Einführung in die Medizinische Soziologie und Public Health Prof. H.W. Hense Institut für Epidemiologie und Sozialmedizin Universitätsklinikum Münster Psychologie beschäftigt sich mit dem Handeln, Denken, Erleben, Fühlen und Wollen von Individuen und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft. Soziologie beschäftigt sich mit den Strukturen und Entwicklungen von Gesellschaften und deren Auswirkungen auf das Handeln, Denken, Erleben, Fühlen und Wollen von Individuen. Medizinische Soziologie Wissenschaftsdisziplin, welche Begriffe, Methoden, Beobachtungswissen und Theorien der Soziologie bei der Analyse von Phänomenen der Gesundheit und Krankheit anwendet. Grundlegendes zu Public Health (Bevölkerungsmedizin / Öffentliche Gesundheit) Definition: Public Health verfolgt das Ziel, durch organisierte Anstrengungen der Gesellschaft - die Gesundheit zu fördern, - Krankheiten vorzubeugen und - Leben zu verlängern. Stellung von Public Health Gesundheit / Krankheit Bio-medizinische Grundlagen (Mechanismen, Ätiologie, Pathophysiologie, Molekularbiologie, Genetik etc.) Klinik Public Health (Patienten, Symptome, Krankheiten, Diagnostik, Therapie etc.) (Bevölkerung, Gruppen, Schichten, Epidemien, Systeme etc.) Epidemiologie Gesundheitssystem Ein Beispiel: Gefahr durch pandemic A(H1N1) Influenza – Indviduell versus Public Health Ein Beispiel: Gefahr durch pandemic A(H1N1) Influenza – Indviduell versus Public Health Grundlegendes zu einigen medizin-soziologischen Sichtweisen Was ist „gesund“? 1. Das Bezugssystem der Betroffenen Die subjektiven Bestimmungen von Gesundheit repräsentieren Konzepte: - Freisein von Beschwerden und Krankheiten, - Befähigung zur Bewältigung von Alltagsverpflichtungen und sozialem Austausch, - Gesundheit als Gleichgewicht, Wohlbefinden, Fitness und Lebensfreude. Sie variieren nach Alter, Geschlecht, sozialer Lage und kulturell-religiöser Orientierung! Selbsteinschätzung der Gesundheit (ab 15 Jahre und älter; in 2001) Portugal 3,5 Deutschland Frankreich 44 8 38,8 9,3 33,1 19,4 34,3 19 48,8 33,9 Finnland 15,5 45,9 Italien 15,7 44,6 Niederlande 17,2 Spanien 18,1 Belgien 21,2 Großbritannien 22,2 Österreich 31,7 55,2 22,2 40,4 34,6 Quelle eurostat, nach G+G Blickpunkt, Mai 2004 befriedigend 24 4,7 9,5 18,3 7,1 18,5 6,2 32,9 53,2 gut 9,5 20,5 46 Griechenland 4,9 21,7 53,5 49,1 sehr gut 11,4 22,6 50,7 40,7 Irland 7 28,3 34,3 Dänemark 8 15,3 15,1 schlecht bis sehr schlecht 2,7 7,6 Was ist „gesund“? 2. Das Bezugssystem der Professionen ‚Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens.‘ (WHO 1946) ‚Gesundheit ist die aus der Einheit von subjektivem Wohlbefinden und individueller Belastbarkeit erwachsende körperliche, seelische und soziale Leistungsfähigkeit des Menschen.‘ (Deutscher Ärztetag 1997) Was ist „gesund“? 3. Das Bezugssystem der Gesellschaft ‚Gesundheit ist ein Grundrecht.‘ (Menschenrechtscharta der UNO) ‚Gesundheit ist zum Leitbegriff der heraufziehenden neuen Epoche der Medizin geworden... Gesundheit ist ein Grundwert und rechtfertigt beinahe alles, was in ihrem Namen getan und gefordert wird.‘ (Schipperges et al., 1988) Was ist „gesund“? Fazit: Es gibt keine allgemein anerkannte Definition von Gesundheit und Krankheit. Aber: Das Definitionsmonopol von Krankheit räumt die Gesellschaft dem Ärztestand ein. Dies ist wesentliches Merkmal der Professionalisierung der Ärzte und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung! Was ist „krank“? Die Medizin kennt über 30 000 Krankheiten und Syndrome. Krankheit wird definiert als - das Vorliegen von Symptomen und - Befunde, die vom physiologischen Gleichgewicht abweichen. Aber: Evolutions-biologisch determiniert weisen alle lebenden Systeme eine große Schwankungsbreite in ihren Normwerten auf. Was ist „krank“? Es gibt im Wissenssystem der Medizin oft keine klare Dichotomie gesund - krank, sondern ein Kontinuum von sicher gesund bis sicher krank. Dazwischen befindet sich ein mehr oder wenig großer Bereich grenzwertiger Befunde. Aber: In der Medizin als Handlungssystem ist es unabweisbar notwendig, gesund (kein ärztlicher Handlungsbedarf) von krank (mit ärztlichem Handlungsbedarf) zu trennen. Das Definitonsmonopol berechtigt i.A. nur Ärzte dazu, diese Entscheidung zu treffen und danach zu handeln! Determinanten von Gesundheit Gesundheit Systeme der Gesundheitsversorgung B Umwelt C Lebensweisen A Humanbiologie Determinanten von Gesundheit A. Genetische Disposition Beispiele: 1. Laktose-Intoleranz (Kaukasier - Asiaten, Afrikaner) Milchzucker wird im Darm nicht gespalten: Bauchweh, Durchfall bei 75% der Afrikaner, 90% der Asiaten; 2. G-6-PDH-Mangel (Favismus; Farbstoffe & Arzneimittel) Glutathion im roten Blutkörperchen wird nicht reduziert: Hämolyse X-chromosomal, rezessiv; Nahrung: Fava = Saubohne; in Italien, Nordafrika; Medikamente: z.B. bei Chinin 3. Albinismus > Xeroderma pigmentosum >Pigmentierungsgrad „ Gen - Umwelt - Interaktion “ „The gene holds the gun – the environment pulls the trigger.“ Determinanten von Gesundheit B. Infektionen Beispiel: Tuberkulose Sterberate an Tuberkulose, England & Wales, 1840 - 1968 4000 3500 Pro 1 Million 3000 Entdeckung des Mycobacterium Tuberculosis 2500 2000 1500 Tuberkulostatika 1000 500 BCG-Impfung 0 1840 1850 1860 1870 1880 1890 1900 1910 1920 1930 1940 1950 1960 Determinanten von Gesundheit B. Infektionen Beispiel: Tuberkulose Exposition gegen Tuberkelbazillus Wohnsituation Hygiene Ausbreitung im Körper Ernährungslage Armut Mensch Infektion Tuberkulose Genetische Disposition Risikofaktoren für Tbc Mechanismen der Tbc Determinanten von Gesundheit B. Infektionen Beispiel: Pockenschutzimpfung Kostenlose Impfung 400 Sterberate an Pocken, England & Wales, 1840 - 1920 Impfzwang Impfzwang verschärft 200 100 20 19 15 19 10 19 05 19 00 19 95 18 90 18 85 18 80 18 78 18 71 18 68 18 65 18 60 18 55 18 50 18 40 0 18 Pro 1 Million 300 Determinanten von Gesundheit B. Infektionen Beispiel: Pockenschutzimpfung Anzahl der Länder mit neuauftretenden Pocken (WHO 1988) 40 30 20 10 0 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 Determinanten von Gesundheit C. Lebensweise 80 Beispiel: Krebserkrankungen Altersadjustierte Krebstodesraten für ausgewählte Lokalisationen Männer, USA, 1930-1985 Leukämie 70 Bauchspeicheldrüse Lunge 60 Rate pro 100.000 Leber Prostata 50 Colon/Rektum Magen 40 30 20 10 0 1930 1940 1950 1960 1970 1980 Veränderungen der Bevölkerungsgesundheit Die zehn führenden Todesursachen USA , 1900 und 1980 1900 1980 1. Lungenentzündungen 1. Herzkrankheiten (rheum.& nicht-rheum.) 2. Tuberkulose 2. Krebs 3. Gastroenteritis 3. Zerebrovaskuläre Krankheiten 4. Herzkrankheiten 4. Unfälle 5. Zerebrale Hämorrhagie 5. Lungenentzündungen, grippale Infekte 6. Chronische Nephritis 6. Diabetes 7. Unfälle 7. Leberzirrhose 8. Krebs 8. Arteriosklerose 9. Typische Infektionen des Kindesalters 9. Selbstmord 10. Diphterie 10. Typische Infektionen des Kindesalters Die „Epidemiologische Transition“ Veränderungen der Bevölkerungsgesundheit Prozentsatz der Gesamtverstorbenen Todesursachen USA, 1900 - 1973 1900 1910 1920 1930 1940 1950 1960 Sonstige Unfälle Chronische Krankheiten (Krebs, Herzinfarkt, Schlaganfall) 11 wichtigste Infektionskrankheiten 1970 Einführung in Medizinsoziologie und Public Health Soziale Lage und Gesundheit Arme Bevölkerungen und gesundheitliche Lage Armut: Syndrom aus materieller Benachteiligung, niedriger Bildung und Machtlosigkeit, diese Lage zu ändern. Im allgemeinen verbunden mit Freiheitsbegrenzungen. Absolute Armut: < 1-2 Dollar / Tag Kaufkraft. Relative Armut: Einkommen geringer als die Hälfte des durchschnittlichen Bevölkerungseinkommens (D: ca. 600 €) http://devdata.worldbank.org/hnpstats/HNPAtlas/gni.gif http://devdata.worldbank.org/hnpstats/HNPAtlas/mortality.gif http://devdata.worldbank.org/hnpstats/HNPAtlas/expentancy.gif http://devdata.worldbank.org/hnpstats/HNPAtlas/hiv.gif Die Zusammenhänge sind sehr simpel …. z.B. Guineawurm und Bill Gates! Hense WS06: Soziale Lage und Gesundheit 33 Fälle 1986: 3.000.000 Fälle 2005: <12.000 Arme Bevölkerung oder arme Menschen? World Bank, 2002 Soziale Lage und Gesundheit • Spielt die Soziale Lage in unserer Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft (noch) eine große Rolle für Gesundheitserhaltung bzw. Krankheit? Makrosoziale Entwicklungen: Struktur und Dynamik gegenwärtiger Gesellschaften. Mikrosoziale Entwicklungen: Soziales Handeln von Personen in verschiedenen Lebensbereichen und Lebensphasen. Einige Definitionen: Soziale Schicht: Personengruppen, die sich hinsichtlich gesellschaftlich zentraler Statusmerkmale in einer gleichen oder vergleichbaren Lage befinden. Schichtzugehörigkeit: - Einordnung einer Personengruppe in ein System vertikaler sozialer Differenzierung, - Teilhabe an gemeinschaftlichen Erfahrungen, Lebenschancen und -risiken. Soziale Schichtung - Gesellschaftliche Systeme sind nicht die Summe der zur Gesellschaft gehörenden Individuen sondern weisen eigenständige Merkmale und Gesetzmäßigkeiten auf. - eine wichtige Gesetzmäßigkeit ist Ausdifferenzierung und Verfestigung sozialer Ungleichheit. Zwei Begriffe müssen unterschieden werden: • Individuelle Ungleichheit • Soziale Ungleichheit ungleiche Ausprägung biologischer Merkmale (Aussehen, Größe etc.) und/ oder besonderer Fertigkeiten bei den Mitgliedern einer Gesellschaft ungleiche Verteilung begehrter Güter oder Belohnungen an die Mitglieder einer Gesellschaft In modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften wird die soziale Lage im wesentlichen bestimmt durch Ausbildung Beruf Einkommen Soziale Ungleichheit und Gesundheit …und umgekehrt: Gesundheit,soziale Schicht und Arbeitslosigkeit Ungelernte Arbeiter Selbständig / leitend 100 Proportion employed (%) Proportion employed (%) 100 90 80 70 60 50 40 90 80 70 60 50 40 73 75 77 79 81 83 Kalenderjahr 85 87 89 91 93 73 75 77 79 81 83 85 87 Kalenderjahr Krankheit mit Behinderung Krankheit ohne Behinderung 89 91 93 Einkommen und Ernährung - Relativer Aufwand 30 Prozent an Haushaltsausgaben Ausgaben pro Kopf (£/wk) 25 20 15 10 5 0 Ärmste Quelle: Jarmes et al. 1997; British National Food Survey Wohlhabendste Bildung und Ernährung Mittlere Nahrungsmittelaufnahme pro Tag Ausbildungsdauer (Jahre) 8 10 11-13 >14 Fleisch (g) Käse (g) Obst (g) Frischgemüse (g) Gesamtenergie (kcal) Vitamin C (mg) Jod (microg) 125 25 70 164 2562 53 121 117 27 93 181 2624 64 148 114 30 104 177 2569 65 164 104 39 126 214 2599 80 209 899 Männer, 7-Tage-Ernährungsprotokoll, MONICA Augsburg Studie Quelle: Mielck2000 Einkommen und Risikoverhalten Rauchprävalenz [%] 80 70 60 50 1973 1996 40 30 20 10 0 1 Wohlhabendste Quelle: Jarvis et al. 1999 2 3 4 5 6 Ärmste Soziale Schicht und Risikofaktoren Risikofaktorenprävalenz (%) Ausbildungsdauer (Jahre) untere mittlere obere Rauchen BMI > 30 Freizeitsport 27 16 54 15 9 62 2688 Frauen, DHP-Studie Quelle: Mielck2000 35 29 23 Kombinierte Sozialschicht-Indikatoren Sozialschicht und Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen für Krebs 50 45 40 35 30 Unterschicht Mittelschicht Oberschicht 25 20 15 10 5 0 Männer Quelle: Nationaler Gesundheitssurvey, Deutschland 1999 Frauen Sozialschicht und Prävalenz von Erkrankungen Männer Frauen 25 25 20 20 15 15 10 10 5 5 0 0 Diabetes Chron. Bronchitis Unterschicht Magen-, Duodenalulkus Mittelschicht Heuschnupfen Oberschicht Quelle: Nationaler Gesundheitssurvey, Deutschland 1999 Diabetes Chron. Bronchitis Magen-, Duodenalulkus Heuschnupfen Eine lebenslange Geschichte.... Bildung der Eltern und Gesundheitsbelastung der Kinder Staubniederschläge in der Wohnung und Sozialschicht (Bitterfeld, Hettstedt, Zerbst: 1992-3) Schulausbildung der Eltern Hauptschule Realschule Fachschule Hochschule Staub (mg/m2 d) 10.7 9.1 8.2 8.4 Blei (g/m2 d) 1.8 1.2 1.1 0.9 Cadmium (g/m2 d) 0.04 0.024 0.02 0.018 Bildung der Eltern und Gesundheit der Kinder Sozialschicht und langfristige Gesundheit Kumulative Effekte von Sozialschicht und Sterblichkeit (West of Scotland Collaborative Study 1997: 5766 Männer, 35-64 J.) Sozialschicht A Sterberisiko im 21-Jahre Follow-Up Relatives Risiko (RR) Korrigiertes RR 3mal nicht-manuell 1 1 2mal nicht-manuell 1mal manuell 1.3 1.3 1mal nicht-manuell 2mal manuell 1.5 1.3 3mal manuell 1.7 1.6 A B Zuordnung zu manueller (‚blue collar‘) und nicht-manuellem (‚white collar‘) Beruf bei Geburt (Beruf des Vaters), bei Eintritt in das Berufsleben und zum Zeitpunkt der Untersuchung. B Korrigiert auf Alter und medizinische Risikofaktoren Bis zum bitteren Ende… Bildung und Lebenserwartung Sozialschicht-Indikator Bildung und Lebenserwartung im 15. Lebensjahr 66 Männer Frauen Abitur Kein Abitur 64 62 60 58 56 54 1984-93 Quelle: SOEP. Klein 1996 1984-93 Berufliche Position und Lebenserwartung Sozialschicht-Indikator Berufliche Position und Lebenserwartung im 15. Lebensjahr 66 I + II Männer Frauen IIINonManual IIIManual 64 IV + V 62 60 58 56 54 1977-81 Quelle: Shaw et al. 1999 1987-91 1977-81 1987-91 2. Armutsbericht der Bundesregierung 2004 Hense WS06: Soziale Lage und Gesundheit 63 Soziale Ungleichheit (Unterschiede in Wissen, Macht, Geld und Prestige) Unterschiede in den gesundheitlichen Belastungen Unterschiede in den BewältigungsRessourcen Unterschiede in der gesundheitlichen Versorgung z. B. Stress am Arbeitsplatz, Umweltbelastungen in der Wohnumgebung) z. B. soziale Unterstützung, Möglichkeiten der Freizeitgestaltung z. B. Arzt-Patient Kommunikation, Ausrichtung von Präventionsangeboten Unterschiede in Gesundheits- und Krankheitsverhalten z. B. Rauchen, Ernährung, Symptom-Toleranz Gesundheitliche Ungleichheit (Unterschiede in Morbidität und Mortalität) The “Web-of-causation” Gesundheitssystem ~25% Persönliche Faktoren Soziale Umwelt Alter Geschlecht Ethnie Gene Familie Freunde Kollegen Kultur/Sport etc. RisikoFaktoren Krebszelle ~75% Kanzerogene Rauchen Ernährung Strahlung Toxische S. Viren etc. Soziale Schicht Erziehung Bildung Beruf Einkommen Stellung Arbeitsplatz Wohnort Freizeit etc. etc. Physikalische Umwelt Proximale Hense WS06: Soziale Lage und Kausalfaktoren Gesundheit 65 Distale Soziale Faktoren beeinflussen das individuelle (Risiko-)Verhalten, beeinflussen die Lebensführung (Wohnung, Freizeit etc.), beeinflussen die Bewältigungsmöglichkeiten, wirken (oft) ein Leben lang, kumulieren ihre gesundheitsrelevanten Effekte, nehmen seit Jahren wieder zu. Soziale Faktoren sind Ursachen von Krankheit!