Darin unter anderem liegen für Clarke auch die Grenzen des Stils, wenn er darauf hinweist, dass die Klassenwidersprüche der Jugendsubkultur auch im Stil nicht gelöst werden können, weil dieser in der Freizeit entworfen wird und nicht dort, wo die Widersprüche entstehen. 38 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Paul Willis: Learning to labour. How Working Class Kids get Working Class Jobs. Aldershot 1977. • Dieses Buch behandelt die Ergebnisse eines Projekts, das zwischen 1972 und 1975 durchgeführt wurde und das den Übergang von Jungen aus der Arbeiterklasse ohne höhere Schulbildung ins Arbeitsleben untersuchte. • Methodisch arbeitete Willis mit Fallstudien, Interviews, Gruppendiskussionen und teilnehmender Beobachtung bei Arbeiterjungen während der letzten beiden Schuljahre und den ersten Arbeitsmonaten. • Der erste Teil des Buches ist eine Ethnographie der Schule, besonders der oppositionellen Arbeiterkultur in dieser. • Der zweite Teil „analysiert die innere Bedeutung, Rationalität und Dynamik der vorher geschilderten kulturellen Prozesse und erklärt, wie sie einerseits zur Arbeiterkultur im allgemeinen und andererseits – eher unerwartet – zur Erhaltung und Reproduktion der Gesellschaftsordnung beitragen“. 39 • • • • • • • Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur Wichtig ist Willis’ Verständnis des Kulturellen, das er als ein Produkt einer kollektiven menschlichen Praxis ansieht Sein Untersuchungsort ist eine archetypische englische Industriestadt und er untersuchte eine Hauptgruppe mit 12 Jugendlichen und verschiedenen Vergleichsgruppen. Die von ihm erforschten Jugendlichen sind die so genannten lads, die in der Schule eine Gegen-Kultur bilden. Die wichtigste und expliziteste Dimension dieser „Gegen-SchulKultur“ ist die tief verwurzelte Opposition gegen die „Autorität“. Diese Opposition kommt als Stil zum Ausdruck, es handelt sich beinahe um ein tägliches Ritual. Nicht alle Schüler gehören dieser Gegen-Kultur an. Die Lads sehen sich selbst als die Nonkonformisten, die sich von den Konformisten unterscheiden, die sie als „ear’oles“ (Ohrlöcher) oder „lobes“ (Lappen) bezeichnen. Konkret wird ihre Opposition in stilistisch-symbolischen Diskursen, die sich neben allgemeinen Widerstandspraktiken vor allem um drei Konsumgüter drehen: Kleidung, Zigaretten und Alkohol. 40 • • • • • Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur Für die lads gibt es den Gegensatz von Formellem (die Schule mit ihrer Struktur) und Informellem (die Gruppe mit ihrer eigen Struktur). Die lads wollen die Regeln der Schule symbolisch und physisch brechen, sie konstruieren dafür einen eigenen Tagesablauf mit eigenen Tätigkeiten. Während die Lehrer und die anderen Schüler der Auffassung sind, die lads würden ihre Zeit verschwenden, gibt es für die lads kein höheres Gut, als die Zeit miteinander zu verbringen. Das Lachen ist ein wesentlicher Aspekt für die lads, es ist das bevorzugte Instrument der informellen Gruppenstruktur, sowie der Befehl das bevorzugte Instrument der formellen Struktur der Schule ist. Obwohl sie eine Gegenposition zur Schule einnehmen, ist den lads offensichtliche Dummheit zuwider. Das Anpöbeln ist dabei eine besondere Spielart zu testen, ob jemand clever ist. Die Seele ihres Humors, so Willis, ist die Verächtlichmachung: das dauernde Aufspüren von Schwächen. Es braucht Geschicklichkeit und kulturelles Knowhow, um solche Attacken zu führen, und noch mehr, um ihnen zu widerstehen. 41 • • • • • • • Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur Auch die Gewalt spielt eine wesentliche Rolle, viele wichtige Werte finden in der Schlägerei ihren Ausdruck. In der Freizeit sind Kleidung, Musik und körperliches Gebaren von besonderer Bedeutung. Ein lad geht abends aus und entwickelt ein soziales Verständnis nicht nur für die Schule, sondern auch für die Nachbarschaft, die Straßen und die Stadt im allgemeinen. Geld spielt dabei eine wichtige Rolle, weil es die Voraussetzung für Konsum ist. Die einzige von den lads anerkannte Quelle der Weltklugheit ist die Arbeitswelt der Arbeiterklasse. Zwei Gruppen, gegen die sich die „lads“ ebenfalls definieren, sind Mädchen und ethnische Minderheiten. Eine wesentliche Erkenntnis, die Willis in seiner Untersuchung herausfand liegt in der strukturellen Ähnlichkeit, die die GegenSchulkultur mit der Betriebskultur aufweist. In den Betrieben würden die Arbeiter sich eine an sich entfremdete Situation aneignen mit einem Streifen Interesse und Abwechslung durchweben – ähnliches versuchen die lads in der Schule. 42 • • • • • Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur Willis beschreibt – wie auch andere Arbeiterkulturforscher –, dass die Arbeiter versuchen informelle Kontrolle über den Arbeitsprozess zu erlangen. Wie die Gegen-Schulkultur ist die Betriebskultur jene Zone, wo Strategien ersonnen und verbreitet werden, um der offiziellen Autorität die Kontrolle über symbolische und reale Freiräume abzutrotzen. Diese informelle Organisation unterscheidet nach Willis diese Betriebskultur von Arbeiterkulturen der Mittelschicht. Die Ablehnung der Schularbeit durch die ‚lads‘ und ihr jederzeit vorhandenes Gefühl, was Besseres zu tun zu haben, findet eine Parallele in der im Betrieb und in der Arbeiterschaft allgemein vertretenen Überzeugung, dass die Praxis wichtiger sei als die Theorie. Einerseits erkennen die Arbeiter damit zwar, dass Theorie nur dann nützlich ist, wenn sie hilft praktische Aufgaben zu lösen. Andererseits verkennen sie allerdings, dass Theorie auch unabhängig davon – nämlich in ihrer gesellschaftlichen Erscheinung als Qualifikation – ein Machtmittel zum Aufstieg auf der sozialen Stufenleiter ist. 43 • • • • Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur Willis will an seinem Beispiel die Vermittlung von Klassenkonflikten und die Reproduktion der Klassen in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zeigen. Sein Beispiel führe sogar die unbeabsichtigte Konsequenz vor Augen, wie Klassenkultur und Struktur der Gesellschaft sich selbst reproduzieren. Für das System Schule hat das massive Auswirkungen, weil der Lehrer seine Autorität nicht mit Zwang durchsetzen kann, sondern nur aus moralischen Gründen. Dafür ist er aber auf die Zustimmung der Schüler angewiesen. Die untersuchten Arbeiterjungen, die sich den dominanten Werten, dass Wissen gegen Leistung getauscht wird, verweigern und sich somit von der Schulautorität differenzieren, haben hinter sich den kulturellen Anspruch der Arbeiterkultur. Eine gewisse Zeit ihres Lebens, so Willis, glaubten die lads, in einem Turm zu hausen, in den Kummer nicht eindringen kann. Diese Zeit des unzerstörbaren Vertrauens entspricht gerade der Zeit, wo alle wichtigen Entscheidungen ihres Lebens zu ihrem Nachteil gefallen sind – und dies ist einer der Hauptwidersprüche der Arbeiterkultur und ihrer sozialen Reproduktion. 44 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Für die Lehrer ist es ebenfalls eine schwierige Situation, denn für sie ist das anerkannte Erziehungsparadigma so selbstverständlich, dass sie sein Scheitern nicht verstehen können. • Daher entwickeln sie eine sarkastische, herablassende Haltung, die auch als eine Klassen-Beleidigung verstanden werden kann. • So entsteht die Situation, dass die lads das Unterrichtsparadigma als Zwang empfinden und dagegen rebellieren, die Lehrer wiederum diese Rebellion als Bosheit empfinden, gegen die sie sich ihrerseits mit Kränkungen wehren. • Das Verhalten der lads in der Schule hat ein Äquivalent in den Betrieben, denn die Väter erzählen ihren Kindern davon, dass sie dort ebenfalls „Blödsinn“ machen. • Arbeit wird nach Willis hier auch gar nicht als Sinnerfüllung gesehen, sie dient eher als Voraussetzung zur Befriedigung gewisser Gruppenbedürfnisse. 45 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • So steht die physische Arbeit für Maskulinität und Opposition gegen die Autorität – zumindest wie diese in der Schule erfahren wird. Sie drückt Aggressivität aus; ferner ein gewisses Maß an Scharfsinn und Schläue; eine Unehrerbietigkeit, die in Worten nicht auszudrücken ist; eine spürbare Solidarität. Sie bietet das nötige Kleingeld zur Befriedigung von Erwachsenen-Bedürfnissen und demonstriert potentielle Herrschaft über Frauen, wie auch eine unmittelbare Anziehung auf diese: eine Art Machismo. • Diese Arbeiterkultur, aus der die lads also ihre kulturellen Wurzeln ziehen und die ihnen in dieser Phase des Übergangs von der Schule ins Erwerbsleben Kraft und Handlungsanleitung gibt, ist nach Willis nicht durch Überhöhung und Überlegenheit gekennzeichnet, sondern eher durch Kompromiss und Selbstbescheidung. Sie ist ein kreativer Versuch, aus schweren Bedingungen das Beste zu machen. • Eine gewisse Zeit ihres Lebens, so Willis, glaubten die lads, in einem Turm zu hausen, in den Kummer nicht eindringen kann. Diese Zeit des unzerstörbaren Vertrauens entspricht gerade der Zeit, wo alle wichtigen Entscheidungen ihres Lebens zu ihrem Nachteil gefallen sind – und dies ist einer der Hauptwidersprüche der Arbeiterkultur und ihrer sozialen Reproduktion. 46 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Die Cultural Studies Birminghamer Prägung, aber auch in der Nachfolge des CCCS haben die Kulturwissenschaften massiv beeinflusst und gemeinsam mit Erkenntnissen aus verschiedenen anderen Richtungen den Blick für folgende Aspekte geschärft: • Cultural Studies geht es unter anderem darum, darauf hat Lawrence Grossberg aufmerksam gemacht, Kultur als ein Feld zu betrachten, „in dem Macht produziert und um sie gerungen wird. Dabei wird Macht nicht unbedingt als Form der Vorherrschaft verstanden, sondern als eine ungleiche Beziehung von Kräften im Interesse bestimmter gesellschaftlicher Gruppen. • Das Projekt Cultural Studies ist also auch politisch motiviert. Es hat sich der Produktion von Wissen verschrieben, welches helfen soll zu verstehen, dass man die Welt verändern kann und wie man sie verändern kann. Stuart Hall hat einmal bemerkt, das wesentlichste Problem für die Intellektuellen wie für die Universitäten sei, zu verstehen, was das Leben, das wir leben, und die Gesellschaft, in der wir leben, zutiefst unmenschlich macht. 47 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Ein weiterer wesentlicher Punkt der Erkenntnis liegt in der Überwindung der Kulturindustriethese, die – verkürzt dargestellt – einer Manipulation der Konsumenten und Rezipienten das Wort redet. Passive Konsumenten sind demgemäß einer unaufhörlichen Flut seriell hergestellter Unterhaltungsprodukte ausgeliefert. Demgegenüber haben die Cultural Studies den eigensinnigen, widerständigen und kreativen Umgang mit den populären Medien und Konsumgütern gezeigt. • Bei den Cultural Studies ist die Popularkultur offenes Terrain, auf dem kulturell-ideologische Kämpfe ausgetragen werden, deren Ergebnis nicht von vornherein feststeht. Es ist gerade die Spannung, das Ringen zwischen Autonomie und Vereinnahmung, Authentizität und Korrumpierung, Widerstand und Anpassung, das an diesen Prozessen fasziniert. • Das Verständnis der Cultural Studies legt dementsprechend auch Wert auf die Praxis der Menschen. Zwar wird der Einfluss von kulturellen Mustern auf menschliches Handeln nicht geleugnet, aber gleichzeitig wird der Handlungsaspekt der Menschen betont und somit auch die aktive Mitgestaltung an der Strukturierung von Kultur. 48 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Schade ist, dass die Arbeiten des CCCS in der deutschsprachigen Forschung großteils ziemlich verkürzt und einseitig rezipiert wurden. Es wurde nur auf den Klassenaspekt abgehoben und damit eine Vergleichbarkeit mit deutschen oder mitteleuropäischen Verhältnissen bestritten. Diese Sichtweise verkürzt aber die grundsätzlichen Erkenntnisse des CCCS, die über den spezifischen geographischen und sozialen Kontext Großbritanniens hinausweisen. • Eine gewisse Schwäche der Jugendkulturforschung des CCCS liegt sicherlich in seiner Fokussierung auf männliche und auffällige Jugendkulturen. 49 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Nach den Cultural Studies soll als nächstes ein semiotischer Kulturbegriff diskutiert werden. • Die Definition von Kultur ist ein schwieriges Unterfangen, weil es nahezu unendlich viele Definitionen von Kultur gibt. 1952 etwa haben Alfred Kroeber und Clyde Kluckhohn in ihrem Buch „Culture“ 175 verschiedene Definitionen von Kultur aufgezählt. • Nicht alle Definitionen unterscheiden sich allerdings vollständig. • Erstens gab es so etwas wie eine totalistische Betrachtungsweise, die auf den berühmten Kulturbegriff von E. P. Tylor aus dem Jahr 1871 zurückgeht. • Nach Tylor ist Kultur „jenes komplexe Ganze, welches Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Recht, Sitte und Brauch und alle anderen Fähigkeiten und Gewohnheiten einschließt, welche der Mensch als Mitglied der Gesellschaft erworben hat“. • Diese umfassende Definition hat wiederum zwei Probleme, dass nämlich erstens alles Kultur ist und zweitens der Verweis auf das, was der Mensch erworben hat, zu wenig auf den aktiven und gestalterischen Anteil des Menschen eingeht. 50 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Zweitens gab es in diesen frühen Definitionen so etwas wie eine mentalistische Betrachtungsweise, nach der Kultur ein ideenbildendes oder gedankliches System ist, also ein System von gemeinsamen Wissensinhalten und Glaubensvorstellungen, mit Hilfe derer Menschen ihre Wahrnehmungen und Erfahrungen ordnen und Entscheidungen treffen und in deren Sinne sie handeln. • Sie ist also ein System von sozial verteilten Ideen, eine Art von gedanklichem Code, dessen sich die Menschen bedienen, um sich selbst und die Welt zu interpretieren und ihre Handlungen auszudrücken. • Kultur ist also eher ein System von Regeln oder ein Muster für das Verhalten als ein wahrgenommenes Muster des Verhaltens. • Auch hier bleiben zwei Probleme – nämlich die Frage nach der Veränderbarkeit der Regeln oder des Codes und die Frage nach der jeweiligen Praxis, ob nämlich und in welcher Form sich diese Codes und Regeln im Verhalten wirklich niederschlagen. 51 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Um dem Dilemma der Definitionen zu entkommen, hat Helge Gerndt etwa gemeint, es sei nicht notwendig Kultur zu definieren, weil Kultur der Kulturwissenschaft ebenso wenig ein scharf ausgegrenzter analytischer Begriff sein kann wie den Psychologen die „Psyche“ oder den Biologen „Leben“. Immer handle es sich um lockere Umschreibungen für Arbeitsfelder, um allgemeine Verständnisbegriffe. • Einer der erfolgreichsten Versuche, Kultur zu fassen, stammt von dem amerikanischen Kulturanthropologen Clifford Geertz. • Geertz bezieht sich auf einen semiotischen Kulturbegriff. • „Der Kulturbegriff, den ich vertrete, ist wesentlich ein semiotischer. Ich meine mit Max Weber, dass der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht.“ • Um eine Wissenschaft zu verstehen, so Geertz, müsse man sich ansehen, was diese Wissenschaftler tun. 52 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • In der Kulturanthropologie arbeiten die Praktiker ethnografisch und nach der Darstellung in den Lehrbüchern bedeutet ethnografisch zu arbeiten folgendes: die Herstellung einer Beziehung zu den Untersuchten, die Auswahl von Informanten, die Transkription von Texten, die Niederschrift von Genealogien, das Kartographieren von Feldern, das Führen eines Tagebuchs und so fort. • Aber nicht diese Techniken und Verfahrensweisen, die diese Forschungsarbeit bestimmen, sind entscheidend, sondern es sei die besondere geistige Anstrengung, die hinter allem steht, das komplizierte intellektuelle Wagnis der „dichten Beschreibung“. • Dichte Beschreibung ist jener Begriff, der heute mit Geertz assoziiert wird, obwohl er ihn von dem britischen Philosophen Gilbert Ryle (1900-1976) entliehen hat. • Ryle bringt ein gutes Beispiel dichter Beschreibung: das Zwinkern. • Stellen wir uns zwei Knaben vor, die blitzschnell das Lid des rechten Auges bewegen. Beim einen ist es ein ungewolltes Zucken, beim anderen ein heimliches Zeichen an seinen Freund. Als Bewegungen sind die beiden Bewegungen identisch. 53 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Es besteht jedoch ein gewichtiger Unterschied zwischen Zucken und Zwinkern. Das weiß jeder, der irrtümlicher Weise etwa ein Zucken für ein Zwinkern hält. • Wenn also jemand zwinkert und nicht zuckt, dann teilt er etwas auf ganz präzise und besondere Weise mit • 1. richtet er sich absichtlich • 2. an jemand Bestimmten, um • 3. eine bestimmte Botschaft zu übermitteln, und zwar • 4. nach einem gesellschaftlich festgelegten Code, ohne dass • 5. die übrigen Anwesenden eingeweiht sind. • Es ist nun nicht so, dass der Zwinkerer zwei Dinge tut – nämlich sein Augenlid bewegt und zwinkert, während der Zuckende nur sein Augenlid bewegt. Erst durch den öffentlichen Code, demzufolge das absichtliche Bewegen des Augenlids als geheimes Zeichen gilt, wird das Zucken zum Zwinkern. • Wie resümiert Geertz: Das ist alles, was es dazu zu sagen gibt: ein bisschen Verhalten, ein wenig Kultur und – voilà – eine Gebärde. 54 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Geertz und Ryle führen das Beispiel weiter und zeigen, dass man dabei auch nachahmen, parodieren oder proben kann. • Und wenn der erste Knabe gar nicht gezwinkert hätte, würden sich alle nachfolgenden Aspekte ebenfalls verschieben. • Wichtig ist nun, so Geertz, dass zwischen einer „dünnen Beschreibung“ dessen, was diese Knaben tun (nämlich schnell das Augenlid bewegen) und einer „dichten Beschreibung“ dieser Tätigkeit (z.B. so tun, als ob man zwinkerte, um jemanden Glauben zu machen, es sei eine geheime Verabredung in Gang) der Gegenstand der Ethnographie angesiedelt ist: „eine geschichtete Hierarchie bedeutungsvoller Strukturen, in deren Rahmen Zucken, Zwinkern, Scheinzwinkern, Parodien und geprobte Parodien produziert, verstanden und interpretiert werden“. • Wie wir am Beispiel des Zwinkerns deutlich erkennen konnten, ist die volkskundliche und ethnologische Forschung keine Sache der Beobachtung (so wichtig die Beobachtung als Methode sein mag), sondern eine der Interpretation. 55 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Eine Wissenschaft wie die Volkskunde oder die Ethnologie versucht, das Beobachtete zu analysieren. Nach Geertz geht es bei der Analyse um das Herausarbeiten von Bedeutungsstrukturen und das Bestimmen der gesellschaftlichen Grundlagen und Tragweite dieser Bedeutungsstrukturen. • Für ihn ist die Ethnographie dichte Beschreibung und der Ethnograph oder die Ethnographin hat mit einer Vielfalt komplexer, oft übereinander gelagerter oder ineinander verwobener Vorstellungsstrukturen zu tun. Diese sind fremdartig, ungeordnet, verborgen und sie müssen zu fassen versucht werden. • Ethnographie betreiben gleicht also dem Versuch, ein Manuskript zu lesen, das fremdartig, verblasst, unvollständig, voll von Widersprüchen, fragwürdigen Verbesserungen und tendenziösen Kommentaren ist, aber nicht in konventionellen Lautzeichen, sondern in vergänglichen Beispielen geformten Verhaltens geschrieben ist. • Geertz wendet sich gegen verschiedene ethnologische Ausrichtungen, vor allem aber gegen die kognitive Anthropologie, derzufolge „Kultur sich aus psychologischen Strukturen zusammen setzt, mit deren Hilfe einzelne Menschen oder Gruppen von56 Menschen ihr Verhalten lenken“. Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Will man auf diese Weise Kultur beschreiben, so braucht man nur ein System von Regeln aufzustellen, denen ein Mensch gehorchen muss, um als „Eingeborener“ zu gelten • Aber, das ist das Entscheidende, die Regeln sind nicht die Kultur. Kultur ist öffentlich, weil Bedeutung etwas Öffentliches ist. Man kann nicht zwinkern, ohne zu wissen, was man unter Zwinkern versteht, aber das Wissen über das Zwinkern ist nicht das Zwinkern selbst. • Wenn wir also sagen, Kultur besteht aus sozial festgelegten Bedeutungsstrukturen, in deren Rahmen Menschen sich zuzwinkern, um damit etwas zu signalisieren, so folgt daraus nicht, dass es sich dabei um ein psychologisches oder mentales Phänomen handelt. • Was uns behindert andere (oder auch die eigene) Kultur zu verstehen, ist nicht die Unkenntnis darüber, wie Erkennen vor sich geht, sondern der Mangel an Vertrautheit mit der Vorstellungswelt, innerhalb derer die Handlungen von Menschen Zeichen sind. • Mit Ludwig Wittgenstein argumentiert Geertz, das Problem beim Verständnis anderer Menschen liege nicht an fehlender Sprachkenntnis, sondern daran, dass wir uns nicht in sie finden können. 57 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Genau das sei das schwierige oder sogar entmutigende Unterfangen der Ethnologie. Und in dem Versuch festzuhalten, auf welcher Grundlage wir uns in sie gefunden zu haben meinen, besteht die ethnologische Schriftstellerei als wissenschaftliches Projekt. • Wenn wir kulturelle Phänomene untersuchen, wollen wir mit den Untersuchten nicht gleich werden und wir wollen sie auch nicht nachahmen. Wir wollen mit Ihnen ins Gespräch kommen, uns mit ihnen austauschen, und zwar in jenem weiteren Sinn des Wortes, der mehr als nur Reden meint. So betrachtet ist ein Ziel – neben anderen Zielen – der Ethnologie die Erweiterung des Diskursuniversums. Dafür eignet sich ein semiotischer Kulturbegriff besonders. • Als ineinandergreifende Systeme analysierbarer Zeichen ist Kultur ein Kontext, ein Rahmen, in dem sie verständlich beschreibbar ist. • Das Verstehen der Kultur eines Volkes (einer Gruppe, eines Milieus) führt dazu, seine Normalität zu enthüllen, ohne dass seine Besonderheit dabei zu kurz käme. 58 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Die Schwierigkeit aber, die Perspektive Handelnder einzunehmen oder einen Verstehens-Ansatz oder eine emische Analyse zu betreiben, liegt in der ethnologischen Interpretation. Ethnologische Schriften sind immer Interpretationen und obendrein solcher zweiter und dritter Ordnung. (Nur ein „Eingeborener“ liefert Informationen erster Ordnung – es ist seine Kultur). • Ethnologische Schriften sind Fiktionen, und zwar in dem Sinn, dass sie etwas Gemachtes sind, ‚etwas Hergestelltes’, nicht in dem Sinne, dass sie falsch wären oder nicht den Tatsachen entsprächen. Kultur gibt es sozusagen in der Welt, Ethnologie nur in den Repräsentationen. Die Fähigkeit des Ethnologen liegt nun darin, ob er – um auf das Ausgangsbeispiel zurückzukommen – Zwinkern von Zucken und wirkliches Zwinkern von parodiertem Zwinkern unterscheiden kann. • Nicht Kohärenz ist der Gültigkeitsbeweis für die Beschreibung einer Kultur, obwohl kulturelle Systeme ein Mindestmaß an Kohärenz benötigen. Die Gültigkeit von Interpretationen liegt nicht in ihrer zusammengefügten Stringenz. Eine gute ethnologische Interpretation „versetzt uns mitten hinein in das, was interpretiert wird“. 59 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Es gibt – nach Geertz – vier Merkmale ethnographischer Beschreibung: 1. sie ist deutend 2. was sie deutet, ist der Ablauf des sozialen Diskurses 3. das Deuten besteht darin, das „Gesagte“ eines solchen Diskurses dem vergänglichen Augenblick zu entreißen 4. sie sind mikroskopisch. • „Das soll nun nicht heißen, daß es keine groß angelegten ethnologischen Interpretationen ganzer Gesellschaften, Zivilisationen, Weltereignisse usw. geben könne.“ • Wir nähern uns umfassenden Interpretationen allerdings von der „intensiven Bekanntschaft mit äußerst kleinen Sachen“. • „Der Angelpunkt des semiotischen Ansatzes liegt, wie bereits gesagt, darin, daß er uns einen Zugang zur Gedankenwelt der von uns untersuchten Subjekte erschließt, so daß wir – in einem weiteren Sinn des Wortes – ein Gespräch mit ihnen führen können.“ 60 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • „Die Spannung zwischen dieser Notwendigkeit, ein fremdes Universum symbolischen Handelns zu durchdringen, und den Erfordernissen eines technischen Fortschritts in der Kulturtheorie, zwischen der Notwendigkeit zu verstehen und der Notwendigkeit zu analysieren, ist demzufolge notgedrungen groß und unaufhebbar zugleich.“ • Wichtige theoretische Beiträge finden sich daher immer in konkreten Untersuchungen, weshalb eine „reine Kulturtheorie“ nur sehr scher zu erbringen ist. • „Es wird also unterschieden zwischen dem Festhalten der Bedeutung, die bestimmte soziale Handlungen für die Akteure besitzen, und der möglichst expliziten Aussage darüber, was das so erworbene Wissen über die Gesellschaft, in der man es vorfand, und darüber hinaus über das soziale Leben im allgemeinen mitteilt.“ • Die Theorie der Ethnographie soll ein Vokabular bereit stellen, um das Wissen über die Rolle der Kultur im menschlichen Leben auszudrücken. • Für Geertz ist die Untersuchung von Kultur ihrem Wesen nach unvollständig. Und je tiefer sie geht, desto unvollständiger wird sie. 61 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur • Verschiedentlich wurde Kritik an Geertz geübt, weil seine „Dichte Beschreibung“ definitorische Unsicherheiten aufweise, ja sogar auf theoretische Konzepte verzichte, weil sie – in philosophischhermeneutischer Tradition – zu stark auf das „Einfühlen-Können“ setze. • Diese Auffassung ist so nicht zu teilen, denn immerhin ist die philosophisch-hermeneutische Tradition kein theoriefreies Gedankengebäude und zudem ein wichtiger Strang qualitativer Sozialforschung. • Dennoch kann zumindest angemerkt werden, dass die Betrachtung der politischen und ökonomischen Verhältnisse bei Geertz etwas unterbelichtet bleibt und eher implizit als explizit zum Ausdruck gelangt. • Zudem scheint er – in klassischer ethnologischer Tradition – manchmal untergründig noch von homogenen kulturellen Einheiten auszugehen. 62 • • • • • Einführung in die Europäische Ethnologie - Kulturanalyse Nach der bisherigen Diskussion des Kulturbegriffs soll nunmehr die Kulturanalyse als eine spezifische Form volkskundlichkulturwissenschaftlicher Forschung thematisiert werden. Für eine Kulturanalyse fordert Rolf Lindner keine Eingrenzung in ein enges disziplinäres Korsett, sondern fordert ein „Unternehmen, das sich, um der Sache willen, um disziplinäre Grenzen nicht schert“. Kulturelle Phänomene nicht für sich allein erklärt werden, sondern immer nur in ihren jeweiligen wechselseitigen Verhältnissen. Die Arbeiterkultur, die für einige Zeit ein spezifisches und wichtiges Feld der Volkskunde war, kann immer nur in Bezug auf die tonangebende bürgerliche Kultur begriffen werden, was in den Formen der Aneignung, der Neutralisierung und der Abweisung dominanter Verkehrsformen deutlich wird. Kulturanalyse erfordert daher ein Denken in Relationen, weil von der Grundannahme ausgegangen wird, dass der Sinngehalt kultureller Phänomene nur durch die Untersuchung des Beziehungsgeflechts zu entschlüsseln ist, dem diese Phänomene ihre spezifische Gestalt verdanken. 63 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kulturanalyse • Es entspricht einer Logik aller Kulturwissenschaften, nicht vor allem danach zu fragen, was Menschen tun, sondern wie sie das tun, was immer sie tun. • Der Philosoph Ernst Cassirer, eine der in der NS-Zeit emigrierten wichtigen deutsch-jüdischen Geistesgrößen, hat einen Feldbegriff entworfen, der ein Relationsbegriff ist – ein Inbegriff von Kraftlinien. • Dies hat unter anderem den französischen Soziologen und Ethnologen Pierre Bourdieu beeinflusst, der ebenfalls ein prominenter Feldtheoretiker ist. • Auch Bourdieu stellte fest, dass in Feldbegriffen denken relational denken heißt. • Dies lässt sich etwa auch in der Wissenschaftsforschung anwenden, wo es zwischen verschiedenen Feldern – wie bei Magnetfeldern – zu Anziehungs- und Abstoßungsprozessen kommen kann. Deshalb müssten die jeweiligen Konstellationen von Feldern zu einander bzw. auch von Disziplinen zu einander berücksichtigt werden. 64 • • • • • Einführung in die Europäische Ethnologie - Kulturanalyse Dieses Denken in Konstellationen, in Nachbarn, Konkurrenten und Vorbildern ist aber über die Wissenschaftsforschung hinaus als heuristisches Mittel fruchtbar. Um dies zu verdeutlichen bringt Rolf Lindner ein Beispiel, und zwar die Festivalisierung bzw. Karnevalisierung der Berliner Stadtpolitik. Love Parade, Christopher Street Day und Karneval der Kulturen können in ihrer Entwicklung nur im Zusammenhang mit den anderen verstanden werden. Der Berliner Karneval der Kulturen als multikulturelles Spektakel etwa gewinnt sein besonderes Profil nur in Abgrenzung zur Love Parade, aber auch zum gewöhnlichen Karneval. Das beantwortet allerdings nicht, warum dies in Berlin und nicht etwa in München stattfindet. Der Hauptstadtstatus und der damit verbundene Symbolcharakter taugt als Erklärung insofern nicht, als allein zwei der Paraden noch aus West-Berliner Zeit stammen. Auch die Überlegung, dass diese Ereignisse bewusst als Teil der neuen symbolischen Ökonomie der Städte geschaffen worden sind, trifft nicht zu. 65 • • • • • Einführung in die Europäische Ethnologie - Kulturanalyse Von besonderem Belang scheint hingegen die Tatsache zu sein, dass sich die ‚Berliner Paraden’ allesamt einem alternativ/subkulturellen Milieu verdanken. Das alte (West)Berlin als subkultureller Zufluchtsort bildete, so kann als Hypothese formuliert werden, den Nährboden für die neuen kulturellen (Re)Präsentationsformen. Häufig wird bei heutigen Darstellungen so getan, als sei es einfach eine freiwillige Entscheidung, wie etwa Städte kulturelle Phänomene generieren, dabei wird die Frage nach den Wahlmöglichkeiten überspielt. „Eine Stadt ist kein neutraler, beliebig zu füllender Behälter, sondern ein von Geschichte durchtränkter, kulturell codierter Raum. Als ein solcher ist er nicht nur ein definierter, sondern auch ein definierender Raum, der über Möglichkeiten und Grenzen dessen mit entscheidet, was in ihm stattfinden oder was in ihn projiziert werden kann.“ Kulturanalyse beinhaltet ein komplexes Vorgehen, was immer bedeutet, konkrete Phänomene wie etwa die genannten Paraden mit unterschiedlichen anderen Formen von Paraden zusammen zu denken, um eine kulturelle Spezifik herauszuarbeiten. 66 • • • • • • Einführung in die Europäische Ethnologie - Kulturanalyse Um auf den vorher eingeführten Begriff des Feldes zurück zu kommen, lautet die Aufgabe feldübergreifende Effekte zu betrachten. Dazu gehört auch der Versuch, scheinbar Unmögliches zusammen zu denken. Rolf Lindner meint, etwa den Zuhälter als Verkäufer zu begreifen und den Feldforscher als eine Art Detektiv –, weil man dadurch nicht nur die Unterschiede, sondern auch die Gemeinsamkeiten erkennen kann. Es bedarf des intellektuellen Verständnisses, dass ein Phänomen, so unwahrscheinlich es auf den ersten Blick ist, mit anderen Phänomenen zusammenhängt. Hans Ulrich Gumbrecht hat dies in einem historischen Versuch für das Jahr 1926 unternommen und sein Vorgehen ein „Experiment in historischer Gleichzeitigkeit“ genannt. Gumbrecht stellt damit im Grunde einfach die Frage, wie man nach dem Ende der „großen Erzählungen“ und dem Verblassen der großen geisteswissenschaftlichen Theoriegebäude überhaupt noch Geschichte „lehren“ kann – und suggeriert damit, dass die klassischen Antworten obsolet oder fadenscheinig geworden sind. 67 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kulturanalyse • Wenn sich also die großen Kausalitätsgebäude zunehmend als „dekonstruiert“ erweisen, wie kann man dann noch (Kultur-) Geschichte schreiben? • Seine Antwort ist verblüffend einfach: Kehren wir zurück zu den Quellen, zu den sinnlichen Qualitäten, zur konkreten Lebenswelt der Vergangenheit, schaffen wir den Eindruck, in der Vergangenheit „zu sein“, versuchen wir, die Vergangenheit im wahrsten Sinne des Wortes zu „re-präsentieren“. • Gumbrecht weiß natürlich, dass dies gar nicht gehen kann, aber er versucht ein interessantes Experiment: Er collagiert eine Fülle diskursiver Quellen wie Romane, Gedichte, Feuilletons, Reiseberichte, Zeitdiagnosen, Autobiographien, Drehbücher, Essays, Reportagen, aber auch Werbe- und Todesanzeigen zu einer Art „Zeit-Bild“, in dem gemeinsame Strukturmuster („Dispositive“) und grundlegende „Codes“ (im Sinne von immer wiederkehrenden Bedeutungszusammenhängen) sichtbar werden. • In über 51 Einträgen widmet sich Gumbrecht diesen Dispositiven und binären Codes. 68 • • • • • Einführung in die Europäische Ethnologie - Kulturanalyse Einige Einträge bei den Dispositiven lauten z.B.: „Amerikaner in Paris“, „Bergsteigen“, „Fahrstuhl“, „Ausdauer“, „Streik“, „Bars“, „Fließband“, „Mumien“, „Uhren“ oder auch „Völkerbund“, die wie in einem Lexikon in Querbezügen immer wieder aufeinander verweisen. Bei den binären Codes gibt es Einträge wie Authentizität versus Künstlichkeit, männlich versus weiblich, Zentrum versus Peripherie, Stille versus Lärm, Gegenwart versus Vergangenheit. Die Pointe dabei ist die Heterogenität der Quellenbezüge, deren einzige Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie aus dem weltpolitisch eher „unbedeutenden“ Jahr 1926 stammen, um den Blick nicht zu sehr auf gewohnte Perspektiven zu verengen. Diese Heterogenität soll irritieren und gewohnte Denkschemata aufbrechen, um die chaotische „Gleichzeitigkeit“ des zeitgenössischen Erlebens wieder nachvollziehbar zu machen. Es gelingt ihm durch dieses Verfahren, die „Paradoxien“ des „Zeitgeists“ freizulegen: So verweisen seine Quellen immer wieder auf einen „Kult der Oberfläche“ (z.B. bei den Dispositiven Pomade, Revue, Reporter, Film), andererseits aber auch auf einen Hunger nach „Authentizität“ und „Echtheit“ in einer immer stärker „vermittelten“ Wirklichkeit (z.B. bei Jazz, Bergsteigen, Boxen, Stierkampf). 69 • • • • • Einführung in die Europäische Ethnologie - Kulturanalyse Ähnlich „paradox„ erscheint der Kontrast zwischen dem semantischen Grundmuster der „Beschleunigung“ auf der einen Seite und dem der „Ewigkeit“ bzw. „Dauer“ andererseits. Durch sein gewissermaßen „ironisierendes“ Verfahren gelingt es Gumbrecht, die Auflösung traditioneller Sinngewissheiten als das durchgängige Grundgefühl der 1920er Jahre plastisch zu veranschaulichen. Gumbrechts Buch regt zu einer Vielzahl von weiterführenden Überlegungen an, und gerade die willkürliche Engführung der Untersuchung auf ein Jahr hat zu einer ungemein dichten Beschreibung der Lebenswelt geführt. Völlig neu sind all diese Beobachtungen und Thesen naturgemäß nicht, aber man hat das selten so „paradox“ verdichtet zu lesen bekommen. Besonders überzeugend sind dabei die vielfältigen Querbezüge zwischen Alltagskultur und medial-diskursvier Repräsentation, die die Einseitigkeiten der „Alltagsgeschichte“ wie auch der Ideengeschichte kunstvoll hinter sich lassen. 70 • • • • Einführung in die Europäische Ethnologie - Kulturanalyse „Medienereignisse“ werden auf den verschiedensten Ebenen von der intellektuellen Spekulation bis zur handfesten Vermarktung entfaltet: So zeigt Gumbrecht beispielsweise, wie die spektakuläre Ausgrabung der Mumie Tutenchamuns nicht nur zu vielfältigen Spekulationen über vorchristliche Kulturen, sondern auch zu einer regelrechten Welle der Kleidermode mit Tutenchamun-Motiven führte. Und ähnliches galt für den Kult um Josephine Baker, der nicht nur die theatralischen Phantasien von Intellektuellen wie Max Reinhardt entzündete, sondern sich auch in hohen Verkaufszahlen von Pomade, Platten und Puppen niederschlug. Gumbrechts Experiment in historischer Gleichzeitigkeit kann etwa dazu führen, das wiederholte Vorkommen von Topoi empirisch festgestellt werden und auf diese Weise richtungsweisende Themen einer Zeit oder Epoche erkannt werden. Lindner meint, wir können diese maßgeblichen Themen auch als „kulturelle Themen“ bezeichnen, die einer bestimmten Zeit Kontur verleihen. Dabei darf man aber nicht der Versuchung erliegen, ein zur Betrachtung stehendes Phänomen nur als typisch für eine Zeit zu betrachten und es unmittelbar aus den Zeitumständen abzuleiten, sondern es muss als auf verwickelte Weise in die Zeit verstrickt 71 gesehen werden. • • • • • Einführung in die Europäische Ethnologie - Kulturanalyse Daher stehen im Mittelpunkt der Kulturanalyse kulturelle Konstellationen, bei denen soziale, kulturelle und biographische Komponenten auf eine zeitspezifische Weise zusammen treffen. Diese Konstellationen gilt es sichtbar zu machen und ihre Logik nachzuzeichnen. Kulturanalyse ist also eine Feld-Analyse bei der kulturelle Komplexe untersucht werden. Feld-Analyse ist dabei ein methodologisches Prinzip, das auch auf den ersten Blick unkonventionelle Wege geht. Gumbrecht hat für sein vorher vorgestelltes Buch über 1926 etwa nicht nur alte Zeitungen und Bücher durchgesehen, was ja ein übliches Vorgehen ist. Er hat sich ebenfalls die zeitgenössischen Jazzproduktionen angehört, die Stummfilme gesehen, Sportarten näher betrachtet usw. Kulturanalyse bedeutet in einem gewissen Sinn also auch Hingabe. Wir müssen uns in einen Gegenstand „hineinbegeben“ und das Thema und den Gegenstand, dem wir uns widmen, auf Zeit leben. Volkskundlich-kulturwissenschaftliche Kulturanalyse im umfassenden Sinn bedeutet, seine Sinne völlig zu öffnen. Der Forscher muss sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen. Er oder sie muss ständig auf der Fährte sein, Quellen aufspüren, an nichts anderes als an seinen Gegenstand denken, um ihn „begreifen“ zu können. 72 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kulturanalyse • Nach Lindner muss der Forscher „sich heranpirschen an seinen Gegenstand, ihn umkreisen, ihn durchdringen, ihm auf verquere Weise begegnen, ihm zuweilen auch die kalte Schulter zeigen, um aus seinem Gegenteil, dem Antipoden, neue Anregungen zu gewinnen. Er wird dem Gegenstand, wenn er sich diesem in totaler Weise überlässt, an den unmöglichsten Stellen begegnen: auf dem Flohmarkt, im Kino, beim Spiel; in Kleinanzeigen, auf Comicseiten, in Videoclips; beim Musikhören, Prospekte lesen, Zeitschriften blättern.“ Nur wenn wir dies beherzigen, ist auch der Weg für den so genannten Zufallstreffer geebnet, für die Erfahrung der Serendipity. • In den Kultur- und Sozialwissenschaften bedeutet Serendipity die Fähigkeit, etwas zu finden, was man nicht gesucht hat, oder anders gesagt, eine zufällige Beobachtung von etwas, das gar nicht das ursprüngliche Ziel einer Untersuchung war, das sich bei einer genauen Analyse aber als neue und überraschende Entdeckung erweist. • Aber auch wenn sicherlich viele wichtige Entdeckungen auf diese Weise gemacht wurden (Amerika, Penicillin, Röntgenstrahlen), reicht das Warten auf den Zufall nicht aus. Vielmehr ist es nötig, sich für Neues zu öffnen, einen gewissen Forschergeist und Entdeckerfreude zu entwickeln. 73 Einführung in die Europäische Ethnologie – Dresden • Rolf Lindner/Johannes Moser (Hg.): „Dresden. Ethnographische Erkundungen einer Residenzstadt“. Leipzig: LUV 2006. • Wir haben mit einem ganzen Set von historischen und gegenwartsbezogenen Methoden gearbeitet und eine Fülle von Quellen durchforstet: Archivstudien, teilnehmende Beobachtung und „reine“ Beobachtung, Fragebogenerhebung, Interviews, Expertengespräche und Wahrnehmungsspaziergänge zählten ebenso dazu wie die Lektüre von Zeitschriften, Romanen, Marketingschriften, Werbungen, Annoncen, wissenschaftlichen Studien, Autobiografien, Werksbesichtigungen, Ausstellungsbesuche, das Sichten von Filmen und Filmmaterial. • Es gibt zwei gängige, stereotype Charakterisierungen oder Klischees von Dresden, die sich in aktuellen Stadt- und Reiseführern finden lassen, die eine ist die Bezeichnung von Dresden als „Elbflorenz“, die andere ist die Rede von Dresden als „Residenzstadt“. Mit beiden Charakterisierungen wird eine große Vergangenheit der Stadt als noch oder wieder erfahrbar behauptet, eine Vergangenheit vor allem der höfischen Pracht. • Klischees und Stereotypen sind geläufige Repräsentationen der Besonderheit und Differenz (in unserem Fall: einer Stadt), die aus der Wiederholung und Variation eines Grundthemas oder Topos resultieren. 74 Einführung in die Europäische Ethnologie – Dresden • Daraus ergibt sich eine „kumulative Textur“, wie der Soziologe Gerald D. Suttles den Prozess der sich aufschichtenden Textbausteine städtischer Repräsentation bezeichnet hat, wenn wir in unserem Projekt Bezug auf das Bild Dresdens als „Residenzstadt“ nehmen. Damit sollte die Frage aufgeworfen werden, ob sich die Geschichte Dresdens als Residenzstadt, verstanden als ein Phänomen der longue durée, nicht tatsächlich in den Habitus der Stadt und ihrer Bewohner im wahrsten Sinne des Wortes eingegraben hat. • Es geht also um eine Anthropologie der Stadt, die es sich zur Aufgabe macht, die jeweilige Individualität der in Frage stehenden Städte sichtbar zu machen. • Bei früheren Stadtforschungen wurde meist versucht, die ethnologischen Perspektiven und Forschungswerkzeuge in der Stadt zur Anwendung zu bringen, ohne den städtischen Raum selbst als Bedingungsrahmen für die untersuchten Artikulations- und Handlungsformen zu berücksichtigen. Im Dresden-Projekt sollte nicht nur das Spezifische am Gebilde ‚Stadt’, sondern auch die spezifische Stadt, in der die verschiedenen Milieus und Szenen sozusagen ‚zu Hause’ sind, die sonst untersucht werden, in den Blick genommen werden. • Es geht also um die spezifische Stadt, um das, was Urbanisten wie 75 Dieter Hoffmann-Axthelm, als ‚Stadtindividuum’ bezeichnen. Einführung in die Europäische Ethnologie – Dresden • Die Stadt als Ganzes bildete das eigentliche Untersuchungsobjekt. • Unser Ausgangspunkt war das Klischee von der fortdauernden Residenzstadt, und zwar weil wir, gewissermaßen als Arbeitshypothese, der Auffassung waren, dass der ehemalige Status der Residenzstadt bis heute tatsächlich wirkmächtig geblieben ist. • Was bedeutet aber eigentlich „Residenzstadt“? Ein guter Ausgangspunkt ist nach wie vor die Stadttypologie von Max Weber, der die Großkategorien „Konsumentenstadt“, „Produzentenstadt“ und „Händlerstadt“ beziehungsweise „Handelsstadt“ unterschieden hat. • Dabei handelt es sich um eine Kategorisierung nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten, die Folgen für den Charakter der Stadt hat. • Eine Produzentenstadt ist für Weber eine solche, die eben von Fabriken und produzierendem Gewerbe abhängig ist – heute würden wir sagen Industriestadt. • Eine Händlerstadt ist demgegenüber eine solche, „bei welcher die Kaufkraft ihrer Großkonsumenten darauf beruht, dass sie fremde oder heimische Produkte handeln. • Der dritte Typ nun ist die Konsumentenstadt, bei der die Erwerbschancen der Gewerbetreibenden und Händler von der Ansässigkeit von Großkonsumenten an Ort und Stelle abhängig ist. 76 Einführung in die Europäische Ethnologie – Dresden • Der Sozialanthropologe Ulf Hannerz hat die Webersche Typologie gewissermaßen als Paraphrase aufgegriffen, indem er Courttown (also Fürstenstadt), Commercetown (also Handelsstadt) und Coketown (also Industriestadt) als die drei wesentlichen historischen Formen des Urbanismus unterschied. • Mit dieser Typologie ist auf synchroner Betrachtungsebene ein erster, noch recht grober Verweis auf den jeweilig stadtprägenden Sektor der Ökonomie (Luxuskonsum, Handel, Industrie) gegeben. • Diese ökonomische Perspektive muss selbstverständlich in Fallanalysen differenziert und konkretisiert werden. Es macht nämlich einen grundlegenden Unterschied aus, ob in Commercetown mit Geld oder Ideen gehandelt wird oder ob Coketown durch die alten Industrien oder durch die neuen Technologien gekennzeichnet ist. • Der stadtprägende Sektor der Ökonomie schlägt sich als prägender nicht nur in entsprechenden gewerblichen und verwaltungstechnischen Einrichtungen nieder, sondern auch in Konsum-, Kultur- und Freizeiteinrichtungen, die den Bedürfnissen, Interessen und Artikulationsformen der mit den Einrichtungen verbundenen Akteure entsprechen. 77 Einführung in die Europäische Ethnologie – Dresden • Eine Stadt, deren Großkonsumenten von Industriearbeitern gestellt werden, weist ein anderes Ambiente, eine andere Atmosphäre, eine andere Geschmackslandschaft auf als eine Stadt, die durch ein „Statusverbraucherethos“ gekennzeichnet ist, wie Elias eine Gesellschaft bezeichnet hat, die um den Verbrauch von Gütern, und zwar der luxuriösen Art, aus einem Repräsentationszwang heraus, zentriert ist. • Unschwer lassen sich dafür repräsentative Orte finden: was für die eine Stadt der Tanzschuppen (dance hall) sein mag, ist für die andere der Ballsaal (ball room). • In Dresden hat der Aufwand, der am kurfürstlichen Hofe betrieben wurde, der Stadt eine bestimmte Färbung gegeben. • Besonders wichtig ist für uns in diesem Zusammenhang, dass Elemente des höfischen Lebens in die Stadtbevölkerung hineingetragen wurden. Das liegt nicht nur daran, dass Dresdens Einwohner an den rituellen Feierlichkeiten teil hatten (weil sie ja, aus Repräsentationszwang, nicht zuletzt auch für sie gedacht waren). • Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts gehörten überdies rund ein Zehntel der Dresdner Bevölkerung zu den Familien der unmittelbaren höfischen Funktionsträger, was ein unmittelbares (Mit-)Erleben des höfischen Lebens einschloss. 78 Einführung in die Europäische Ethnologie – Dresden • Eine Residenzstadt zu sein, bedeutet zunächst einmal, dass sich das ganze wirtschaftliche und soziale Leben der Stadt um die Ansprüche und Kapricen des Hofes dreht, Ansprüche und Kapricen, die sich nicht zuletzt in der Repräsentationskultur und im Luxuskonsum artikulieren. • Wenn wir uns die Entwicklung des Dresdner Handwerks und Gewerbes ansehen, so kann von einer höfisch geprägten Eigenart des Dresdner Handwerks- und Wirtschaftslebens gesprochen werden, in der das Kunsthandwerk und die Bereitstellung von Genussmitteln eine besondere Bedeutung hatten. • Ebenso wie die Residenz die Stadt prägt und wie es repräsentative Orte gibt, existieren typische Berufe. • Gehen wir von einer spezifischen Prägung von Städten aus, so korrespondieren damit eben auch typische Berufe oder Berufskulturen. • Werner Schiffauer hat den Städten vier Idealtypen von Berufskulturen zugeordnet, weil durch den jeweiligen Städtetyp eine jeweils dominante Gruppe definiert werde. • Für eine Industriestadt ist demnach die Berufskultur des Kollektivs typisch, die sich durch relative Homogenität auszeichne. 79 Einführung in die Europäische Ethnologie – Dresden • In einer Handelsstadt dominiere eine individualistische Berufskultur, die aus der Konkurrenzsituation der handelnden Akteure resultiere. Es herrsche weniger Anpassung als in anderen Städtetypen und die Kunst der Selbstinszenierung sei wichtiger als in anderen Berufskulturen. • Für Dresden als Residenz- und Verwaltungsstadt trifft Schiffauers Beschreibung einer hierarchischen Berufskultur zu, die eine Identifikation mit dem Ganzen aufweist – „sei es (in der liberalen Version) mit dem Gemeinwohl oder (in der konservativen Version) mit der Würde des Staates“. • Wollen wir die typischen Berufe in Dresden ins Auge fassen, so sind das die Beamten, der Adel, das Militär und die politisch einflussreichen Hausbesitzer. Der Adel und das Militär spielen heute keine Rolle mehr, aber der Charakter Dresdens als Residenzstadt schlägt sich auch noch im Leben der Stadt nach der Industrialisierung und sogar nach dem Staatssozialismus nieder. • Wir sind im Dresden-Projekt von der kulturanalytischen Überlegung ausgegangen, dass sich die Besonderheiten einer Stadt in einer charakteristischen Geschmackslandschaft verdichten, die in einem nicht unerheblichen Ausmaß die Atmosphäre der Stadt bestimmt. 80 Einführung in die Europäische Ethnologie – Dresden • Geschmackslandschaften gewinnen ihr charakteristisches Gepräge durch das Zusammenspiel der sie konstituierenden Elemente, die in Wechselwirkung zueinander stehen, auseinander hervorgehen und sich aufeinander beziehen. • Dies lässt sich im wirtschaftlichen Bereich verfolgen, wofür die Wirtschaftswissenschaften Begriffe wie „Pfadabhängikeit“, Synergieeffekt und ähnliches entwickelt hat. Die Genussmittelindustrie hat etwa zu einem Bild beigetragen, das auch andere Produkte den Charakter des Genusses erhielten. • Was beim Konzept der Geschmackslandschaft betont wird, ist die Vorstellung einer prästabilisierten Harmonie von Geschmacksorientierungen, ästhetischen Präferenzen und stilistischen Konventionen, bei der das eine zum anderen passt, das eine mit dem anderen auf angenehme Weise übereinstimmt, mit ihm ‚korrespondiert’, durchaus im doppelten Wortsinne. • In der Dresdenspezifischen Malerei wird dies ebenso deutlich wie in der Literatur. 81 Einführung in die Europäische Ethnologie – Dresden • In einem Gespräch mit dem aus Dresden stammenden Lyriker Durs Grünbein fragt Renatus Deckert, ob „diese lokale Mentalität, dazu der sächsische Dialekt und die Weichheit der Dresdner Topographie“, ob also „diese äußeren Bedingungen einen speziellen Ton im Schreiben“ formen, worauf Grünbein antwortet: „Untergründig ist das gewiss so. Noch deutlicher sichtbar als in der Dichtung wird das in der Malerei. [...] Diese frühe Prägung ist offenbar etwas, was man kaum abstreifen kann. Und umso vehementer man es abzustreifen versucht, desto deutlicher kehrt es wieder. Es ist der genetische Code des Künstlers, der mit seiner Ursprungslandschaft zusammenhängt, der ihm aber oft unbekannt ist.“ • Dresden bildete eine Geschmackslandschaft, die von Verfeinerungen in Handwerk, Gewerbe und in den Künsten, durchzogen war, weshalb das Habitus-Konzept von Pierre Bourdieu auch in der Stadtanalyse mit Gewinn Anwendung finden kann. • Mit dem Konzept Habitus ist immer ein Hinweis darauf verbunden, dass unser Handeln nicht voraussetzungslos ist. Stets ist damit etwas biographisch Erworbenes und geschichtlich Gewordenes gemeint, das das Handeln insofern leitet beziehungsweise kanalisiert, als es etwas Bestimmtes aufgrund von Geschmack, Neigungen und 82 Vorlieben, kurz: „Dispositionen“ nahe legt. Einführung in die Europäische Ethnologie – Dresden • Übertragbar wird der Habitus-Begriff freilich nur dann, wenn wir voraussetzen , dass auch Städte Individuen sind, mit einer eigenen Biographie (sprich: Geschichte), mit einer eigenen Sozialisation und mit ihr eigenen Mustern der Lebensführung. • Der Nutzen des Habitus-Konzepts scheint vor allen Dingen darin zu bestehen, dass man mit ihm jene Konstanz der Dispositionen, des Geschmacks, der Präferenzen erklären kann, die sonst so viel Kopfzerbrechen bereitet. • Nirgendwo wird die Konstanz, ja die Hartnäckigkeit deutlicher als in den Schwierigkeiten, die der Versuch bereitet, das Image einer Stadt oder besser: ihre verinnerlichten Muster zu verändern. • Verstehen wir den bewohnten Raum in Anlehnung an Bourdieu als sozial konstruiert und markiert, das heißt mit „Eigenschaften“ versehen, dann kann als eine zentrale Aufgabe der Stadtforschung die Untersuchung der bestimmten Ordnung und Anordnung von Eigenschaften als Spezifikum des bewohnten Raums angesehen werden. • In einem kleinen „Spiel mit Bourdieu“ haben wir bei 515 Studierenden der Europäischen Ethnologie nach den „Eigenschaften“ von acht deutschen Städten, nämlich Berlin, Dresden, Essen, Frankfurt a.M., Hamburg, Leipzig, München und Stuttgart gefragt. 83 Einführung in die Europäische Ethnologie – Dresden • Als „Eigenschaften“ wurden zur Auswahl gestellt: dynamisch, abweisend, konservativ, ordinär, freundlich, bieder, multikulturell, schön, aggressiv, alternativ, gemütlich und fleißig • Diesem Spiel liegt das so genannte Eigenschaftslistenverfahren (adjective selection technique) zugrunde, das die Psychologen Daniel Katz und Kenneth W. Braly zur Messung von Stereotypen entwickelt haben. • Der Versuch zeigt, dass sich gerade in der Konfiguration von Eigenschaftszuschreibungen sowohl in Bezug auf eine Stadt als auch im Städtevergleich etwas über diese Stadt „verrät“, so wie Stereotypen generell etwas verraten. • Insgesamt fällt bei unserer Befragung auf, dass Dresden eine Stadt ist, von der ein relativ klares Bild in den Vorstellungen der Befragten verankert ist. Dresden erreicht sieben „erste Plätze“ bei den positiven und negativen Antworten zu den abgefragten Eigenschaften. Damit rangiert es noch vor Berlin, das bei sechs Eigenschaften am häufigsten genannt wird. Weit dahinter folgen Essen, Frankfurt am Main und München, die bei jeweils drei Eigenschaften die Spitzenpositionen einnehmen. 84 Einführung in die Europäische Ethnologie – Dresden • Aussagekräftig wird dieses Spiel mit den Platzierungen jedoch erst, wenn wir die Spitzenplätze bündeln und sehen, ob sich daraus relativ kohärente Zuschreibungen an Orte ablesen lassen. • Dresden gilt als schön, freundlich und gemütlich sowie als nicht ordinär, nicht aggressiv, nicht multikulturell. München zum Beispiel als konservativ, bieder und nicht alternativ. Berlin wiederum gilt als dynamisch, multikulturell und alternativ, als nicht konservativ, nicht bieder und nicht fleißig. • Bei dieser „Clusterung“ der Eigenschaften wird viel deutlicher, als wir es vermutet hätten, über welch klar ausgeprägte Images manche Städte verfügen. Auf der einen Seite das schöne Dresden oder München mit den weiteren zu einer Residenzstadt passenden Kategorien, auf der anderen Seite die dynamische Metropole Berlin, mit der ebenfalls die entsprechenden Eigenschaften korrespondieren. • Werfen wir noch einen Blick auf die anderen Städte mit Mehrfachnennungen, so setzt sich diese Beobachtung fort. Essen wird als Ruhrgebietsstadt wahrgenommen und als abweisend, ordinär und nicht schön eingeschätzt. Frankfurt am Main hat, wenn wir es so bezeichnen wollen, ein ziemlich negatives Image, denn es gilt als aggressiv, nicht freundlich und nicht gemütlich. 85 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag • Kultur und Alltag sind zentrale Perspektiven, mit denen sich die Beziehungen zwischen Individuen und Gesellschaft sinnvoll erfassen lassen. • Alltag und Alltagskultur sind in der Volkskunde ganz selbstverständliche – sozusagen alltägliche – Begriffe, so dass sie gar nicht mehr genauer bestimmt werden. • Auch für andere Disziplinen wie Geschichte und Soziologie ist der Alltagsbegriff bedeutend. • In der Volkskunde gibt es zwar auch schon vor den 1970er Jahren Hinweise auf die Beschäftigung mit dem Alltag, so kann man – wie fast immer – bei Wilhelm Heinrich Riehl fündig werden, der über „alltägliches Daseyn“ schrieb. • Populär wurde der Begriff seit den 1970er Jahren, aber es gibt wie beim Kulturbegriff eine Fülle von Definitionen. • Norbert Elias hat 1978 in einem kurzen Überblick aufgezeigt, welche verschiedenen, sich teilweise überschneidenden Bedeutungen dem Begriff innewohnen. Und er hat deshalb auch vor der inflationären Verwendung des Begriffs gewarnt. 86 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag • Alltag unterscheidet sich nach Elias Definition vom Festtag, es umfasst den Familienalltag und die private Sphäre ebenso wie den öffentlichen Erwerbsarbeitsalltag. • Unter Alltag wird auch das Repetitive verstanden, die sich wiederholenden, routinisierten Handlungen, die dem Besonderen und Einmaligen entgegenstehen. • Oft wird unter Alltag auch das Leben der „breiten Masse“ verstanden im Gegensatz etwa zum Leben der Prominenz. • Wir müssen uns zudem vergegenwärtigen, dass die Betrachtung des Alltags auch eine Frage der Perspektive ist: Für den einzelnen Menschen sind Geburt, Krankheit, Hochzeit oder Tod ganz besondere Ereignisse im Leben, aus der Wahrnehmung der Gesamtgesellschaft und aus einer Makroperspektive stellen sie nichts anderes dar als den Alltag von Menschen. • Schließlich ist der Alltag durch eine spezifische Wahrnehmungsform gekennzeichnet: durch ein spontanes und unreflektiertes Erleben und durch besondere erfahrungsbezogene und ritualisierte Interpretations- und Verhaltensmuster. 87 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag • Die Traditionen der modernen Alltagsforschung reichen zurück bis in die 1930er Jahre, als der Philosoph Edmund Husserl seine Theorie der Lebenswelt entwarf. Diese Lebenswelt nannte er auch Alltagswelt oder beschränkte Umwelt. • Diese Theorie der Lebenswelt beschreibt die konkrete anschauliche Welt, in die der Mensch hineingeboren wird. In dieser Welt lebt und kommuniziert man mit anderen Menschen. Und diese Welt ist für das Individuum wie für alle anderen darin lebenden Menschen die unhinterfragbare Wirklichkeit. • Alltag ist demnach das selbstverständlich Hingenommene, in dem Menschen sich und andere fühlend, denkend und handelnd erleben. • Aus dieser alltäglichen „Seinsgestaltung“, wie Husserl das genannt hat, ziehen Menschen auch ihre Seinsgewissheit. Die gemeinsame Praxis verleiht nach Husserl dem Alltag eine intersubjektive „Geltungswirklichkeit“. • Für die moderne Alltagstheorie sind dann die Ausführungen von Alfred Schütz aus den 1950er Jahren zentral geworden, insbesondere seine zentralen Aussagen in dem mit seinem Schüler Thomas Luckmann verfassten Buch „Strukturen der Lebenswelt“. 88 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag • Wesentliche Elemente sind auch in dem bis heute einflussreichen Werk „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ von Peter Berger und Thomas Luckmann enthalten. • Schütz meinte, die alltägliche Lebenswelt sei jener Wirklichkeitsbereich, an dem der Mensch in unausweichlicher, regelmäßiger Wiederkehr teilnimmt. In die alltägliche Lebenswelt kann der Mensch eingreifen und er kann sie verändern, indem er in ihr wirkt. Gleichzeitig wird er in diesem Bereich in seinen freien Handlungsmöglichkeiten durch andere eingeschränkt. • Nur in der alltäglichen Lebenswelt kann sich der Mensch mit seinen Mitmenschen verständigen und mit ihnen zusammenwirken. Nur in ihr kann sich eine gemeinsame kommunikative Umwelt konstituieren. • Unter alltäglicher Lebenswelt – so Schütz und Luckmann – soll jener Wirklichkeitsbereich verstanden werden, den der wache und normale Erwachsene in der Einstellung des gesunden Menschenverstandes als schlicht gegeben vorfindet. Mit schlicht gegeben bezeichnen wir alles, was wir als fraglos erleben, jeden Sachverhalt, der uns bis auf weiteres unproblematisch erscheint. 89 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag Schütz zählt auch die „fraglosen“ Gegebenheiten der alltäglichen Lebenswelt auf, die als Totalität für das handelnde Subjekt vorhanden sind: a die körperliche Existenz von anderen Menschen b dass diese Körper mit Bewusstsein ausgestattet sind, das dem meinen prinzipiell ähnlich ist; c dass die Außenweltdinge in meiner Umwelt und in der meiner Mitmenschen für uns die gleichen sind und grundsätzlich die gleiche Bedeutung haben; d dass ich mit meinen Mitmenschen in Wechselbeziehung und Wechselwirkung treten kann; e dass ich mich – dies folgt aus den vorangegangenen Annahmen – mit ihnen verständigen kann; f dass eine gegliederte Sozial- und Kulturwelt als Bezugsraum für mich und meine Mitmenschen historisch vorgegeben ist, und zwar in einer ebenso fraglosen Weise wie die ‚Naturwelt’; g dass also die Situation, in der ich mich jeweils befinde, nur zu einem geringen Teil eine rein von mir geschaffene ist. 90 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag • Die Lebenswelt ist also eine intersubjektive Welt vertrauter Wirklichkeit, in der die einzelnen Menschen als Handelnde gefordert sind. • Für diese Lebenspraxis steht den Menschen nach Schütz der kulturell ererbte und enkulturierte Wissensvorrat zur Verfügung, aber auch die Eigenerfahrung situationaler Problemlösungen. • Es dürfte klar geworden sein, dass eine Bedingung des Zusammenlebens und der Interaktion in diesem Lebens- und Alltagsweltkonzept die Vorstellung der Wechselseitigkeit der Perspektiven ist. • Das meint, dass auch der jeweils Andere in der Lage ist, meine Perspektiven zu verstehen; ja mehr noch wird vorausgesetzt, dass die Bedeutungssysteme der miteinander interagierenden Menschen übereinstimmen. Gemeinsame Wissensbestände und Interpretationsverfahren gehören dazu. • Um nun die Komplexität des Alltags zu reduzieren und Handlungen zu vereinfachen, bedient sich das praktische Alltagsdenken bestimmter Routinen – z.B. Festlegungen, was normal ist; oder Typisierungen von Situationen und Personen. 91 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag • Alles, was in diesen Wahrnehmungen stört und fremd ist, wird ausgeblendet oder gar ausgegrenzt, weil es nicht in das vorgefasste Schema passt. • Diese Strategien und Klassifikationsmuster haben in der Literatur durchaus unterschiedliche Wahrnehmungen und Wertungen erfahren. Den einen erscheint dieser Alltag häufig borniert und blind; die anderen überbetonen den so genannten „Eigensinn“, wie Carola Lipp kritisch anmerkte. • Auf jeden Fall meint Alltag in dieser hier vorgestellten wissenssoziologischen Theorie einen besonderen Typus der Erfahrung, des Handelns und des Wissens. • Eine systematische Weiterentwicklung dieses Konzepts findet sich in der Schule des Symbolischen Interaktionismus und in der so genannten Ethnomethodologie. • Das sind – streng genommen soziologische Schulen –, die auf vielfältige Weise auch die Kulturwissenschaften beeinflusst haben. • Der symbolische Interaktionismus ist verbunden mit den Namen George Herbert Mead und Herbert Bulmer, im weitesten Sinn auch 92 mit Erving Goffman. Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag • Der symbolische Interaktionismus geht davon aus, dass die gesamte Interaktion zwischen Menschen auf dem Austausch von Symbolen besteht. • Wenn wir mit anderen interagieren, so suchen wir ständig nach Anhaltspunkten, die uns sagen, welche Art von Verhalten im betreffenden Kontext richtig ist und wie das zu interpretieren sei, was der andere meint oder beabsichtigt. • Der symbolische Interaktionismus lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Details der interpersonellen Interaktion und darauf, wie diese Details verwendet werden, um dem, was gesagt und getan wird, Sinn zu verleihen. • Der symbolische Interaktionisus konzentriert sich vor allem auf faceto-face-Interaktionen in den Kontexten des Alltagslebens. • Erving Goffman ist mit seinen Arbeiten diesbezüglich besonders prägend geworden. In der Goffmanschen Ausprägung bietet der symbolische Interaktionismus vielerlei Einblicke in die Natur unserer Handlungen im Laufe unseres täglichen sozialen Lebens. 93 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag • Goffman hat etwa für die Analyse der sozialen Interaktion auf die Begriffe des Theaters zurückgegriffen. So zum Beispiel in seinem Buch „Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag.“ Schon der Begriff der sozialen Rolle, der in den Sozialwissenschaften weit verbreitet ist, stammt aus dem Theatermilieu. • Rollen sind sozial definierte Erwartungen, die eine Person, die einen bestimmten Status oder eine bestimmte soziale Position innehat, erfüllt oder zu erfüllen hat. • Goffman verwendet ein dramaturgisches Modell, um das soziale Leben zu betrachten. So als handle es sich dabei um ein Schauspiel auf einer Bühne – oder auf vielen Bühnen, weil unser Handeln ja von verschiedenen Rollen geprägt ist, die wir zu verschiedenen Zeitpunkten einnehmen. • Menschen sind sehr sensibel gegenüber dem Bild, das andere von ihnen haben. Daher versuchen sie, diesen Eindruck zu manipulieren, damit andere Menschen in der gewünschten Form reagieren. Obwohl diese Manipulation in berechnender Weise geschehen kann, gehört es üblicherweise zu den Dingen, die wir tun, ohne ihnen besondere Aufmerksamkeit zu schenken. 94 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag • Eine besondere Unterscheidung trifft Goffman noch mit den Begriffen „Vorderbühne“ und „Hinterbühne“. • Die „Vorderbühne“ ist jener Bereich der sozialen Kontakte und Anlässe, bei denen formale und stilisierte Rollen gespielt werden. • Die Hinterbühne ist jener weniger stark formalisierte Bereich, in dem das Tun auf der Vorderbühne vorbereitet oder begleitet wird. • Ein besonders interessantes Buch von Erving Goffman heißt „Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität“. Hier zeigt Goffman, dass „normale“ Menschen Personen mit einem Stigma (eine Behinderung oder z.B. eine „soziale“ Abweichung) oft äußerst wirksam, wenn auch oft gedankenlos, diskriminieren. • Stigmatisierte Personen wissen das und unternehmen dann Versuche, das zu korrigieren. Entweder indem sie die objektive Basis ihres „Fehlers“ beheben, indem sie diesen „Fehler“ zu verstecken suchen oder etwa indem sie zu beweisen suchen, dass sie in Tätigkeitsbereichen bestehen können, von denen andere annehmen, sie könnten das wegen gewisser Einschränkungen nicht erreichen. 95 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag • Wenn jemand mit einem Stigma versuchen will, andere zu täuschen, bedarf es eines immensen Aufwandes. Was für so genannte „Normale“ Routineangelegenheiten sind, kann für einen Diskreditierbaren, also jemanden der noch nicht durch sein Stigma diskrediert ist, zu einem richtigen Organisationsproblem werden. • Das Individuum mit einem geheimen Fehler muss sich demnach der sozialen Situation in der Art eines ständigen Abtastens von Möglichkeiten bewusst sein. Die für andere unkomplizierte Welt ist es für ihn keineswegs. Was für andere trivial ist, wird für den Diskreditierbaren zum Problem. • Goffman greift immer auf eindrückliche Beispiele zurück. Sie führen ganz deutlich vor Augen, was in den theoretischen Ausführungen zur Alltags- und Lebenswelt theoretisch bereits ausgesagt wurde. • In der Alltagswelt vereinfachen wir, greifen auf Normalitätsvorstellungen und Deutungsroutinen zurück, die uns helfen, eine komplexe Umwelt in den Griff zu bekommen, in denen aber auch ein gehöriges Potential an Diskrminierungsmustern steckt. • Die Beispiele aus Goffmans Buch verraten gerade dadurch, dass sie stigmatisierte Menschen und ihre Umgangsweisen damit in den Blick 96 nehmen, wie Kommunikation funktioniert. Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag • Gerade hier setzt auch die Ethnomethodologie an. Die Ethnomethodologie ist die Untersuchung der Ethnomethoden, das sind die von Laien benutzten Methoden. • Diese Methoden werden angewandt, um den Sinn dessen, was andere Menschen tun, und vor allem dessen, was sie sagen, zu entschlüsseln. • Wir alle verwenden in der Interaktion mit anderen Menschen Methoden, um dem Handeln und Reden der anderen einen Sinn abzugewinnen, wobei wir diesen Methoden üblicherweise keine gesonderte Aufmerksamkeit schenken. • Oft können wir einer Situation nur Sinn abgewinnen, weil wir den sozialen Kontext kennen, der in den Worten selbst nicht in Erscheinung tritt. • Selbst die unbedeutendsten Formen des alltäglichen Lebens setzen ein kompliziertes gemeinsames Wissen voraus. • Die in der alltäglichen Kommunikation verwendeten Wörter haben keine präzisen Bedeutungen und was wir sagen möchten bzw. das Verständnis des Gesagten wird durch die unausgesprochenen Annahmen festgelegt, die den verschiedenen Bedeutungen zugrunde liegen. 97 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag • Wir haben also bei unserer tagtäglichen Kommunikation „Hintergrunderwartungen“ und für diese Hintergrunderwartungen etwa interessiert sich die Ethnomethodologie. • Der Soziologe Harold Garfinkel hat durch seine so genannten Krisenexperimente versucht, Kommunikationsstrukturen und Hintergrunderwartungen offen zu legen. Das funktioniert etwa in der Form, dass man den Sinn der beiläufigsten Bemerkungen und allgemeiner Kommentare nicht einfach hinnimmt, sondern ihnen nachgeht, um ihren Sinn zu präzisieren. • Die Experimente sollen dazu beitragen, die grundlegenden Modi unseres Zusammenlebens zu verstehen. • Die Stabilität und Sinnhaftigkeit unseres täglichen sozialen Lebens hängt vom gemeinsamen Besitz unausgesprochener „kultureller“ Annahmen darüber ab, was warum gesagt wird. Wären wir nicht in der Lage, diese Annahmen vorauszusetzen, wäre sinnvolle Kommunikation unmöglich. 98 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag • Jeder Frage oder jedem Beitrag zu einer Konversation müsste ein massives Suchverfahren folgen, wie es in Garfinkels Experimenten gezeigt wurde, und die Interaktion würde schlicht zusammenbrechen. • Was also auf den ersten Blick als unwichtige Konventionen der Rede erscheint, stellt sich als fundamental für das Gewebe des sozialen Lebens heraus, weshalb der Verstoß gegen Konventionen eine so ernsthafte Sache ist. • Ein anderer Ansatz der Alltagstheorie stellt eine eher gesellschaftspolitische Analyse der spätkapitalistischen Massenkonsumgesellschaften dar und kritisiert die entfremdeten Lebens- und Arbeitsbedingungen. Beispielhaft dafür steht Henri Lefèbvres „Kritik des Alltagslebens“, die viele Disziplinen beeinflusst hat. • Die Entdeckung des Alltags kann aus dieser Perspektive als das kulturelle Konstrukt einer „Generation der Entfremdung“ verstanden werden, meinte etwa die andere marxistische Denkerin des Alltags – Agnes Heller. 99 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag • So argumentierte Utz Jeggle in den „Grundzügen der Volkskunde“ schon 1978, es sei vom Alltag gesprochen worden, als er in die Krise gekommen sei, als das Gewohnte problematisch geworden sei. • Der Begriff Alltag war verbunden mit der Kritik an einem segmentierten, durch kapitalistische Produktionsverhältnisse geprägten Alltag, der nicht entlang den Bedürfnissen der Menschen organisiert war, sondern dem Dikta spätkapitalistischer Kulturindustrie folgte. • Das Thema Alltag war also politisch aufgeladen und hing in der Volkskunde – wie auch in anderen Fächern – mit der Diskussion um fachpolitische Standortbestimmungen zusammen. • In der Volkskunde geht die Rezeption des Alltagsbegriffs einher mit der Neubestimmung der Volkskunde gegen Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre. • Der Begriff Alltag tauchte programmatisch erstmals bei den Falkensteiner Diskussionen auf, bei denen 1970 über Selbstverständnis, Erkenntnisziel und Aufgaben der Volkskunde gerungen wurde. 100 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag • Gerhard Heilfurth argumentierte bereits vor Falkenstein mit dem Begriff Lebenswelt und Ina-Maria Greverus forderte 1971 eine „Wende zur Lebenswelt“, weil sie die Volkskunde geradezu als prädestiniert ansah, die „alltägliche Lebenswelt des europäischen Menschen“ zu erforschen. • Greverus legte dann bei ihrer Neuausrichtung des Frankfurter Instituts und dessen Umbenennung in „Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie“ ein klares Bekenntnis zur angelsächsischen Kultur- und Sozialanthropologie ab, deren theoretische Basis ihr geeignet erschienen, die Kultur und Alltagswelt in europäischen Gesellschaften zu untersuchen. • In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre setzte sich Greverus mit der kulturkritischen Position der neueren Alltagsdiskussion auseinander und geht – in der Tradition der Kulturkritik – von einer Trennung von Kultur und Alltag aus. • Der Alltagsbegriff verweist für sie auf eine „deformierte Umwelt“. Dem hält sie ihren Kulturbegriff entgegen, in dessen Zentrum die Vorstellung einer aktiv vom Menschen gestalteten Lebenswelt steht. 101 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag • Der Mensch war für sie „Schöpfer und Geschöpf“ der Kultur und sie betonte die „Fähigkeit des Menschen zur aktiven Anpassung, zur Gestaltung und Veränderung der Umwelt wie der eigenen Verhaltensweisen“. • In Tübingen wiederum, wo sich das Fach Volkskunde in Empirische Kulturwissenschaft umbenannt hatte, war die Erforschung des Alltags zunächst von einem politischen Emanzipationsprozess geprägt. • Später entwickelte sich daraus eine historisch orientierte Alltags- und Kulturforschung, die – vor allem durch Utz Jeggle – auch ethnopsychoanalytische Einflüsse erhielt. • Zunächst wurde – ebenfalls in der Tradition der kritischen Theorie – auf dem Hintergrund des Entfremdungsmodells argumentiert und es wurde versucht, die antagonistischen Widersprüche in der kapitalistischen Gesellschaft zu analysieren. • Danach wurde diese materialistische Alltagsforschung an die Entwicklung des Faches rückgebunden und führte zu einer verstärkten Erforschung von Gruppenkulturen. Dies zeigte sich unter anderem an der Arbeiterkulturforschung und an einer schichtendifferenzierenden Gemeindeforschung 102 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag • In Tübingen wurde die historische Dimension des Alltagskonzepts viel stärker betont als etwa in Frankfurt. • Der alltagsweltliche Zugang ist deshalb attraktiv, weil er sich den Akteuren zuwendet. Aufgegriffen wurde er auch in den Geschichtswissenschaften, die über die traditionelle Struktur- und Herrschaftsgeschichte hinaus zu den historischen Subjekten vordringen wollte. • Daraus resultierte, so könnte man im weitesten Sinn sagen, eine veränderte Wahrnehmung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Man begann unter dem Signum der Alltagsforschung, sich mit dem „Blick von unten“ zu beschäftigen. Das beinhaltete auch eine dichotome Vorstellung von Kultur und Gesellschaft mit einem klar abgegrenzten Unten und Oben. • Geprägt waren diese Formen der Alltagsforschung zunächst von der kritischen Theorie und von einem Klassenkonzept, das von kultureller Hegemonie und kulturindustrieller Manipulation ausging. • In der Arbeiterkulturforschung setzte sich dann das leninistische Zweikulturenmodell von unterdrückter und unterdrückender Klasse durch, das allerdings modifiziert wurde durch Einflüsse von Edward P. Thompson, der die Aneignungs- und Widerstandsformen der Arbeiterklasse betonte. 103 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag • Aus dem Umfeld einer Alltagsgeschichtsforschung entwickelten sich einige viel diskutierte Ansätze. Vor allem aus der Beschäftigung mit den unteren Schichten vor der Industrialisierung, also in der Frühen Neuzeit, entstanden Konzepte, die danach fragten, wie Verhaltensmuster und Mentalitäten über einen längeren Zeitraum hinweg tradiert werden. • So entwickelte sich etwa das Konzept des „Eigensinns“ der unteren Schichten. Dieser Eigensinn schreibt der Arbeiter- und Volkskultur eine inhärente Widerständigkeit gegen die herrschende Kultur zu, eine sich im Alltag formierende und formulierende Differenz, ein kollektives „Wir-Bewußtsein“. • Für diese Ausrichtung stehen etwa die Arbeiten des Historikers Alf Lüdtke, aber auch der Volkskundler und Europäische Ethnologe Wolfgang Kaschuba argumentierte in diese Richtung. 104 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Gemeindeforschungen verfügen innerhalb der Sozialwissenschaften über eine lange, innerhalb der Volkskunde/Europäischen Ethnologie immerhin über eine gewisse Tradition. • In der Alltagsethnographie der Dorf- und Gemeindeforschung ging man davon aus, „daß sich im begrenzten Ausschnitt einer dörflichen Gesellschaft deren historische Erfahrungen und soziale Ordnungen, kulturelle Verkehrsformen und soziale Gruppierungen sehr präzise beobachten und in ihrem Zusammenwirken als ein überschaubares ‚soziales‘ Universum analysieren lassen“ (Kaschuba). • Dabei gibt es ganz unterschiedliche Formen der Gemeindeforschung oder Community Studies. Die Bandbreite reicht von der Untersuchung kleiner Agrargemeinden, über rückständige Orte in urbanisierten Nationen über suburbane Gemeinden bis hin zu enthnischen Gruppierungen und Quartieren in Großstädten. In den USA wurden auch ganze Städte als communities untersucht. • Auch in der Volkskunde wurden community studies durchgeführt, besonders bekannt wurde etwa das von Tübingen aus viel untersuchte Kiebingen. 105 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Insbesondere am Frankfurter Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie etablierte sich Gemeindeforschung als ein Schwerpunkt, innerhalb dessen verschiedenste kulturelle Phänomene im Rahmen von Mikrostudien am Beispiel von Gemeinden untersucht wurden. • Gemeindestudien erfuhren aber auch einige Kritik. • Gisela Welz hat einige der Kritikpunkte zusammengefasst: „Gemeindeforschung reproduziert die Gemeinde, den Wohn- und Lebensraum der untersuchten Bevölkerung, als eine Verknüpfung von Kultur und Identität. Immobilität, geringe Aktionsradien, intensive Binnenkommunikation, konformitätserzeugende Überschaubarkeit werden in der Sozialforschung gerne der kleinen Gemeinde und ihren Bewohnern zugeschrieben“. • Heute können wir sagen, dass die Gemeindeforschung in der Europäischen Ethnologie aus der Mode geraten ist. Noch 1967 hatte Sigurd Erixon die Gemeindeforschung zu den dringenden Fachaufgaben gezählt, aber nach einem kurzen Boom in den 1970er und zu Beginn der 1980er Jahren sind die entsprechenden Forschungen wieder zurückgegangen. 106 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Angesichts spätmoderner Diskurse von Globalisierung, Enträumlichung, Entbettung und wie die Begrifflichkeiten alle lauten mögen, handelt es sich bei der Gemeinde um ein überholtes Konzept, wie manche meinen. • Für viele Sozialwissenschaftler ist die Gemeinde heutzutage etwas Anachronistisches. Sie wird als ein Stadium einer Entwicklung gesehen, das überholt ist. • In komplexen Gesellschaften hätten kontraktuelle Beziehungen jene Bindungen und Interaktionen ersetzt, die für Gemeinden typisch gewesen seien. • In diese Richtung gingen schon Argumentationen, bevor Gemeindestudien in Europa populär wurden. Auch Carola Lipp und Wolfgang Kaschuba haben den Begriff „Gemeinde“ bereits in den 1970er Jahren in Frage gestellt: „Vor der Beschäftigung mit Phänomenen des ‚Lebens in der Gemeinde‘ steht somit bei allen gesellschaftlichen Siedlungseinheiten immer die Frage nach der Gültigkeit des ‚Begriffs‘ als Definitionsrahmen; beschreibt er überhaupt noch die wesentlichen strukturellen Grundlagen gesellschaftlicher Existenz?“ 107 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Aber mit solchen voreiligen Schlüssen sollte man vorsichtig sein. Zunächst gilt es zu klären: 1. was unter Gemeinde zu verstehen ist; 2. ob sie in der Alltagswelt der Menschen eine Rolle spielt und 3. ob sie für die Disziplin weiterhin ein tragfähiges Konzept darstellt? Ausgehend von diesen Fragen können wir den Veränderungen von Gemeinde nachspüren und die eventuelle Irrelevanz des Konzeptes behaupten. • Gemeinde wird hier synonym mit dem englischen Begriff community benutzt. Im englischen community schwingt die Doppelbedeutung von Gemeinde und Gemeinschaft stärker mit als in der Verwendung des Begriffs Gemeinde in vielen deutschsprachigen Arbeiten zum Thema. • Der Begriff Gemeinde kann in einem umfassenden Sinn verwendet werden, wie dies in der Kultur- und Sozialanthropologie üblich geworden ist. Gemeinde wird demnach durch zumindest drei Aspekte charakterisiert, die einander einschließen können, aber nicht müssen. 108 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung 1. Erstens kann Gemeinde als eine sozialräumliche Einheit verstanden werden, die den Lebensmittelpunkt einer Gruppe von Menschen darstellt. So sieht z.B. Hermann Bausinger die Gemeinde als eine sozialräumliche Einheit, die durch eine „Spannung zwischen Enge und Weite“ charakterisiert wird. Diese gemeinsame Lokalität kann darüber hinaus eine politische Einheit sein, wie z.B. ein Dorf. 2. Zweitens kann Gemeinde ein gemeinsames Sozialsystem oder eine gemeinsame Sozialstruktur bezeichnen, die lokal verankert sein können, aber nicht notwendigerweise müssen [z.B. Großbauern]. 3. Drittens kann sich das Konzept der Gemeinde auf gemeinsame Interessen zwischen Menschen beziehen [z.B. Sportverein]. • In allen Fällen stellt Gemeinde ein symbolisches und kontrastives Konstrukt dar, das durch ein gemeinsames Bewußtsein einer Grenze gegenüber anderen soziale Gruppen bestimmt ist. Dabei können diese Grenzen je nach Perspektive variieren. • Gemeinden existieren dementsprechend nicht vorwiegend aus sozialstrukturellen Systemen und Institutionen, sondern als Bedeutungswelten in den Vorstellungen ihrer Mitglieder. 109 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • In den meisten Gemeindestudien werden allerdings Gemeinden bzw. Gemeinschaften immer an eine spezifische Lokalität wie Stadt, Dorf oder zumindest Ortsteil geknüpft. • Ein grundsätzliches Dilemma durchzieht fast alle Gemeindeforschungen. Es handelt sich um das Ideal von Gemeinde, das häufig explizit, meist jedoch implizit in den Arbeiten zum Ausdruck kommt. • Um dies zu verstehen, muss man auf das ursprüngliche Konzept von Gemeinschaft zurückblicken, welches Ferdinand Tönnies 1887 in die wissenschaftliche Diskussion gebracht hat. • Tönnies lebte von 1855 – 1936 und war ein bedeutender deutscher Soziologe – neben Max Weber und Georg Simmel der wichtigste in der Frühzeit der Soziologie um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. • Sein Buch „Gemeinschaft und Gesellschaft“ ist das erste – explizit als soziologisch ausgewiesene Grundlagenwerk des Faches. Die erste Auflage erschien 1887, aber erst die zweite Auflage 1912 wurde zum Erfolg, weil mittlerweile die Jugendbewegung zu jener Zeit, die nach Gemeinschaft suchte, dieses Werk populär machte. 110 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Tönnies stellte dem Konzept der Gemeinschaft dasjenige von Gesellschaft gegenüber. Bei Gemeinschaft handelt es sich um ein romantisches, rückwärts gerichtetes Konzept, welches die ‚positiven‘ Aspekte der Gemeinschaft vorindustrieller Prägung den ‚negativen‘ Folgen der Industrialisierung gegenüberstellt, die sich im Bild der Gesellschaft bündeln. • Ungefähr zur gleichen Zeit – nämlich 1893 – hatte der französische Soziologie Émile Durkheim (1858-1917) sein Werk „Über die Teilung der sozialen Arbeit“ – De la division du travail social – verfasst. Die moderne Industriegesellschaft – so führte Durkheim aus – unterscheide sich von anderen Gesellschaften durch die Arbeitsteilung. • Durch die Arbeitsteilung nämlich und die daraus resultierende Spezialisierung seien die Menschen aufeinander angewiesen. Daraus ergeben sich zwei Formen von Solidarität: die mechanische und die organische Solidarität. • Die mechanische Solidarität sei die ältere Form, die für so genannten segmentäre Gesellschaften typisch sei. Diese Gesellschaften seien weniger gegliedert und würden durch Traditionen, Sitten und Sanktionen zusammen gehalten. 111 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Die organische Solidarität zeichnet sich durch kontraktuelle Strukturen aus, in die Menschen in unterschiedlicher Form eingebunden sind. • Auch Durkheim sah also im damaligen Zustand der europäischen Gesellschaften zwei Arten, wie Menschen miteinander verbunden sind. Der grundlegende Unterschied liegt jedoch in der Beurteilung der damaligen Strukturen. Bei Tönnies wirkt die Einschätzung der neuen Strukturen negativ (zumindest können seine Ausführungen so gelesen werden) und er bezeichnete die älteren Bedingungen der Gemeinschaft als „quasi-organisch“, während die moderne Gesellschaft „quasi-mechanisch“ sei. Für Durkheim wiederum war es genau umgekehrt, denn er sah die neueren Entwicklungen positiv. Für ihn waren die historisch älteren Formen mechanisch, während er die jüngeren als organisch bezeichnete. • Beide Autoren hatten den lang andauernden Prozess sozialen Wandels auf zwei relativ statische Typen reduziert. Durkheim hatte aber wenigstens eine Entwicklung anzudeuten versucht, in dem er die Verbindung zwischen den beiden Typen darin sah, dass sie verschiedene Stufen der Arbeitsteilung darstellten. 112 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Seit damals, so schreibt Norbert Elias, „blieb die Verwendung des Begriffes Gemeinde bis zu einem gewissen Grad mit der Hoffnung und dem Wunsch verbunden, noch einmal die geschlosseneren, wärmeren und harmonischeren Formen von Verbindungen zwischen Menschen wiederzubeleben, die vage früheren Zeiten zugeschrieben werden“. • Gemeinde wurde gleichgesetzt mit „gutem Leben“ und in irgendeiner Form von Gemeinde möchte auch jeder Mensch leben. Als Resultat dieser Einstellung entstand eine Vermischung von empirischen Beschreibungen, was Gemeinde ist, und normativer Festschreibung, was sie sein sollte; sie ist sowohl ein sozialwissenschaftliches als auch ein moralisches Konzept. • Um diesem Dilemma zu entgehen, wurde vorgeschlagen, den Begriff Gemeinde durch den der Lokalität zu ersetzen und die wechselseitigen Beziehungen von sozialen Institutionen in spezifischen Lokalitäten zu untersuchen. Die Problematik dieses Vorschlages liegt jedoch darin, dass Gemeindestudien damit immer an eine Lokalität gebunden wären, was jenen nicht an die Lokalität gebundenen Faktoren von Gemeinde nicht gerecht wird. 113 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür liefern die Forschungen von Robert Redfield und Oscar Lewis, die beide den mexikanischen Ort Tepoztlan untersucht hatten. • Redfield führte 1926 Feldforschungen in dem mexikanischen Ort Tepoztlan durch, einer von Indianern und Mestizen bewohnten Gemeinde in der Nähe von Mexiko-Stadt. • Sein Akzent lag auf der Untersuchung des Lebens und Zusammenlebens der Einwohner, für das auch die Außenkontakte vor allem zur nahe gelegenen Großstadt von Bedeutung waren. • Entsprechend seinem Konzept von der „kleinen Gemeinde“ schrieb Redfield diesem Ort positive Eigenschaften wie Ganzheitlichkeit, Homogenität und Solidarität zu. • Redfield hatte nämlich ein Konzept des so genannten folk-urban Kontinuums entwickelt. Bei der „Folk-Community“, als die er auch Tepoztlan verstand, handelt es sich um einen Idealtypus von Gesellschaft, der den entgegen gesetzten Pol zu Stadtgesellschaft beschreiben soll. 114 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Oscar Lewis wiederum hat 17 Jahre nach Redfield mit einem ganzen Forschungsteam umfangreiche Forschungen in Tepoztlan durchgeführt und konnte viel mehr Daten gewinnen als Redfield zuvor. • Ein Resultat dieser und anderer Forschungen war übrigens sein Konzept einer Kultur der Armut. • Lewis widmete sich in Tepoztlan jedenfalls auch jenen Bereichen wie Demographie, das Landproblem, die Systeme der Landwirt-schaft, die Verteilung des Wohlstands, zwischenmenschliche Bezie-hungen etc., die Redfield nur kurz angesprochen hatte. • Insgesamt kommt Lewis zu einer völlig anderen Einschätzung des Ortes wie Redfield. Wo Redfield wie gesagt die harmonischen Aspekte des Zusammenlebens hervorhob, fand Lewis 17 Jahre später Armut, Auseinandersetzungen und Misstrauen. • Redfield zweifelte die Ergebnisse von Lewis nicht einmal an, sondern gestand ein, seine Einsichten seien seinem Glauben geschuldet, dass das Leben in kleinen Gemeinden besser sei. • Dies ist ein Beispiel dafür, wie ein Forscher den Fakten, die ihren Modellen widersprechen, unzugänglich sind, wenn sie von „außerwissenschaftlichen Einstellungen“ geleitet werden. 115 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Dieses hier skizzierte Dilemma, dass Gemeinde im Sinne von Gemeinschaft etwas Positives sei, zeichnet viele Gemeindestudien aus dem Umkreis der Europäischen Ethnologie aus. • Dabei ist Gemeinschaft häufig als ein traditionelles Gesellschaftsideal verstanden und dort vorausgesetzt worden, „wo sie gar nicht vorhanden war – ein Bezugsrahmen für die Annahme traditionsgeleiteter Einheiten, in denen soziales Gefälle, Desintegration und vor allem gesellschaftliche Binnenkonflikte kein Thema waren“ (Gyr). • Dem gleichen Problem unterliegen jene Studien, die den positiven Zuschreibungen die negativen Charakterisierungen entgegenhalten. • Martin Bulmer warf die Frage auf, ob die große Nähe innerhalb von Gemeinden zur machtvollen Kontrolle über alle Mitglieder führen kann. • Um diese Positionen überwinden zu können, unterbreitete Hermann Bausinger den Vorschlag einer Perspektivenverlagerung und sprach von der „Einheit des Orts“: „Während der Ausdruck ‚dörfliche Einheit‘ unwillkürlich die Assoziation der Einigkeit weckt und damit der Vorstellung des in allen Teilen abgestimmten, geschlossenen Organismus nahekommt, steckt die Bezeichnung ‚Einheit des Orts‘ zunächst lediglich einen Raum ab, in dem sich das Geschehen vollzieht. Dieses Geschehen umfaßt sehr verschiedene Charaktere, sehr verschiedene Handlungen, er schließt Konflikte und Spannungen ein“. 116 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Laurance Wylie „Dorf in der Vaucluse. Der Alltag einer französischen Gemeinde“ (1957) • Wylie war ein Romanist, der später auch Anthropologie studierte. Im Jahr 1950 entschied er sich, ein Jahr mit seiner Familie in Südfrankreich, im Ort Peyrane in der Vaucluse, zu leben. • Er wollte dort Feldforschung betreiben, um Genaueres über den Alltag und die Wurzeln der Franzosen zu erlangen. • Ziel war die Zustandsbeschreibung des Lebens in einem französischen Dorf, die Darstellung von lebenden Personen im Rahmen einer systematischen Beschreibung ihrer Kultur. • Peyrane, es handelt sich um ein Pseudonym, das Wylie in einer späteren Auflage seines Buches gelüftet hat – es handelt sich um den Ort Roussillon. Peyrane liegt ca. 80 km nördlich von Marseille und 20 Kilometer östlich von Avignon; es hatte zum Zeitpunkt der Untersuchung ca. 750 Einwohner. • Ausgesucht hatte Wylie den Ort, indem er Mittelwerte aus den Departments erhoben hatte bezüglich Wohlstand, Infrastruktur, Landnutzung usw. Der Ort sollte keine außergewöhnliche Lage haben (also Isolation oder Großstadtnähe) und es sollte keine Dominanz eines einzelnen Arbeitgebers geben (z.B. Bergwerk). 117 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Wylie fuhr in den Ort, sondierte die Umgebung und mietete dann ein Haus im Ortskern, wo er sich mit seiner Familie niederließ. Er versuchte sich in das Gemeindeleben zu integrieren, indem er in der Grundschule, in die sein ältester Sohn ging, Englisch unterrichtete und indem er als Gemeindechronist und als Fotograf tätig wurde. • Die Menschen beeindruckte, dass der Aufenthalt von Wylie durch einen Forschungsurlaub und Forschungsstipendien ermöglicht wurde. Wylie meinte dazu: Sie erhöhten in diesem Dorf den Respekt vor der Zivilisation mehr, als es irgendeine Propaganda vermocht hätte. • Wylie beginnt seine relativ deskriptive, aber doch einfühlsame Schilderung des Ortes mit der historischen Entwicklung der Wirtschaft. Neben der Landwirtschaft lebte man in Peyrane bis ins 19. Jahrhundert von der Seidenraupenzucht und von der Gewinnung von rotem Farbstoff aus der Wurzel der perance. Die Höfe in Peyrane waren aufgrund der Erbteilung ziemlich klein. • Der Zweite Weltkrieg stellte eine Zäsur dar, wobei Wylie psychologische und wirtschaftliche Nachwirkungen benennt. Wirtschaftlich gab es eine Stagnation und Abwanderungsprozesse. Die Notsituation führte dazu, dass die Menschen illegale Geschäfte mit Mangelwaren betrieben und auf dem Schwarzmarkt aktiv wurden. Psychologisch herrschte Pessimismus und die Menschen versicherten Wylie immer wieder, er hätte vor dem Krieg kommen müssen. 118 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Die wirtschaftliche Grundlage zu Wylies Zeit bildete fast ausschließlich die Landwirtschaft: Export von Obst und Gemüse (Kirschen, Erdbeeren, Oliven, Spargel und Tomaten). Dazu kam noch der Abbau von Ocker. • Insgesamt war die Wirtschaft von Peyrane nach Wylie sehr kompliziert. Das Einkommen und staatliche Unterstützung stellen bei weitem nicht das ganze Einkommen einer Familie dar. Es gibt viele zusätzliche Möglichkeiten dies zu erhöhen. Die Zahl der Transaktionen – Warentausch und Dienstleistungen – ist so groß und ihre Beschaffenheit so undurchsichtig und kompliziert, dass eine genaue Übersicht der Wirtschaft von Peyrane unmöglich ist. • Die Infrastruktur des Ortes sah so aus, dass es relativ gute Straßen gab, aber nur an drei Tagen der Woche eine Busverbindung nach außen bestand. Es gab keine WC’s, keine Kanalisation, keine Abfallentsorgung und keinen vollständigen Anschluss ans Stromnetz. Es gab weder einen Arzt noch Polizei, auch fast keine Telefone. Die Massenmedien waren unbedeutend. • Der soziale Mittelpunkt des Ortes war „le bourg“, der Marktflecken. Das war der Dorfkern mit dem Café als Informationszentrum. Dort waren auch Läden, das Rathaus, die Schule, die öffentlichen Waschräume, die Kirche und der Bouleplatz. 119 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Was die Religion anbelangt gab es nur 5% aktive Katholiken, meist ältere Frauen. Unter den politischen Parteien war die Kommunistische Partei Frankreichs am stärksten, die laut Wylie als „Protestpartei“ gewählt wurde und fast 50% der Stimmen erhielt, die Sozialisten waren ebenfalls stark, aber die Konservativen schwach. • Ein gutes Gemeindemitglied musste „sérieux“, also seriös, sein. Damit ist gemeint: zuverlässig, berechenbar, gewissenhaft, fleißig, erwachsen (worunter verheiratet verstanden wird), respektiert und respektierend, integriert in seine Familie. Außerdem sollte er einige Freunde haben, aber auch Gegner. • Die Kinder sollten „sage“, also artig, sein. 13- und 14jährige, die aus der Schule kommen, würden die gesellschaftlichen Regeln am besten beherrschen, meint Wylie. Sie stellten die am besten angepasste Gruppe im Dorf dar. Danach folgt der Wandel zum Erwachsenen. Während die Kinder diszipliniert werden, wird den Jugendlichen zugestanden, über die Stränge zu schlagen und sich auszutoben, ehe sie dann zu seriösen Erwachsenen werden. In der Erziehung gibt es auch einen Gruppendruck; die Eltern sind dominant. Kinder, die sich schlecht benehmen, werden lächerlich gemacht, wodurch Scham erzeugt wird. • In der dörflichen Kommunikation ist Klatsch extrem wichtig; darüber werden Neuigkeiten ebenso verbreitet wie Gerüchte. 120 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Zum Klatsch gehört, dass es eine Idealvorstellung davon gibt, wie jemand zu sein habe. Diese Idealvorstellung wird aber von niemanden erreicht, weshalb diese Abweichung stets zum Gesprächsstoff wird. • Geschenke werden nicht gerne angenommen, wenn Menschen nicht in der Lage sind, Gegengeschenke zu machen. Wylie wollte sich beispielsweise eine Fotografie nicht bezahlen lassen und das Gleichgewicht wurde erst wieder hergestellt, als der Fotografierte sich mit Eiern revanchiert hatte. • Die Peyraner haben vor allem Angst, was von außen kommt – das ist für sie gefährlich, anonym, unangreifbar, übermächtig. Die massivste Bedrohung ist für sie der französische Staat und die französische Regierung mit ihren Erlassen. Der Staat, die Verwaltung und die Außenwelt bedeuten für die Menschen in Peyrane Ausbeutung und Manipulation des Einzelnen. Die Gesetze werden als unflexibel und restriktiv wahrgenommen, weshalb man sich gegen außen abschottet. Dagegen werden die Familie, Freunde und Beziehungen als Stütze angesehen. • Gleichzeitig haben sie aber auch ein generelles Misstrauen untereinander. Jeder erachtet den anderen prinzipiell als feindselig, weil er davon ausgeht, dass ihn die anderen ebenso feindselig betrachten wie er sie. Es gibt ein großes Potential an Konflikten unter der Bevölkerung, das Zerstrittensein ist ein wichtiger sozialer Faktor. 121 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Gruppenbildungs- und Identitätsbildungsprozesse finden über Institutionen und Organisationen statt: die Freiwillige Feuerwehr, der Jagdclub und die Genossenschaften, wo sich die Menschen nach Interessen, Berufssparten oder auf der Basis von Freundschaften zusammenfinden. • Im Café gibt es auch einige Unterhaltungsmöglichkeiten, die stark zu einer männlichen Gruppenbildung führen – etwa Boule oder das Kartenspiel Belote. • Veränderungen gegenüber ist man sehr misstrauisch, obwohl sie ständig passieren. Wylie stellte fest, dass sich vor allem das Wertesystem langsamer wandelt als die wirtschaftlichen Verhältnisse. • Wylie versucht, einen umfangreichen Überblick über den Alltag in diesem Dorf Peyrane zu geben. Dabei ist die Studie besser zu lesen, als die Wiedergabe der zentralen Erkenntnisse vermuten lässt. • Auf den ersten Blick hat Wylie mit Peyrane eine recht homogene, komplexe und geschlossene Gemeinschaft beschrieben, die eine übersichtliche Binnenstruktur und eine klare Abgrenzung nach außen hin aufweist. • Bei genauerer Lektüre ergibt sich jedoch ein viel differenzierteres und komplizierteres Bild. Dennoch ist hat die synchrone Vorgehensweise ihre Tücken, weil alles so zeitlos gültig erscheint. 122 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Wylie hat aber, weil es ja bis 1957 dauerte, ehe das Buch fertig war und publiziert werden konnte, in einem Nachwort bereits erste Veränderungen angedeutet. • William Foote Whyte: Die Street Corner Society. Die Sozialstruktur eines Italienerviertels. Berlin – New York: Walter de Gruyter 1996 (11943). • Cornerville ist ein Slumviertel einer amerikanischen Großstadt – Whyte hat in der dritten Auflage offenbart, dass es sich um das North End von Boston handelte. • Cornerville wird fast ausschließlich von italienischen Einwanderern und deren Nachkommen bewohnt. Cornerville ist als Slum ein Problem für die Stadt und wird nur unter Krisenszenarien – hohe Arbeitslosigkeit, geringe sanitäre Standards, hohe Kriminalitätsrate etc. – wahrgenommen. • Solche Bilder haben aber den Nachteil, keine menschlichen Individuen zu zeigen. Um wirklich ein detaillierten Einblick zu erlangen, müsse man in Cornerville leben und am Leben der dortigen Menschen teilnehmen, meint Whyte. Um spektakuläre Ereignisse wie Verbrechen etc. zu verstehen, müsse man sie im Verhältnis zu den Alltagsstrukturen des Lebens sehen – denn das Leben in Cornerville hat für Whyte eine Struktur. 123 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Nach einer kurzen Schilderung der Geschichte der italienischen Einwanderung stellt Whyte fest, dass die in Amerika geborene Generation eine eigene Gesellschaft aufgebaut hat, die nicht mehr nach den Regeln der Elterngeneration funktioniert. • Bei den jüngeren Männern unterscheidet Whyte zwei Hauptkategorien: die corner boys und die college boys. • Die corner boys, die Eckensteher, sind Gruppen von jungen Männern, deren Aktivitäten sich an bestimmten Straßenecken konzentrieren und in den umliegenden Billlardsalons, Clubs, Imbißstuben. Sie sind in ihrer Altersgruppe die unterste Stufe der Gesellschaft und stellen zugleich die Mehrheit der jungen Männer in Cornerville. Nur wenige haben die High School abgeschlossen, viele sind sogar aus der Schule ausgestiegen. Während der Wirtschaftskrise waren viele von ihnen arbeitslos oder unregelmäßig beschäftigt. • Die college boys sind eine kleine Gruppe junger Männer, die sich durch eine bessere Ausbildung über die Stufe der corner boys erhoben haben und die den sozialen Aufstieg versuchen. • Anhand von Doc und seiner Eckenstehergang und Chic und seinem college boys-Club will Whyte die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen erklären. 124 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Beide seien jedoch kleine Nummern in Cornerville, die großen Tiere seien Gangster und Politiker. Das Gangstertum und die politischen Organisationen durchdringen die Gesellschaft von Cornerville von oben bis unten, verknüpfen sich miteinander und bilden den gemeinsamen Hintergrund für einen großen Teil des Lebens im Bezirk. • Im ersten Teil der Arbeit widmet sich Whyte den corner boys und den college boys. Doc war der Kopf der Nortons, einer Gang aus der Norton Street. Doc hatte aufgrund einer Kinderlähmung einen verkümmerten linken Arm, den er allerdings so trainierte, dass er ihn einigermaßen gebrauchen konnte. Doc erzählte Whyte, wie er sich durch Prügeleien, Schnelligkeit und Cleverness seine Position erarbeitete – nach Whyte war Doc für seine Intelligenz wie für seine Ausdrucksfähigkeit geachtet. • Als Whyte zu den Nortons kam, war Doc 29 und der Rest der Gruppe zwischen 29 und 20. Neben Doc spielten Mike (29) und Danny (27) eine führende Rolle, Long John nahm eine Sonderposition ein, weil er zu Führungsgruppe gehörte, aber keinen Einfluss auf die Gangmitglieder hatte. Die restlichen neun Mitglieder der Nortons nennt Whyte followers. Whyte beschreibt die Funktionsweise der Gruppe, die Hierarchien und Unterordnungen. Er schildert die Gang ziemlich ausführlich bis zu ihrem endgültigen Auseinanderbrechen. 125 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Chick Morelli verkehrt mit seinen college boys im Italian Community Club, in dem auch die corner boys einige Zeit verkehrt hatten. • Chick kam im Alter von acht Jahren nach Boston, wo sein Vater zwei Läden betrieb, allerdings starb, als Chick noch ein Junge war. So mussten die Läden aufgegeben werden und die Familie fristete ein kärgliches Dasein. Chick zeigte aber so etwas wie Aufstiegswillen, ging immer irgendwelchen Jobs nach und schaffte die Highschool und die Aufnahme ins College. Schließlich gelangt er sogar in eine relativ renommierte Universität, wo er Jura studiert. • Chick gründet mit einigen Freunden den Italian Community Club, der den Aufstiegswillen und das Selbstbewußtsein der gebildeteren jungen Italiener bezeugen sollte. Sie wollen den hervorragenden Beitrag der Italiener zur Weltkultur und sich selbst als einen entscheidenden Bestandteil der amerikanischen Nation verstehen. Gesellschaftliche Verbindungen zu Leuten von intellektuellem Niveau sollen aufgebaut werden und das eigene Viertel sollte die eigenen Bildungsmöglichkeiten verbessern und die lokalen Interessen gezielt wahrnehmen. • Whyte schildert sehr genau die Auseinandersetzungen um verschiedene Vorhaben, um Wahlen etc. 126 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Die Nortons und der Italian Community Club waren auf unterschiedlichen sozialen Ebenen angesiedelt und auf völlig unterschiedlicher Grundlage organisiert. Gleichwohl waren sie für Cornerville repräsentativ, vor allem die Aussagen über die Nortons würden für viele Straßengangs gelten, dem Community Club vergleichbare Klubs gab es nicht so viele. • Die informelle Gang hatte weder Satzung noch Statuten, Entscheidungen gründen auf informellen Verbindungen und werden selbst dann vorab informell getroffen, wenn sie nachträglich einer formalen Abstimmung unterliegen. • Das Nachbarschaftszentrum und die Sozialarbeiter spielten im Leben der Männer beider Gruppen eine bedeutende Rolle. Diese Sozialarbeiter konnten kein Italienisch, sie hatten kein fundiertes Wissen über die sozialen Verhältnisse in der italienischen Heimat ihrer Klientel und sie trachteten nur nach der Durchsetzung ihrer eigenen Maßstäbe. Die Sozialarbeiter waren weder bei den Nortons noch beim Community Club beliebt. • Im Kapitel Loyalität und soziale Mobilität berichtet Whyte zunächst, wie die college Boys vorangekommen sind und die corner boys nicht. Chick macht eine politische Karriere und würde auf diesem Weg auch die corner boys als faul und unkooperativ bezeichnen, ebenso wie dies die Sozialarbeiter täten. 127 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Zu den am eifrigst gepflegten demokratischen Glaubensartikeln gehöre nach Whyte, dass in unserer Gesellschaft Intelligenz und Fähigkeit an die Spitze gelangen. Aber offensichtlich lassen sich die unterschiedlichen Karrieren von Chick und Doc nicht mit einem Unterschied an Intelligenz und Begabung erklären. • Deshalb müsse es eine andere Erklärungsmöglichkeit geben. Eine Erklärung liegt in der Bildung, dass also ein Collegestudium für den sozialen und wirtschaftlichen Aufschwung außerordentlich wichtig ist. • Aber die college boys waren schon als Jungs anders, meint Whyte. Das Modell sozialer Mobilität in Cornerville lasse sich am besten begreifen, wenn man es mit dem Modell der Verhaltensweisen der corner boys kontrastiert. • Einer der bedeutendsten Unterschiede ist das Verhältnis zu Geld. Der college boy kommt aus einer ökonomischen Welt, die vom Sparen und Investieren geprägt ist. Die corner boy gehört einem ökonomischen System an, wo das Geldausgeben die größte Rolle spielt. • Der college boy spart, um seine Ausbildung zu finanzieren und seine geschäftliche oder berufliche Karriere in Gang zu bringen zu. Deshalb kultiviert er die Mittelschichttugend der Sparsamkeit. • Der corner boy muss sein Geld mit anderen teilen, vor allem wenn er eine ranghohe Position in der Gang besetzen will, wobei dies unbewusst stattfindet. Prestige und Einfluss hängen teilweise vom 128 großzügigen Umgang mit Geld ab. Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Ein weiterer Unterschied lässt sich an Chick und Doc manifestieren. Chick beurteilte Menschen nach ihrer Fähigkeit vorwärts zu kommen. Doc beurteilte sie nach ihrer Loyalität ihren Freunden gegenüber und nach ihrem Verhalten in persönlichen Beziehungen. • Whyte erklärt in seinem Buch aber auch noch die Politik und das organisierte Verbrechen in Cornerville, die Rolle der Polizei etc. • Whyte zeigt die Interdependenzen und Abhängigkeiten innerhalb der Gangs, der Einzelne ist dabei nicht so wichtig wie die Gang. • Alle Institutionen von Cornerville – die Gangs, die Syndikats- und Polizeiorganisationen, die politische Organisation und die soziale Struktur stellen eine Hierarchie persönlicher Beziehungen dar, die auf einem System gegenseitiger Verpflichtungen beruhen. • Die Street Corner Society ist vor allem auch methodisch ein großartiges Werk. Mit der notwendigen Empathie verfaßt, mit Respekt für die untersuchten Personen und mit der notwendigen Reflexivität, was die eigene Rolle im Feld anbelangt. • An diese Beispiele soll nun noch einmal mit einigen Überlegungen dazu angeknüpft werden, welche Rolle Community Studies in der spätmodernen Forschungslandschaft noch spielen können. 129 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Conrad M. Arensberg hat die Unterscheidung getroffen, Gemeinde entweder als Objekt oder als Paradigma zu verstehen. • Wird die Gemeinde selbst zum Forschungsobjekt, so Arensberg, dann zielen die Fragen „alle auf die Natur der Gemeinde als Gegenstand eigener Art hin“. • „Auf der anderen Seite steht die hiervon deutlich unterschiedene Fragestellung, die die Gemeinde als ein Untersuchungsfeld oder Paradigma betrachtet, innerhalb dessen etwas anderes als die Gemeinde selbst erforscht werden soll“. Die Gemeinde soll dabei für ein Ganzes – die Gesellschaft oder die Kultur – kennzeichnend sein. • Viele klassische Gemeindestudien waren so konzipiert. Robert und Helen Lynds erfolgreiche Untersuchung „Middletown. A Study in American Culture“ aus dem Jahr 1929 beispielsweise zielte nicht auf die Spezifik der untersuchten Stadt Muncie in Indiana, sondern wollte typisches amerikanisches Kleinstadtleben bzw. überhaupt amerikanisches Alltagsleben präsentieren. • Sie schreiben, für ihre Auswahl der Gemeinde waren zwei Überlegungen entscheidend: „(1) sollte die Stadt für zeitgenössisches amerikanisches Leben so repräsentativ wie möglich sein, und (2) sollte sie gleichzeitig kompakt und homogen genug sein, um eine so umfassende Studie durchführbar zu machen“. 130 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Wollten die Lynds zunächst religiöse Vorstellungen und Praktiken untersuchen, so erkannten sie bald, dass dieses Phänomen nicht isoliert zu betrachten ist und die vielfältigen Beziehungen zu anderen sozialen Institutionen berücksichtigt werden müssen. Middletown diente über Jahrzehnte hinweg als Vorbild für andere Gemeindestudien und rief eine Reihe von ähnlichen Studien auf den Plan. • Sollte mit Middletown die amerikanische Kultur paradigmatisch erforscht werden, so verfolgte Lloyd Warner ein noch umfassenderes Ziel. Er wollte verschiedene Gesellschaften auf der Welt miteinander vergleichen und gleichzeitig anthropologische Techniken, die für die Untersuchung einfacher Gesellschaften entworfen worden waren, auf moderne Gesellschaften anwenden. Sein Ziel war eine Taxonomie aller Gesellschaften. • Mit einem Team untersuchte er in den 1930er Jahren den Ort Newburyport in Massachussetts nach allen Regeln der damaligen Anthropologie. Beeinflusst von Malinowski und Radcliff-Brown wählte Warner einen struktur-funktionalistischen Ansatz und verstand die Stadt als eine Art Organismus, in dem jeder Teil bestimmte Funktionen innehat. In seinem Programm stand Yankee City für die amerikanische Gesellschaft – sie war „ein mikroskopisches Ganzes, das die gesamte amerikanische Community“ repräsentiert. 131 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Diese Betrachtungsweise der Gemeinde als paradigmatisch für größere Zusammenhänge wie Regionen, Staaten oder nationale Kulturen findet sich in vielen Gemeindestudien wieder, erfuhr aber spätestens seit den 1960er Jahren eine heftige Kritik. • So sprach sich Norbert Elias gegen atomistische Traditionen aus, die die ganze Gesellschaft in kleine Teile zerlegen und damit wiederum das Ganze erklären wollen. • Clifford Geertz meinte, diese Vorgehensweise habe der Sache der Anthropologie besonders geschadet. Das „mikroskopische“ Modell („Jonesville-ist-die-USA“), das die Welt in einem Sandkorn sieht, sei ein offensichtlicher Trugschluß. „Die Vorstellung, man könne das Wesen nationaler Gesellschaften, Zivilisationen, großer Religionen oder ähnliches in zusammengefasster und vereinfachter Form in so genannten ‚typischen‘ Kleinstädten und Dörfern antreffen, ist schierer Unsinn“. • Diese Position sieht Gemeindeforschung als eine Methode, wie es Bjarne Stoklund – ähnlich wie Clifford Geertz – für die Europäische Ethnologie ausgedrückt hat. Sein Anliegen ist, „das Gemeindestudium als spezifisch ethnologische Methode zu beleuchten. Es geht also nicht um das Studium von kleinen Gemeinden, sondern um das Studium in den kleinen Gemeinden. Oder anders gesagt: Gemeinde als Mittel, nicht als Objekt“. 132 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Diese Ausrichtung grenzt sich ganz klar gegen zwei Positionen ab. Einerseits wird das bereits genannte mikroskopische Modell verworfen, nach dem eine Gemeinde für eine gesamte Kultur oder Gesellschaft steht. Zum anderen wird der Gemeinde als Forschungsgegenstand eigener Art die Forschungsrelevanz abgesprochen. • Allerdings ist diese zweite Position Perspektive im Lichte neuerer theoretischer Ansätze nicht unproblematisch. • Europäische Ethnologen untersuchen in Gemeinden spezifische Probleme, die nichts mit der Natur einer Gemeinde zu tun haben. Darüber hinaus gibt es aber kulturelle Spezifika von einzelnen Gemeinden, die diese selbst als interessant erscheinen lassen. • Schließlich sollte nicht vergessen werden, dass das Konstrukt Gemeinde Strukturelemente aufweist, die den Fokus einer Richtung von Gemeindeforschung ausmachen. • Gemeindeforschung jedoch lediglich als eine Methode innerhalb der Ethnologie oder der Sozialwissenschaften zu begreifen, wirft ebenfalls Probleme auf. Für welchen Gegenstandsbereich liefert uns diese Methode Erkenntnisse? Kann überhaupt von einer Methode gesprochen werden, wo innerhalb von Gemeindestudien ein ganzes Set von Erhebungstechniken zum Einsatz kommt 133 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Arensberg meinte, „der Vorteil in der Anwendung der Gemeindeforschung ist die damit verbundene intensive Versenkung des Forschers in die innere komplexe Wirklichkeit der Gemeinde“. Man müsse in die Gemeinde fahren und längere Zeit dort verweilen. Denn nur durch den Prozess der Feldforschung und der empirischen Beobachtung können Beziehungen zwischen verschiedenen Phänomenen hergestellt werden. • Für die Soziologie – und hier wieder für den lange Zeit quantitativ operierenden Mainstream – meinte Hartmut Häußermann, die Gemeindestudien haben durch den Ausbau sozialwissenschaftlicher Infrastruktur und die Entwicklung leistungsfähiger Datenverarbeitungstechniken an Bedeutung verloren. • Anders liegt der Fall innerhalb der ethnologischen Disziplinen, die sich meist keinem quantitativen, sondern vielmehr einem qualitativen Paradigma verpflichtet fühlen, wo Fragen der Repräsentativität und der messtechnischen Validität keine Rolle spielen, sondern Theorie und Empirie in einem fortlaufenden Prozess weiterentwickelt werden. • Unabhängig vom methodischen Paradigma bleibt das prinzipielle Problem, für welche Bereiche die Gemeindeforschung Erkenntnisse liefern kann. 134 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • In der Gemeindeforschung muss zudem das Verhältnis von innen und außen berücksichtigt werden. Innen meint dabei die Gemeinde selbst, wie immer diese gestaltet sein mag. Außen meint alles, was nicht innerhalb der realen oder symbolischen Abgrenzungen einer Gemeinde selbst liegt. Wobei dazu gesagt werden muss, dass es auch innerhalb von Gemeinden Grenzen geben kann und gibt. • Die Debatte über die externen Einflüsse auf lokale Gemeinden ist nicht neu, sondern gehört seit längerer Zeit zu den entscheidenden Fragen der Gemeindeforschung. Daher sind auch viele Kritikpunkte, die heute am Konzept der Gemeindeforschung geübt werden, völlig überzogen, weil sie von einem simplifizierenden Idealtypus ausgehen, den es kaum einmal gegeben hat. Die Behauptung, Gemeindestudien würden beispielsweise Dörfer oder andere Einheiten als isolierte Entitäten betrachten, ist eine dieser Kritikmythen, die kontinuierlich behauptet, ohne auf ihre Stichhaltigkeit überprüft zu werden. • Bereits 1960 hatte Hermann Bausinger dagegen argumentiert, Dörfer als isolierte Gemeinden zu betrachten, die keine externen Einflüsse gekannt hätten. Er verweist auf die hohe Mobilität, die es in Dörfern immer schon gegeben hatte. Neben Handwerksburschen hätten sich auch die Knechte und Mägde von Ort zu Ort bewegt, auch die bäuerlichen Güter wechselten oft ihre Besitzer. Nach Kriegen und Seuchen setzte starker Zuzug von außen ein. 135 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Politische, religiöse und ökonomische Beziehungen reichen über eine lokale Ebene hinaus, meinte Jeremy Boissevain: „Sie sind beeinflußt von Beziehungen und Prozessen, die jenseits der Gemeinde auf regionaler, nationaler oder sogar supranationaler Ebene liegen“. • Ebenso hatte John Cole auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde 1977 betont, „dass die Gemeinden, die wir studieren, der Schauplatz sind, auf dem viele verschiedene Einflüsse zusammenkommen“. • Bei derselben Gelegenheit meinte Bjarne Stoklund, es müsse berücksichtigt werden, dass viele entscheidende Faktoren, die die Kultur determinieren, außerhalb der lokalen Gemeinde zu finden sind. Ein komparatives Studium von Gemeinden könne daher nicht ohne Rücksicht auf größere Zusammenhänge durchgeführt werden. • In einem Überblick über schweizerische Ortsmonographien führt Ueli Gyr zwei interessante Studien an. Die savoyische Hochgebirgsgemeinde Bessans etwa sei eine mobile Ortsgesellschaft, weil Teile der Bewohner traditionellerweise temporär in Paris als Taxichauffeu-re arbeiten. Und für den Ort Vernamiège wird nachgewiesen, „wie das relative Gleichgewicht einer ehemals ökonomisch geschlosse-nen Einheit durch exogene Einflüsse aufgelöst ... und traditionelle Existenzweisen zugunsten urbaner Ansprüche aufgegeben wurden“. 136 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Innerhalb der Europäischen Ethnologie war man sich also schon länger im klaren darüber, dass der Mikrokosmos Gemeinde für sich nicht existiert. • So meinte Orvar Löfgren: „Im Mikrokosmos der Gemeinde bekommt man das Gefühl, Überblick zu haben und eine Ganzheit ergreifen zu können. Allmählich aber entdeckt man, dass diese Ganzheit nur scheinbar ist, und dass andere größere Zusammenhänge immer wieder in die lokalen Lebensformen hineingreifen. Die Grenzen der Gemeinde fangen an, sich aufzulösen.“ • Ein anderes Problem liegt in der historischen Dimension, die bei Gemeindestudien häufig übersehen wird. • Der britische Anthropologe A. Macfarlane meinte, die Verwendung von anthropologischen Methoden in der Gemeindeforschung habe zu einer Vernachlässigung der Geschichte geführt. Dadurch würde ein falsches Bild der sozialen Beziehungen in kleinen Gemeinden gezeichnet, wobei Integration und soziale Kohäsion dargestellt und Konflikte, Wandel und Instabilität ausgegrenzt würden. • Vor allem jene vom Funktionalismus beeinflussten Gemeindestudien konnten zwar die Strukturen innerhalb von Gemeinden zu einem gewissen Erhebungszeitpunkt herausarbeiten, die Prozesshaftigkeit von Kultur oder überhaupt Aspekte des kulturellen Wandels konnten so jedoch nicht erhoben werden. 137 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Das methodische Problem liegt nach Bjarne Stoklund darin, „synchrone Strukturanalyse mit diachroner Prozeßanalyse zu vereinigen“. • Dies ist methodisch kein leichtes Unterfangen, da es eine Verknüpfung von anthropologischen mit historischen Methoden verlangt. • Selbst wenn es aber gelingt, mit synchronen Querschnitten, die zu verschiedenen Zeitpunkten in einer Gemeinde durchgeführt wurden, genauere Informationen über verschiedene historische Zeitpunkte zu erhalten, gewährleistet dies noch keinen genauen Einblick über Verläufe und Ursachen von Wandelsprozessen, die komplexen Zusammenhängen unterliegen, für die erst eine geeignete diachrone Perspektive geschaffen werden muss. • Dennoch muss ein genauerer Blick auf Prozesse des Wandels versucht werden, um den häufig leichtfertig hingeworfenen Behauptungen, wie es gestern gewesen sei und morgen sein werde, eine tief schürfende Analyse von Vergangenheit und Gegenwart in ihrer historischen Bedingtheit entgegenzuhalten. • In den letzten 15 Jahren gab es viele Stimmen, die aufgrund der Globalisierung dafür plädieren, das Konzept der Gemeinde neu zu denken oder überhaupt zu verwerfen. 138 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Norbert Elias hat einen nützlichen Vorschlag gemacht, wodurch sich lokal gebundene Gemeinden auszeichnen. Gemeinde ist für ihn eine Gruppe von Haushalten, die am selben Ort angesiedelt und durch funktionale Interdependenzen miteinander verknüpft sind, die stärker sind als jene Interdependenzen, die sie mit anderen Menschen im weiteren sozialen Umfeld verbinden. Dabei hatte er durchaus im Blick, dass diese Interdependenzen Wandlungsprozessen unterliegen, weil die Modernisierungsprozesse die reziproken Abhängigkeiten von Menschen verändert haben. • Diese Perspektive ist insofern hilfreich, als sie von uns nicht von vornherein die Annahme verlangt, unter den Bedingungen der Globalisierung würde die Lokalität oder die Gemeinde keine Rolle mehr spielen. Dabei geht es keineswegs darum, Phänomene der Enträumlichung zu leugnen, aber mit Arjun Appadurai wäre zu fragen: „Was bedeutet Örtlichkeit als gelebte Erfahrung innerhalb einer globalisierten, enträumlichten Welt?“ • Für den Geograph Andrew Kirby ist der Ort in den sozialen Beziehungen nach wie vor von zentraler Bedeutung. „Der Ort ist die Arena, in der Ressourcen genutzt werden (Wohnung, Bildung und andere öffentliche Leistungen), und folglich sind die politischen Kämpfe um den Zugriff auf diese Ressourcen (zwischen Rassen, Klassen oder Homo- und Heterosexuellen) Ausdruck der Vitalität lokaler sozialer Beziehungen“. 139 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Roland Robertson versucht der Problematik mit dem Begriff Glokalisierung beizukommen, der nach einem japanischen Vorbild übernommen wurde, mit welchem ursprünglich das Prinzip bezeichnet wurde, landwirtschaftliche Techniken an lokale Umstände anzupassen. Dies wurde im Geschäftsleben adaptiert und meint dementsprechend die Anpassung „einer globalen Perspektive an lokale Umstände“. Dabei habe die Globalisierung „die Wiederherstellung, in bestimmter Hinsicht sogar die Produktion von ‚Heimat‘, ‚Gemeinschaft‘ und ‚Lokalität‘ mit sich gebracht“. Diese Prozesse würden mit dem Begriff der Glokalisierung am besten gefasst, weil damit sowohl der Idee einer Homogenisierung durch Globalisierung als auch der Idee, Lokalität als eine Form der Opposition oder des Widerstandes gegen das hegemoniale Globale zu verstehen, widersprochen wird. • Auf andere Weise betont Ulf Hannerz, dessen eigene Forschungen sich seit vielen Jahren mit transnationalen Phänomenen und mit dem Verhältnis lokaler Kulturen zu globalen Veränderungen beschäftigt, die bleibende Bedeutung des Lokalen. Im Lokalen finden die Faceto-face-Situationen und Langzeitbeziehungen zwischen Menschen statt, wobei diese Beziehungen einen hohen emotionalen Gehalt haben können. Dort können auch geteilte Bedeutungen in einem längeren Prozess ausgehandelt werden. Im Lokalen gebe es auch gegenseitige Kontrolle, Abweichungen können informell aber wirkungsvoll sanktioniert werden. 140 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Norbert Elias betonte einmal die Rolle von Klatsch für die Integration und Kontrolle innerhalb einer Gemeinde. Er geht sogar so weit zu meinen, eine Lokalität verliere den Charakter einer Gemeinde, wenn die wechselseitige Unabhängigkeit von Menschen so groß ist, dass sie nicht mehr am lokalen Klatschaustausch beteiligt und somit der damit verbundenen Kontrolle oder irgendeiner Form kommunaler Kontrolle gegenüber indifferent sind. • Lokale Kultur, wie sie in einem Teil der Community Studies untersucht wird, kann so verstanden werden, dass wir einen konkreten Ort als eine Arena annehmen, wo sich die Bedeutungswelten verschiedener Menschen kreuzen und neue Bedeutungen ausgehandelt werden. • Wo diese Bedeutungswelten aufeinander stoßen, so schreibt Ulf Hannerz, hat auch das Globale, das anderswo lokal gewesen ist, eine Chance, heimisch zu werden. • Dies ist die besondere Bedeutung lokaler Kultur – sie ist wichtig, aber nicht autonom. Sie ist zwar in gewissem Sinn an eine Lokalität geknüpft, aber sie reagiert auch im Lokalen auf überlokale Kontexte. Das Entscheidende jedoch ist, dies hat seine Auswirkungen im Lokalen, für Menschen, die an einem konkreten Ort leben, auch wenn diese Menschen über vielfältige Beziehungen verfügen, die über diesen Ort hinausweisen. 141 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Gemeindestudien können auch unter den Bedingungen, die in spätmodernen komplexen Gesellschaften herrschen, sinnvoll sein: 1. Gemeinde darf nicht als ein Mikrokosmos verstanden werden, der isoliert für sich selbst funktioniert. Gemeindeuntersuchungen müssen so konzipiert werden, dass an konkreten Orten Aspekte erforscht werden, die über die Lokalität hinausweisen. Hier treffen globale kulturelle Flüsse auf spezifische Gegebenheiten und erfahren so jene Differenzierungen, die die Dynamik kultureller Prozesse ausmachen. Das bedeutet keineswegs, dass es nicht auch andere Untersuchungsformen und -bereiche gibt, mit und an denen kulturanthropolgische Themen sinnvoll erforscht werden können. Selbstverständlich kann die Komplexität des Zusammenspiels kultureller Flüsse, verschiedener Bedeutungsebenen und konkreter Praktiken heute nicht allein in einzelnen lokal gebundenen Gemeindestudien erforscht werden. Sollen transnationale Gemeinschaften in den Blick genommen werden, dann sind Formen „mobiler Feldforschung“ an unterschiedlichen Orten unerlässlich. Hier interessiert allerdings, wie sich Veränderungen, die durch globale Prozesse angestoßen werden, in einer konkreten Gemeinde niederschlagen. 142 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung 2. Ich glaube, es gibt so etwas wie ein Ethos von Gemeinden. Diese Eigenart, die Gemeinden oder auch Städte auszeichnen können und die sie unverwechselbar machen, hat Andrew Kirby zu folgender Feststellung veranlasst: „Die Kommunalpolitik von Houston unterscheidet sich von der von San Francisco, obwohl beide Städte komplexe urbane Wirtschaftsräume sind, in denen dieselben Ziele der Wohlstandswahrung und politischer Stabilität verfolgt werden. Darüber hinaus gibt es unzählige weitere Unterschiede in den religiösen Überzeugungen, in den Einstellungen gegenüber der wirtschaftlichen Entwicklung, in der Wohnsituation und Architektur sowie in den kulturellen Praktiken, kurz gesagt: in all dem, was Clifford Geertz (1983) ‚lokales Wissen‘ genannt hat“. Eine Gemeindestudie muss also nicht nur jene Aspekte berücksichtigen, die über eine konkrete Gemeinde hinausweisen, sondern sie auch in ihrer Eigenart analysieren und darstellen. Ein Kennzeichen von Gemeinden ist auch eine Form von Zugehörigkeitsgefühl welches Menschen aus verschiedenen Gründen zu einer Lokalität entwickeln können. Diese Einzigartigkeit von kleineren soziokulturellen „Gebilden“ in geeigneter Form zu repräsentieren, gehört nicht zu den schlechtesten Traditionen anthropologischer Forschung, obwohl dazu selbstredend auch der Blick über die Grenzen der Gemeinde zählt. 143 Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung 3. Eine Gemeindeforschung neuer Prägung muss sich zudem davon verabschieden, ein holistisches Bild einer ganzen Gemeinde zu vermitteln und eine zeitlose Perspektive zu entwerfen. Es wurde bereits darauf verwiesen, wie problematisch die Unterscheidung von Gemeinde als Objekt oder Methode ist. Es gibt sinnvolle Gründe, beide Perspektiven im Auge zu behalten und zwar durchaus gleichzeitig. Es gilt vor allem der Prozesshaftigkeit der kulturellen Phänomene gerecht zu werden, indem man nicht nur synchrone Ausschnitte produziert, die dann im ethnographischen Präsens präsentiert werden und ein zeitloses Bild einer einzigen Realität suggerieren. Es bedarf der Ergänzung durch eine diachrone Betrachtungsweise, wofür historische Methoden und Materialien herangezogen werden müssen, damit sich die Perspektiven einer Gegenwarts- und einer historischen Ethnographie verbinden können. 4. Den symbolischen wie realen Grenzen, die eine Gemeinde von einer Außenwelt oder von verschiedenen Außenwelten trennen, muss besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Diese Grenzen dürfen jedoch nicht als etwas Undurchlässiges verstanden werden, sondern als ein Raum oder ein Feld, in dem sich die Dinge vermischen und Neues entsteht. Gleichzeit muss auf die internen Grenzziehungen geachtet werden, denn Gemeinden sind nie harmonieträchtige Gebilde ohne Stratifizierungsmerkmale, sondern sind unter anderem durch Hierarchien, Machtverhältnisse und verschiedene 144 Gruppierungen geprägt. Einführung in die Europäische Ethnologie – Gemeindeforschung • Heute wird oft behauptet, lokale Identität, Ansässigkeit und face-toface-Kommunikation spielten eine immer geringere Rolle und Gemeindeforschungen suggerierten oder konstruierten diesbezüglich etwas, was gar nicht mehr existiert. Dabei handelt es sich um einen voreiligen Abgesang an historisch entwickelte Lebenswelten. Die Reduktion von Komplexität führt nicht nur außerhalb sondern auch innerhalb der Akademie zu Vorausurteilen. Sicherlich, wenn die Europäische Ethnologie dahin tendiert, aus einer Schreibtischperspektive die kulturellen und sozialen Veränderungen in den europäischen Gesellschaften zu untersuchen, dann mag der Eindruck entstehen, als lösten sich bisherige Relevanzsysteme vollständig auf und die Menschen befänden sich in einem Zustand ständiger Mobilität, und in einem Reich der Freiheit freiwillig gewählter Verortungen und Identitätskonstruktionen. Es soll nun nicht behauptet werden, Phänomene der Individualisierung, der Mobilität und der Enttraditionalisierung spielten keine Rolle, aber die Welt war schon immer komplexer, als die Produzenten einfacher Wahrheiten und „logischer“ Entwicklungsmuster uns glauben machen wollten. So können sich vermeintliche Ungleichzeitigen als besonders überlebensfähig erweisen. Wenn wir erst einmal die eigene Lebenswelt und die Zitadellen der Metropolen verlassen, so finden wir im Lokalen eine Vielzahl von Vergemeinschaftungs- und Identitätsbildungsprozessen, die einer genaueren Erforschung durch die Europäische Ethnologie harren, die damit zu einem komplexeren und realitätsgerechteren Bild 145 sozialer Wirklichkeit beitragen könnte. Einführung in die Europäische Ethnologie – Identität • Identität ist zweifellos ein wichtiger Begriff für die Volkskunde und darüber hinaus für die Kultur- und Sozialwissenschaften. Identität bedeutet zunächst einmal die Übereinstimmung eines Gegenstandes mit sich selbst, sein „In-Sich-Gefestigt-Sein“. • Der Begriff Identität ist zunächst vor allem in der Sozialpsychologie und in der Entwicklungspsychologie verwendet worden. • In der Sozialpsychologie u.a. bei George Herbert Mead (1863-1931), dessen Ansätze aber erst viel später aufgegriffen wurden, als er sie geäußert hatte. • In der Entwicklungspsychologie war es der Psychoanalytiker und Psychotherapeuth Erik H. Erikson (1902-1994), der den Identitätsbegriff verwendete und über seine Disziplin hinaus popularisierte. • Erikson kam als Sohn dänischer Eltern bei Frankfurt am Main auf die Welt. Nachdem sich seine Eltern schon vor seiner Geburt getrennt hatten, heiratete seine jüdische Mutter später einen jüdischen Arzt. • Erikson verließ Deutschland im Jahr 1933, um dann in den Vereinigten Staaten als Entwicklungspsychologe zu reüssieren. • Erikson beschrieb die Entwicklung der Ich-Identität als einen langwierigen Prozeß. • Er wurde mit seinem Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung bekannt. Dieses Modell unterteilt die Entwicklung des Menschen von 146 seiner Geburt bis zu seinem Tod in acht Phasen. Phasen Psychosoziale Krisen Radius wichtiger Beziehung. Grundstärken Kernpathologie/ Grundlegende Antipathien Ich-Erkenntnis I: Säuglingsalter Grundvertr. / Grundmisstr. Mütterliche Person Hoffnung Rückzug Ich bin, was man mir gibt II: Kleinkindalter Autonomie / Scham + Zweifel Eltern Wille Zwang Ich bin, was ich will III: Spielalter Initiative / Schuldgefühl Kernfamilie Entschlusskraft Hemmung Ich bin, was ich mir vorstellen kann zu werden IV: Schulalter Regsamkeit / Minderwertigkeit Nachbarschaft/ Schule Kompetenz Trägheit Ich bin, was ich lerne V: Adoleszenz Identität / Identitätskonfusion Peer-Groups und fremde Gruppen Treue Zurückweisung Ich bin, was ich bin VI: Frühes Erwachsenenalter Intimität /Isolierung Partner, Freundschaft, Sexualität, Wettbewerb, Zusammenarbeit Liebe Exklusivität Ich bin, was mich liebenswert macht VII: Erwachsenenalter Generativität / Stagnation Arbeitsteilung und gemeinsamer Haushalt Fürsorge Abweisung Ich bin, was ich bereit bin zu geben VIII: Alter Integrität /Verzweiflung „Die Menschheit“, Menschen meiner Art“ Weisheit Hochmut Ich bin, was ich mir angeeignet habe 147 Einführung in die Europäische Ethnologie – Identität • Eriksons Schlüsselkonzept ist jenes der Identität bzw. der IchIdentität, die in jeder dieser Phasen durch Auseinandersetzung mit seiner Umwelt herausgebildet wird. • Ein Schwerpunkt seiner Analyse, das ist durch die Stufen deutlich geworden, liegt bei der Entwicklung der Kinder und Jugendlichen, die zwischen Nachahmung und Abgrenzung von Erwachsenen changieren müssen, um eine Ich-Identität ausbilden zu können. • Bei Erikson vollzieht sich der kindliche Identitätsaufbau räumlich, körperlich, psychisch, emotional und sozial. So löst sich das Kind aus der emotionalen Symbiose mit den Eltern und der Familie und integriert sich in die so genannten peer groups – also Gleichaltrigengruppen. • Diese Integrationsleistungen sind nach Erikson allerdings nicht nur bei Kindern und Jugendlichen, sondern auch in den weiteren Lebensabschnitten immer wieder nötig. • Interessanterweise hat Erikson zwar mit dem Identitätsbegriff gearbeitet und diesen auch für sein Phasenmodell verwendet, aber er hat nie wirklich dargelegt, was er darunter versteht. • Überhaupt ist es mit dem Identitätsbegriff so, wie mit vielen anderen Begriffen, die uns hier beschäftigen. Er ist etwas unscharf und wird zum Teil in unterschiedlicher Form verwendet. 148 Einführung in die Europäische Ethnologie – Identität • Gleichzeitig beinhaltet er bei aller Unschärfe ein konstitutives Merkmal und das ist seine soziale Dimension. • Der Soziologe Anselm Strauss hat dies einmal gut zum Ausdruck gebracht: „Identität ist immer verbunden mit der schicksalhaften Einschätzung seiner selbst – durch sich selbst und durch andere.“ • Identität konstituiert sich also, das haben wir ja auch in Eriksons Modell gesehen, durch Auseinandersetzung mit anderen Menschen. • In dieser Auseinandersetzung hat das Individuum die Balance zwischen den eigenen Bedürfnissen und Erwartungen sowie den Erwartungen und Anforderungen der Anderen auszugleichen. • Identität ist somit – zumindest auf individueller Ebene – ein ständiger Balanceakt: Einerseits bedarf der Einzelne der Bestätigung durch andere, um sich als identisch zu erfahren. Andererseits darf er den Erwartungen der Anderen nur in einem solchen Umfang entsprechen, dass er nicht in deren Erwartungen aufgeht, will er als eigenes Subjekt mit seiner Lebensgeschichte und seinen Erwartungen und Bedürfnissen in der Interaktion zur Geltung kommen. • Bei all diesen Ausbalancierungsbemühungen ist es dennoch so, dass der Begriff Identität ein Moment von Ordnung und Sicherheit verkörpert inmitten eines ständigen Wandels und Wechsels. 149 Einführung in die Europäische Ethnologie – Identität • Insofern meint er aber auch nichts Festes und Starres, sondern ist durchaus elastisch. • Der Begriff Identität ist ein analytisches Konstrukt. Dieser Konstruktionscharakter bedeutet aber keineswegs, dass Identität nicht direkt erfahrbar wäre. • Identität ist z.B. als ein Gefühl der Übereinstimmung des Individuums mit sich selbst und seiner Umgebung erfahrbar. • Deutlicher noch ist es in seiner negativen Form wahrzunehmen – nämlich im Bewusstsein oder Gefühl mangelnder Übereinstimmung. • „Identität bezeichnet die Fähigkeit des Einzelnen“, um eine Aussage von Hermann Bausinger zu zitieren, „sich über alle Wechselfälle und Brüche hinweg der Kontinuität seines Lebens bewusst zu bleiben.“ • In diesem Sinn kann man Identität als ein Grundmuster verstehen, das die Menschen dazu anleitet, sich als soziales Wesen in seine Umwelt einzupassen. Einpassen meint aber nicht vollständiges Anpassen. Vielmehr will das Individuum durch Übereinstimmung ebenso wie durch Abgrenzung seinen spezifischen „sozialen Ort“ finden. • Dabei meint Identität immer zweierlei: einerseits eine relativ konsistente Vorstellung von seinem sozialen Ich und andererseits einen Aushandlungsprozess über diese Vorstellung. 150 Einführung in die Europäische Ethnologie – Identität • Die Vorstellung und die Aushandlungsprozesse enthalten dabei immer sowohl eher feste als auch eher verhandelbare Komponenten. • Viele Formen geschlechtlicher, religiöser und auch sozialer Identität können üblicherweise selten verändert werden, wenn es denn überhaupt gewollt wird. So gibt es zum Beispiel – bezogen auf die Gesamtgesellschaft in Deutschland – relativ wenige Menschen, die ihre geschlechtliche Identität ändern möchten. • Oder ein anderes Beispiel: Ab dem Zeitpunkt, wo man sich bewusst zu einer religiösen Gemeinschaft bekennt, wird dieser Aspekt religiöser Identität ebenfalls seltener gewechselt. • Und wie wir aus vielen Studien – etwa zur Elitenforschung – wissen, lässt sich auch unsere soziale Identität weniger leicht wechseln, als wir das in unserer Leistungsgesellschaft vermuten. • Dagegen gibt es bestimmte Wertvorstellungen, ästhetische Stile oder altersbedingte Rollen, die zwar für den Moment ebenfalls sehr stabil scheinen, um zu einem geschlossenen Selbstbild zu gelangen, die aber dennoch wandelbar sind und manchmal sogar kurzfristigen Veränderungsprozessen unterliegen. Viele Jugendstile darunter. • Damit sind wir auch bei einer Schwierigkeit des Identitätsbegriffs. Aus dem bisher Gesagten dürfte deutlich geworden sein, dass wir von einer personalen oder Ich-Identität und einer kollektiven Identität sprechen können. 151 Einführung in die Europäische Ethnologie – Identität • Ebenso deutlich dürfte sein, dass die personale Identität nicht unabhängig von der kollektiven Identität betrachtet werden kann, sie sind miteinander verschränkt. • In dieser Unterscheidung zwischen personaler und kollektiver Identität liegt eine der Ursachen, warum der Identitätsbegriff in den letzten Jahren zunehmen unter Druck geraten ist. • Eine andere Ursache liegt in den sich wandelnden Begrifflichkeiten in der Wissenschaftslandschaft. • Stuart Hall spricht etwa von einer „Krise der Identität". Diese Krise, sei „als Teil eines umfassenden Wandlungsprozesses zu sehen, der die zentralen Strukturen und Prozesse moderner Gesellschaften“ verschiebt. So würden die Netzwerke unterminiert, die den Individuen in der sozialen Welt eine stabile Verankerung gaben“. • Aus diesem Grund sympathisiert Hall mit der These einer dezentrierten oder fragmentierten Identität; diese ist „nicht aus einer einzigen, sondern aus mehreren, sich manchmal auch widersprechenden oder ungelösten Identitäten zusammengesetzt“. • In diese Richtung argumentieren viele weitere Autoren, unter denen der Soziologe Zygmunt Bauman und der Sozialpsychologe Heiner Keupp, der bis vor kurzem an der LMU gelehrt hat, genannt seien. 152 Einführung in die Europäische Ethnologie – Identität • Identität ist dabei noch dazu situationsabhängig. Die eigene Identität mag zwar durch gewisse Verhaltensmassregeln und Identitätsmerkmale vorbestimmt sein, aber ein konkretes Verhalten hängt immer von den Kontexten ab, in denen wir uns befinden. • Zwar werden wir in irgendwelchen Gesprächssituationen kaum unsere geschlechtliche oder Altersidentität grundsätzlich in Frage stellen können und wollen. Aber wie wir Züge unseres Selbstbildes nuancieren, hängt von der jeweiligen Situation und auch davon ab, über wie viel Verhaltensspielraum wir in solchen Situationen verfügen. • Identität bezieht sich also immer auch auf ein konkretes Aushandeln in konkreten Situationen. In solchen Situationen kann es jeweils unterschiedliche Zuordnungen und Bezüge geben. Jeder soziale Ort weist seine eigene Struktur von Verhaltensregeln und Verhaltensspielräumen auf. Die Verhaltensregeln liegen relativ fest und müssen respektiert werden (vgl. Wolfgang Kaschuba: Einführung). • Die Verhaltensspielräume sind relativ offen und können gestaltet wer-den. Deshalb ist die Herausbildung einer Identität immer eine soziale Praxis, bei der allgemeine Regeln und Vorstellungen über die eigene Identität in konkretes Verhalten umgesetzt werden. • Ein Beispiel für die Situationsabhängigkeit von Identitätskonstruktionen stammt aus der Gemeindestudie in der Südweststeiermark, mit der ich die Vorlesung eingeleitet habe. 153 Einführung in die Europäische Ethnologie – Identität • Da unterhielten wir uns etwa mit dem größten Bauern im Ort, der uns erzählte, wie er in dieser peripheren Lage versucht, wirtschaftlich Erfolg zu haben. • Er ist besonders darauf bedacht, sein Österreichertum herauszustreichen. Dieses Österreichertum versteht er dabei als ein deutschsprachiges. Im Interview meint er unter anderem: „Ja, ich habe von Grazern gehört, dass das ein zweisprachiges Gebiet ist.“ • Daher konnte ich es im Nachhinein fast nicht glauben, als ich hörte, dass seine Frau aus Slowenien stammt und Slowenisch seine Muttersprache ist. Seine Ziehmutter und deren Schwester stammen zudem beide aus dem slowenischen Teil Kärntens und sprechen untereinander kaum ein Wort Deutsch. • In unterschiedlichen Kontexten werden also unterschiedliche Rollen gespielt, was häufig problemlos vonstatten geht, manchmal aber zu größeren Schwierigkeiten führen kann. In diesen Situationen findet nämlich jeweils ein Aushandlungsprozess zwischen den Selbstbildern und den Fremdbildern statt und dabei handelt es sich um einen sehr komplizierten Balanceakt. • Besonders deutlich wird das, wenn dieser Balanceakt nicht gelingt, wenn wir es also nicht schaffen, Fremdbild und Selbstbild „unter einen Hut“ zu bekommen. Das passiert etwa, wenn Andere auf uns nicht entsprechend reagieren. 154 Einführung in die Europäische Ethnologie – Identität • Daraus können zwei Problemlagen entstehen. Einerseits ein Identitätsverlust und andererseits Überidentifikation. • Der Identitätsverlust kann bei existentiellen oder psychischen Krisen der Fall sein (Vgl. dazu und im Folgenden: Kaschuba, Einführung). • Überidentifikation dann, wenn ein zentraler Identitätsbezug völlig in den Vordergrund rückt, wenn also jemand völlig von einem zentralen Identitätsbezug abhängig wird. Etwa von einem bestimmten Körperlichkeitsbild oder von der Akzeptanz einer bestimmten Bezugsgruppe – als besonders drastische Beispiele könnten hier Sekten oder nationalistische Bewegungen genannt werden. • Aber auch in diesem Zusammenhang ist es wichtig, ob man die Frage der Identität vom Individuum her denkt oder von einem Kollektiv. Vom Individuum her gedacht bedeutet Identitätskrise „eine intensiv erlebte Erfahrung grundlegender sozialer und kultureller Dissonanzen mit der gesellschaftlichen Umwelt. • Der Begriff Identitätskrise wird aber auch im Zusammenhang mit kollektiver Identität oder kollektiven Identitäten genannt. Etwa im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen. Da werden Identitätskrisen als Ausdruck jener Erfahrungen gedeutet, die in Form rasanten sozialen und kulturellen Wandels auf die Menschen zukommen: etwa durch globale Veränderungen von ökonomischer und technologischer Rationalität oder durch eine zunehmende Entwurzelung durch Mobilität und Migration. 155 Einführung in die Europäische Ethnologie – Identität • Verschiedene Kultur- und Sozialwissenschaftler haben sich in den letzten 15 bis 20 Jahren dazu geäußert. George Marcus etwa hat den Tod der Trope des Lokalen in der Anthropologie proklamiert (Trope ist in der Rhetorik eine Stilfigur, wobei für einen Ausdruck ein verwandter bildhafter Begriff eingesetzt wird). • Er meint, die Idee einer ortsgebundenen Produktion von Identität sei nicht mehr länger gültig, weil Identität simultan an verschiedenen Orten hergestellt würde, an denen Aktivitäten stattfinden – daher ja auch sein Konzept einer multi-sited Ethnography. • Vom Subjekt her gedacht, mag diese Behauptung berechtigt sein, wie auch Stuart Hall argumentiert. Hall sieht die Entstehung eines postmodernen Subjekts, „das ohne eine gesicherte, wesentliche oder anhaltende Identität konzipiert ist. Identität wird ein ‚bewegliches Fest‘. Sie wird im Verhältnis zu den verschiedenen Arten, in denen wir in den kulturellen Systemen, die uns umgeben, repräsentiert oder angerufen werden, kontinuierlich gebildet und verändert“. • In eine ähnliche Richtung tendieren die Ausführungen des britischen Soziologen Zygmunt Bauman: Der Existenzmodus der Subjekte sei gekennzeichnet durch unzureichende Bestimmtheit, Unabgeschlossenheit, Motilität und Wurzellosigkeit. Die Identität des Subjekts sei weder vorgegeben, noch werde sie autoritativ bestätigt. Sie muss konstruiert werden, jedoch kann kein Konstruktionsentwurf als vorgeschrieben oder narrensicher gelten. Die Konstruktion der Identität 156 bestehe aus aufeinander folgenden Versuchen und Irrtümern“. Einführung in die Europäische Ethnologie – Identität • Trotz oder sogar wegen dieser Veränderungen gibt es Formen einer kollektiven Identität, die hier noch etwas beleuchtet werden sollen. • Clifford Geertz meinte einmal, „dass kein Mensch in der Welt im allgemeinen lebt“ und dass „jeder, sogar der Exilierte, der Getriebene, der Diasporische (…), in einem eingeschränkten und begrenzten Ausschnitt davon lebt – der Welt um einen herum“. • Ausgehend davon sind jene Schnittmengen fragmentierter personaler Identitäten interessant, die wiederum ein Kollektiv ergeben. • Zwar hat Hermann Bausinger schon vor mehr als zwanzig Jahren auf die Gefahr hingewiesen, dass häufig unreflektiert von Kollektividentitäten gesprochen wird, aber er konstatierte eben auch, dieses Konstrukt Identität sei „als Gefühl der Übereinstimmung des Individuums mit sich selbst und mit seiner Umgebung“ direkt erfahrbar. • Viele Untersuchungen innerhalb der Europäischen Ethnologie haben sich daher mit Fragen lokaler oder regionaler Identitätskonstruktion auseinandergesetzt. • Wenn man sich solchen Fragen lokaler oder regionaler Identitätskonstruktion zuwendet, muss man sich auch der Gefahren bewusst sein, die ich schon im Zusammenhang mit den Gemeindestudien aufgezählt habe. Etwa dass durch die Begrenztheit des örtlichen Erlebens durch einen Forscher, der sich an einem bestimmten Ort aufhält, auch ein begrenzter Blickwinkel entstehen kann, der wichtige 157 Dinge ausblendet: etwa die Außenbeziehungen. Einführung in die Europäische Ethnologie – Identität • Damit wird nicht bestritten, dass territoriale Bindungen mit Identität verknüpft werden, sondern es werden Denkmuster hinterfragt, in denen Identität und räumliche Bindung zwangsläufig als Einheit gedeutet werden. Daher sollten Aspekte einer lokalen Identität als eine Möglichkeit unter anderen Möglichkeiten verstanden werden, territoriale Zugehörigkeit und Identitätskonstruktion zu verbinden. • Dennoch: Der „Dauerbrenner“ Identität, wie es Konrad Köstlin ausgedrückt hat, spielt sich hauptsächlich auf lokaler Ebene ab: „in Gewohnheiten, im Dialekt, auf immer wieder gegangenen Wegen und landschaftlichem Bild basierend, bei Gerüchen und Geräuschen“. • Dieser lokale Raum ist für die Menschen von zentraler Bedeutung, hier findet ein Großteil jener identitätsstiftenden Interaktionen statt, die für Menschen so bedeutsam sind. • Dabei wird der Grundstein für jene Diskursformationen gelegt, als welche Aleida Assmann kollektive Identitäten sieht. Diese Identitäten stehen und fallen mit jenen Symbolsystemen, „über die sich die Träger einer Kultur als zugehörig definieren und identifizieren“. • Lokale Identität speist sich einerseits aus Quellen der Kommunikation und Interaktion, andererseits aus den Möglichkeiten, eigene Bedürfnisse – z. B. nach Wohnen und Arbeit, nach der Teilhabe an politischen Entscheidungen, nach der Gestaltbarkeit usw. – in der eigenen Lebensumwelt zu befriedigen. 158 Einführung in die Europäische Ethnologie – Identität • Einen besonderen Weg zur Erforschung und sogar Überprüfung lokaler Identität beschritt die Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus. • Ausgehend von der Untersuchung von Dorferneuerungen, die mit den Modernisierungsprozessen seit den 1960er Jahren einhergingen, interessierte sie sich für die Einstellung der dörflichen Bevölkerung zu den Veränderungsprozessen. • Sie rückte sowohl bei den Veränderungen als auch bei der Frage des Denkmalschutzes Fragen der Raumbezogenheit und der Raumorientierung von Menschen ins Zentrum ihres Interesses. • Mit ihrem Vorgehen wollte sie ein öffentliches politisches Vorgehen erreichen, das ein die Privatinteressen übergreifendes und ortsbezogenes Handeln ermöglicht. Über aktive Mitgestaltungs- und Kontrollmöglichkeiten sollte eine Identifikation der Bewohner mit ihrem Ort stattfinden. • Greverus stellte drei Hypothesen bezüglich räumlicher bzw. lokaler Identität auf: • 1. Die Identifikation mit einem Raum hängt vom Grad der in diesem Raum möglichen Befriedigung von Lebensbedürfnissen ab, denen verschiedene Raumorientierungen zugrunde liegen. Je besser diese Bedürfnisse befriedigt werden, desto größer ist das Identifikationspotential, das zur Anerkennung dieses Raums führt. 159 Einführung in die Europäische Ethnologie – Identität • 2. Je konfliktreicher sich in einem gegebenen Raum für die Einzelnen die unterschiedlichen Raumorientierungen gegenüberstehen und je sozioökonomisch heterogener der Raum besetzt ist, desto stärker ist die Tendenz zur privatistischen Konfliktlösung im Rahmen individueller und/oder interessengruppenspezifischer Möglichkeiten. • 3. Je stärker in eine räumliche Entwicklungsplanung eine kollektive Konfliktlösungsstrategie einbezogen wird, desto größer sind die Chancen für eine solidarische Zusammenarbeit der Bewohner hinsichtlich der Interessenvertretung ihres Lebensraumes. • Zur Überprüfung dieser Hypothesen hat Greverus dann ihr so genanntes Raumorientierungsmodell entwickelt, bei dem es sich um die Weiterentwicklung eines Modells des Soziologen Erik Cohen handelt. In ihrem Modell gibt es vier wesentliche Raumorientierungskategorien: 1. Die instrumentale Raumorientierung bezieht sich auf die Ressourcen für die materielle Existenzsicherung, ihre Erschließung und ihre Nutzungsmöglichkeiten. 2. Die kontrollierende Raumorientierung bezieht sich sowohl auf die formelle als auch informelle Kontrolle und Mitbestimmung, die die Bewohner im öffentlichen und privaten Bereich der Raumnutzung und gestaltung besitzen. 160 Einführung in die Europäische Ethnologie – Identität 3. Die soziokulturelle Raumorientierung erwächst aus der für die Entfaltung der Persönlichkeit wichtigen sozialen und kulturellen Betätigungsmöglichkeiten. Dazu zählen Interaktionsmöglichkeiten, Erholungsmöglichkeiten und insgesamt die verschiedenen Aktivitätsmöglichkeiten. 4. Die symbolische Raumorientierung bezieht sich sowohl auf ästhetische Präferenzen als auch auf die spezifischen Traditions-, Imageund Erinnerungswerte, die mit den Räumen und Raumdetails verbunden sind und in die Weltsicht der an ihnen orientierten Menschen eingehen. • Je konfligierender sich nun in einem gegebenen Raum die unterschiedlichen Raumorientierungen gegenüberstehen, desto stärker wird die Identitätsdiffusion in und gegenüber diesem Raum sein, desto stärker wird die Identität beschädigt. • Hinter dem Raumorientierungsmodell steht der Gedanke, dass alle vier Kategorien für das menschliche Wohlbefinden von gleicher Wichtigkeit sind, gerade in den gegenwärtigen komplexen Gesellschaften aber von einem ausgewogenen Verhältnis der Raumorientierungen nicht mehr die Rede sein kann. • Bei Untersuchungen auf der Basis des Raumorientierungsmodells wurde auf eine ganze Palette von Untersuchungsmethoden zurückgegriffen. 161 Einführung in die Europäische Ethnologie – Identität • Wenn es um regionale Identität geht, finden sich häufig positive Zuschreibungen an Orte, Regionen etc. • Es gibt aber auch die Kehrseite solcher Identitätsbildungsprozesse. Dafür bringt Wolfgang Kaschuba in seiner Einführung in die Europäische Ethnologie ein glänzendes Beispiel: • Der Schriftsteller Jean Améry (1912 in Wien geboren, im Salzkammergut aufgewachsen, und nach einer Buchhandelslehre in Wien an der Volkshochschule tätig, ehe er 1938 nach Belgien floh. Zweimal von den Nationalsozialisten verhaftet, schwer gefoltert und in die Konzentrationslager Auschwitz, Buchenwald und Bergen Belsen verbracht – überlebte und war nach dem 2. Weltkrieg als Essayist und Schriftsteller tätig. Wählte 1978 den Freitod) hat die Schwierigkeiten mit dem Begriff Heimat aufgrund seiner traumatischen Erfahrungen immer wieder zum Thema gemacht – unter anderem in seinem Essay „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“ • Darin schildert er, wie er als österreichischer Jude – allerdings als assimilierter, katholisch erzogener Jude – und Linker 1938 vor dem Nazismus nach Belgien flieht, in Antwerpen als Exilant und Antifaschist jenes Deutschland bekämpft, sich zugleich aber auch vor Heimweh nach ihm verzehrt. 162 Einführung in die Europäische Ethnologie – Identität • Améry beteiligt sich am aktiven Widerstand. Kurz bevor er 1943 verhaftet, gefoltert und ins Konzentrationslager gesteckt wurde, erlebte er Folgendes. • Seine Wohnung, die auch als Stützpunkt der illegalen Arbeit dient, wird von einem im Hause wohnenden SS-Mann betreten, der sich nichts ahnend lediglich wegen des Lärms aus dieser Nachbarwohnung beschweren und seine Nachtruhe einfordern will. Die Situation wird für Améry grotesk und er schreibt: „Er stellt seine Forderung – und dies war für mich das eigentlich Erschreckende an der Szene – im Dialekt meiner engeren Heimat. Ich hatte lange diesen Tonfall nicht mehr vernommen, und darum regte sich in mir der aberwitzige Wunsch, ihm in seiner Mundart zu antworten. Ich befand mich in einem paradoxen, beinahe perversen Gefühlszustand von schlotternder Angst und gleichzeitig aufwallender familiärer Herzlichkeit, denn der Kerl … erschien mir plötzlich als ein potentieller Kamerad.“ • Einerseits fühlt sich Améry überwältigt durch die Rührung, diesen seit Jahren nicht mehr vernommenen Dialekt als „Heimatklang“ wieder zu hören – die Sprache als den symbolischen Ort der Heimat. 163 Einführung in die Europäische Ethnologie – Identität • Andererseits überwältigt ihn die Todesangst dieser Situation, in der sein Landsmann zu seinem Mörder werden könnte. Es ist ein fast absurder Zwiespalt, der gefühlsmäßige Momente eines völligen Identisch-Seins mit dem klaren Wissen eines absoluten Nicht Identisch-Seins verbindet. • Was heißt da Heimat, was nationale Identität, wenn er bei Fremden in Belgien Sicherheit finden, während er vom Nachbarn den Tod erwarten kann? Améry antwortet darauf: „Die Feindheimat wurde von uns vernichtet, und zugleich tilgten wir das Stück eigenen Lebens aus, das mit ihr verbunden war. Der mit Selbsthaß gekoppelte Heimathaß tat wehe, und der Schmerz steigerte sich aufs unerträglichste, wenn mitten in der angestrengten Arbeit der Selbstvernichtung dann und wann auch das traditionelle Heimweh aufwallte und Platz verlangte.“ • Interessant ist hier allerdings nicht nur die Frage, die Wolfgang Kaschuba stellt, was hier Heimat heißt. Ebenso interessant ist die Tatsache, dass Améry seiner Herkunftsregion affektiv so verbunden ist, dass er es trotz aller Schrecken und Geschehnisse nicht vermag, diese emotionale Bindung zu kappen. 164 Einführung in die Europäische Ethnologie – Identität 165