Königliche Hoheit und Tod in Venedig

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Königliche Hoheit und Tod in
Venedig
Vorlesung am 6. November 2006
Der Fürst und der Künstler
• „Einen Künstler, [...] einen vorbestimmten und
verdammten, erkennen Sie mit geringem
Scharfblick aus einer Menschenmasse. Das
Gefühl der Separation und Unzugehörigkeit, des
Erkannt- und Beobachtetseins, etwas zugleich
Königliches und Verlegenes ist in seinem
Gesicht. In den Zügen eines Fürsten, der in Zivil
durch eine Volksmenge schreitet, kann man
etwas ähnliches beobachten.“ (Tonio Krüger)
• „Ich sagen Ihnen, daß ich es oft sterbensmüde
bin, das Menschliche darzustellen, ohne am
Menschlichen teilzuhaben.“(Tonio Krüger)
Die Einsamkeit des Herausgehobenen
Tonio Kröger über Schillers Don Carlos:
Es sind Stellen darin […], sie so schön sind, daß es einem einen
Ruck gibt, daß es gleichsam knallt. […] Da ist zum Beispiel
die Stelle, wo der König geweint hat, weil er von dem Marquis
betrogen ist … aber der Marquis hat ihn nur dem Prinzen
zuliebe betrogen, verstehst du, für den er sich opfert. Und nun
kommt aus dem Kabinett in das Vorzimmer die Nachricht, daß
der König geweint hat. ‚Geweint?‘ ‚Der König geweint?‘ Alle
Hofleute sind fürchterlich betreten, und es geht einem durch
und durch, denn es ist ein schrecklich starrer und strenger
König. Aber man begreift es so gut, daß er geweint hat, und
mir tut er eigentlich mehr leid als der Prinz und der Marquis
zusammengenommen. Er ist immer so ganz allein und ohne
Liebe, und nun glaubt er einen Menschen gefunden zu haben,
und der verrät ihn…
Formale Existenz und Repräsentation
Thomas Mann im Gespräch mit Kurt Martens:
"Wir gingen vom Lebensgenusse aus, der dem Künstler [...]
verwehrt sei. Ich sagte: auch dem Fürsten. [...] noblesse oblige.
Flaubert: Wer sich zum Künstler bestimmt, hat nicht mehr das
Recht, zu leben wie andere Leute. Abgeschlossenheit, Etikette,
ungeheure Verpflichtung. Gelegentliche sehnsüchtige Ausflüge
in den 'Bürgergarten'. Neid mit Ironie, Verachtung, tiefem
Würdegefühl durchsetzt. ('Sehnsucht war darin - etc')".
[„Sehnsucht war darin und schwermütiger Neid und ein klein
wenig Verachtung und eine ganz keusche Seligkeit.“]
1903-09
• 1903 Tonio Kröger erscheint. Konzeption
von Königliche Hoheit
• 1905 Arbeit an Fiorenza, Schwere Stunde,
Wälsungenblut
• 1906 Arbeit an Königliche Hoheit,
Vorbereitungen für Projekte „Friedrich der
Große“, „Maja“.
• 1907 Uraufführung von Fiorenza
• 1909 Königliche Hoheit erscheint
Film mit Ruth Leuwerik und Dieter Borsche, 1953
• Roman
• „Lustspiel in Romanform“ – guter
Ausgang, Lustspielcharaktere
• Novelle – unerhörtes Ereignis, Dingsymbol
• Märchen – entmythologisierte
Märchenmotive
• „Didaktische Allegorie“
Epische Ironie
• Der volle Sinn einer Aussage kann zum
Zeitpunkt der Äußerung vom Sprecher
nicht erkannt werden. Er erschließt sich
– dem Rezipienten sofort aufgrund diskrepanter
Informiertheit,
– dem Rezipienten später aufgrund des
weiteren Handlungsgangs.
Formale Existenz
"Der Fürst, den ich eigentlich im Sinne hatte, ist
der, von dem Schiller seinen Karl VII. sagen läßt:
'Drum soll der Sänger mit dem König gehen, sie
beide wohnen auf der Menschheit Höhen.' Die
anspielungsreiche Analyse des fürstlichen
Daseins als eines formalen, unsachlichen,
übersachlichen, mit einem Worte artistischen
Daseins und die Erlösung der Hoheit durch die
Liebe: Das ist der Inhalt meines Romans, und
voller Sympathie für jede Art von 'Sonderfall'
predigt er Menschlichkeit."
(Thomas Mann: Über Königliche Hoheit)
Dualismen
•
•
•
•
Schein
Sein
Geist
Leben
Apollinisch
dionysisch (Nietzsche)
Sentimental
naiv (Schiller)
In Königliche Hoheit:
• Ich
Wir
• Fürst
Volk
• Würde
Bequemer Sinn
Aus Manns Skizzenmappe:
Hochfürstliches Vorbild für
Imma: Prinzessin Marie von
Luxemburg
Fürst - Schriftsteller
• "Um gar nichts ist es Ihnen zu tun, und
nichts liegt Ihnen am Herzen […] in
Wirklichkeit haben Sie keine Meinung und
keinen Glauben, und auf nichts kommt es
Ihnen an als auf Ihre Prinzenhaltung."
Kaiser Wilhelm II.
Szene aus
Luchino Visconis
Film „Der Tod in
Venedig“ (1970)
Grandhotel des Bains am Lido bei Venedig
Ulrike von Levetzow
Thomas Mann in
„On myself“:
Zug des Dionysos und der
Bacchanten
„…die Zerstörung eines
geformten, scheinbar
endgültig gemeisterten
Lebens, das durch den
‚fremden Gott‘, durch ErosDionysos entwürdigt und ins
Absurde gestoßen wird“
… über Tadzio:
„der die Schönheit hat“
„verzärteltes Vorzugskind“
„etwas zugleich Süßes und
Wildes"
Baron Wladyslaw Moes,
Urbild des Tadzio
August Graf von Platen (1796 – 1835)
August von Platen: Tristan
Wer die Schönheit angeschaut mit Augen,
Ist dem Tode schon anheimgegeben,
Wird für keinen Dienst auf Erden taugen,
Und doch wird er vor dem Tode beben,
Wer die Schönheit angeschaut mit Augen!
Ewig währt für ihn der Schmerz der Liebe,
Denn ein Tor nur kann auf Erden hoffen,
Zu genügen einem solchen Triebe:
Wen der Pfeil des Schönen je getroffen,
Ewig währt für ihn der Schmerz der Liebe!
Ach, er möchte wie ein Quell versiechen,
Jedem Hauch der Luft ein Gift entsaugen,
Und den Tod aus jeder Blume riechen:
Wer die Schönheit angeschaut mit Augen,
Ach, er möchte wie ein Quell versiechen!
Gustav Mahler (18601911).
Das Bild hatte sich
Thomas Mann aus der
Zeitung ausgeschnitten
„Der Tod“ – aus
dem Zyklus „Tod in
Venedig“ von
Wolfgang Born
Ausschweifungen der Kunst
"Auch persönlich genommen ist ja die Kunst ein
erhöhtes Leben. Sie beglückt tiefer, sie verzehrt
rascher. Sie gräbt in das Antlitz ihres Diener die
Spuren imaginärer und geistiger Abenteuer, und
sie erzeugt, selbst bei klösterlicher Stille des
äußeren Daseins, auf die Dauer eine
Verwöhntheit, Überfeinerung, Müdigkeit und
Neugier der Nerven, wie ein Leben voll
ausschweifender Leidenschaften und Genüsse
sie kaum hervorzubringen vermag."
Tadzio als
Hermes
Psychopompos
Vignette von
Wolfgang Born
„Ihm war aber, als ob der bleiche
und liebliche Psychagog dort
draußen ihm lächle, ihm winke…“
Metrum im Prosatext
„Denn die Schönheit, Phaidros, merke das wohl, nur die
Schönheit ist göttlich und sichtbar zugleich, und so ist sie
denn also des Sinnlichen Weg, ist kleiner Phaidros, der
Weg des Künstlers zum Geiste.“
Denn die Schönheit, Phaidros, merke das wohl,
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nur die Schönheit ist göttlich und sichtbar zugleich,
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und so ist sie denn also des Sinnlichen Weg,
Ist, kleiner Phaidros, der Weg des Künstlers zum Geiste.“
Mythologische und klassische
Anspielungen
• Kanalfahrt – Überfahrt über den Fluß Lethe (des
Vergessens)
• Gondoliere – Charon, der Fährmann ins „elysäische
Reich“ (Totenreich)
• Tadzio – Phäake (Angehöriger eines glücklichen und
faulen Inselvolkes)
• Tadzio – Aphrodite (=Schaumgeborene)
• Tadzio – Hermes Pychopompos (Führer der Seele ins
Totenreich)
• Tadzio – Hermaphroditos (Mann und Frau zugleich)
• Tadzio – Phaidros (aus Platons gleichnamigen Dialog)
Epische Ironie
"Er gedachte des schwermütig-enthusiastischen Dichters,
dem vormals die Kuppeln und Glockentürme seines
Traumes aus diesen Fluten gestiegen waren,* er
wiederholte im stillen einiges von dem, was damals an
Ehrfurcht, Glück und Trauer zu maßvollem Gesange
geworden, und von schon gestalteter Empfindung
mühelos bewegt, prüfte er sein ernstes und müdes Herz,
ob eine neue Begeisterung und Verwirrung, ein spätes
Abenteuer des Gefühls dem fahrenden Müßiggänger
vielleicht noch vorhanden sein könne."
* Anspielung auf Platen: Venedig, Sonett Nr. 1
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