1.u.2. VL

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Entwicklungspsychologie
Einführung
Prof. Dr. Konrad Weller
Entwicklungspsychologie - Einführung
• Definitorisches/ Entwicklung des
Faches/ Gegenstand
• Semesterübersicht/ Zur Anlage der
Lehrveranstaltung
• Entwicklungspsychologie in den
Feldern sozialer Arbeit
Entwicklungspsychologie - Annäherung an den
Gegenstand: Das Konzept der Reifung
•
“Reife, Zustand der Vollendung und Festigung der somatischen,
psychischen und geistigen Differenzierung und Integrierung
(Reifung), sowie das Bereitsein zur Erfüllung der dem einzelnen
Menschen gestellten Aufgaben und zur Bewältigung der
Lebensanforderungen.
•
Während in Mitteleuropa die Geschlechts-R. bei Mädchen mit
fünfzehneinhalb und bei Jungen mit sechzehn Jahren erreicht ist, kann
die komplette somatische R. normalerweise erst mit siebzehn bzw.
einundzwanzig Jahren festgestellt werden.
•
Die psychische R. ist bei weiblichen Jugendlichen mit siebzehn und
bei männlichen mit achtzehn Jahren dadurch gekennzeichnet, daß
Strebungen und Wille eine nachhaltige Stabilität erreicht haben und die
Suche nach der Daseinsthematik beendet ist.
Entwicklungspsychologie - Annäherung an den
Gegenstand: Das Konzept der Reifung
•
Die soziale R. ist bei weiblichen Heranwachsenden mit zweiundzwanzig
und bei männlichen mit vierundzwanzig Jahren erreicht. Die soziale R. ist
gekennzeichnet durch das Erwachen des Schaffensdrangs im positiven
Sinne und das Erkennen der überindividuellen Ordnungen des
gesellschaftlich-politischen Lebens, schließlich noch durch die endgültige
Zielbestimmung und Verschmelzung von Sexus und Eros. Der
Ablösevorgang von den Eltern und das Noch-Ausgeschlossensein aus der
zivilisatorisch komplizierten Mitwelt der Erwachsenen sowie die
Gruppenbildungen tyrannischer und nivellierender Subkultur sind
überwunden. Das körperliche, seelisch und geistig differenzierte und zu
einem personalen Ganzen integrierte Individuum ist bereit für die
Gemeinschaft und den jeweiligen Kulturkreis und –stand. – Seit jeher
wurde in Europa das “vollkommene Alter” mit Vollendung des
vierundzwanzigsten Lebensjahres erreicht; z.B. die legitima aetas für das
Presbyteriat der r.-kath. Kirche, die Berechtigung des Handwerksmeisters
zur Lehrlingsausbildung oder die Vollmitgliedschaft bei Zünften, Gilden
und Bruderschaften. ...”
•
(H.J. Engels in: Arnold, Eysenck, Meili: Lexikon der Psychologie, Bd. 3, S. 1872/1873, Herder, Freiburg
1988)
Übung: Altersnormen - Normalitäten
In die Schule kommt man mit ................................
6 bis 7 Jahren, aus der Schule kommt man mit ..............................
14 bis 29 Jahren.
Allein Einkaufen darf man mit 7
................
Jahren.
Einen Sexshop betreten darf man mit ................
18 Jahren.
Mädchen werden geschlechtsreif mit 13
..................
Jahren,
Jungen mit
14,5
..................
Jahren.
Töchter ziehen im Durchschnitt mit .........................
21 Jahren
Söhne mit ..........................
24 Jahren
aus dem Elternhaus aus.
Den ersten Geschlechtsverkehr haben Jugendliche mit ................
17 Jahren.
Heiraten darf man mit ................
18 (16) Jahren.
Das Erstheiratsalter liegt bei ................
27 Jahren.
Das Erstgebäralter liegt bei ................
28 Jahren.
Frauen können bis
45 .................
Jahre
Kinder bekommen
Strafmündig ist man mit ................
18 (14) Jahren.
Das JGG bezieht sich auf Personen bis ......................
21 Jahre,
das KJHG auf Personen bis ................
27 Jahre.
Psychisches Leben beginnt mit ................
10 Wochen p.c.
Ein Jugendlicher ist zwischen
.............
14
und
..........................
18 (27) Jahre
alt.
In Rente geht man mit ................
65 Jahren.
Männer werden .....................
75,4 Jahre, Frauen werden
81,2
.....................
Jahre
alt.
Zum Bundespräsidenten kann man mit .........................
40 Jahren
gewählt werden.
Annäherung an den Gegenstand der
Entwicklungspsychologie
•
•
Ereignisse im Lebenslauf: Altersgrenzen, Altersnormen
Frage: Sind Altersgrenzen begründet und berechtigt?
•
•
Entwicklungsziele, Entwicklungsaufgaben, normative Lebensereignisse
Frage: Was passiert, wenn Entwicklungsziele nicht oder nicht zur richtigen Zeit
erreicht werden?
Frage: Was hat darauf Einfluß? Kann/muß Einfluß genommen werden?
•
•
•
•
Entwicklungen sind Veränderungsprozesse
Frage: Wie sehen diese Veränderungen aus? (Phasen, Zyklen, Sprünge,
quantitative und qualitative Veränderungen, Krisen)
Wie bewältigen die Individuen diese Veränderungen?
Definition
• (Die moderne) Entwicklungspsychologie...
...ist die Lehre von den relativ dauerhaften
Veränderungen im menschlichen Verhalten
und Erleben im gesamten Lebenslauf.
(Ontogenese)
Definition/ Entwicklung der Disziplin
• „Modern“?
 Entstehung aus der Kinder- und Jugendpsychologie der 20er Jahre
•
•
•
•
•
•
•
Einige Vertreter:
Deutschland/ Österreich:
William Stern (1871-1938): Psychologie der frühen Kindheit (1914)
Karl Bühler (1879-1962): Die geistige Entwicklung des Kindes
(1918)
Charlotte Bühler (1893-1974): Kindheit und Jugend (1928)
Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem (1933)
Hildegard Hetzer: Entwicklungstests (ab 1930)
Oswald Kroh (... - 1955) : Die Entwicklungspsychologie des
Grundschulkindes, Die Psychologie der Oberstufe
Definition/ Entwicklung der Disziplin
•
•
Arnold Gesell (1880-1961): erste Studien zur vorgeburtlichen
Entwicklung
Eduard Spranger (1882-1963): Psychologie des Jugendalters (1925)
•
•
•
Andere europäische Länder:
Binet (1857-1911) u. Simon: erste Intelligenztests (1905)
Jean Piaget (1896-1980): Psychologie der Intelligenz, Entwicklung des
moralischen Urteils beim Kinde (1932)
•
•
•
Rußland:
Lew S.Wygotski (1896-1934): Zone der proximalen Entwicklung
A.N. Leontjew (1903-...): Tätigkeitsprinzip
Definition/ Entwicklung der Disziplin
•
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•
•
Psychoanalyse:
Sigmund Freud (1856-1939): Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
(1905)
Rene A. Spitz:Vom Säugling zum Kleinkind (1967)
Erik H. Erikson(1902 - 1994): Kindheit und Gesellschaft (1965)
______________________
•
•
•
Literaturempfehlung:
Oerter/ Montada: Entwicklungspsychologie/ Kap. 1 (ab 1987)
Miller, Patricia: Theorien der Entwicklungspsychologie (1993)
Definition/ Gegenstand
1. Herkunft der modernen Entwicklungspsychologie
v.a. aus der Psychologie des Kindes-/ Jugendalter
2. Jetzt im Blick: Gesamte Ontogenese
3. Abgrenzung zur Phylo-/ Anthropogenese
4. Abgrenzung zur Aktualgenese (nicht kurzzeitige,
sondern dauerhafte Veränderungen)
5. Neben biopsychischen gewinnen psychosoziale
Bedingungen an Bedeutung
Definition/ Gegenstand
6. Untersuchung bestimmter Lebens- und
Übergangsphasen (Transitionspsychologie)
7. Normative und nichtnormative Lebensereignisse
(Entwicklungsaufgaben, kritische Lebensereignisse)
8. Von der normativ-orientierten zur biografischen
Forschung
9. Vom Individuum zum (mikro-)sozialen System
Abgrenzung zu Nachbardisziplinen
• gegenüber Bindestrich-Psychologien
• gegenüber Sozialisationstheorien/
Sozialwissenschaften
• gegenüber der Erziehungswissenschaft
• allgemeine und spezielle/ differentielle
Entwicklungspsychologie
Entwicklungspsychologie in der
sozialen Arbeit
1. Allgemeiner professioneller Zugang:
• In welchen Institutionen/ Bereichen/ Tätigkeitsfeldern (psycho-)
sozialer / sozialpädagogischer Arbeit brauche ich
entwicklungspsychologisches Wissen?
• In welcher Weise ist entwicklungspsychologisches Wissen
nützlich?
2. Individueller professioneller Zugang:
• Wo will ich später arbeiten und mit wem (Berufsfeld und
Zielgruppe)?
3. Individueller biografischer Zugang:
• Was interessiert mich persönlich besonders und warum?
Semesterorganisation/ Themen
Allgemeine Themen/ theoretische Themen/ Entwicklungsbereiche:
•
•
•
•
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•
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•
•
Intelligenzentwicklung (Piaget)
Moralentwicklung (Piaget, Kohlberg u.a.)
Sprachentwicklung/ Sprachstörungen
Kindliches Spiel , Spielformen
Leistungsverhalten/ Leistungsmotivation (Heckhausen)
Bindungsverhalten/ interpersonelles Verhalten (Bowlby, Ainsworth)
Psychosexuelle Entwicklung
Geschlechtliche Sozialisation (männliche und weibliche
Entwicklungsbesonderheiten/ -probleme)
Entwicklungsmodell von Erikson (Psychologie der Lebensspanne)
Pränatale Entwicklung, erwünschte/ unerwünschte Kinder
Psychologie des Erwachsenenalters (z.B. midlife crisis, Arbeitslosigkeit)
Gerontopsychologie
Semesterorganisation/ Themen
Familiäre Erziehung/ Sozialisation/ andere Sozialisationsinstanzen:
•
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•
•
•
Familienplanung / -gründung, Paare werden Eltern
Einzelkind – Geschwisterkind, Bedeutung der Geschwisterreihe
Adoptivkinder
Sozialisation im Heim / in Pflegefamilien)
Suchtfamilie (Entstehung von Co-Abhängigkeit, Parentifizierung ...)
Trennung und Scheidung (Auswirkung auf Kinder, Patchwork-Familie)
Medien als Erzieher/ Sozialisationsinstanzen
peers als Erzieher/ Sozialisationsinstanzen
Familiäre Erziehung in anderen Kulturen
Familiäre Sexualerziehung/ sexuelle Sozialisation in der Familie
Semesterorganisation/ Themen
Spezielle Themen/ Entwicklungsprobleme/ -störungen:
•
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•
•
•
•
•
Eßstörungen (Teilaspekte Magersucht, familiäre Bedingungen)
Kindesmisshandlung und -vernachlässigung
Sexueller Mißbrauch
Schulschwänzen, Schulangst, Schulversagen
Aggressives Verhalten im Kindes-/ Jugendalter
Drogengebrauch
Straßenkinder
Entwicklungspsychologie in der
sozialen Arbeit
1. Allgemeiner professioneller Zugang:
• In welchen Institutionen/ Bereichen/ Tätigkeitsfeldern (psycho-)
sozialer / sozialpädagogischer Arbeit brauche ich
entwicklungspsychologisches Wissen?
• In welcher Weise ist entwicklungspsychologisches Wissen
nützlich?
2. Individueller professioneller Zugang:
• Wo will ich später arbeiten und mit wem (Berufsfeld und
Zielgruppe)?
3. Individueller biografischer Zugang:
• Was interessiert mich persönlich besonders und warum?
Entwicklungspsychologie
dient ...
• ... der Orientierung über den Lebenslauf
•
•
•
Entwicklungsbesonderheiten in verschiedenen Lebensphasen
Was ist "normal" (welcher Entwicklungsstand in welchem Alter)? (Diagnose)
Prognose der Ausprägung und Veränderung von Personmerkmalen:
Ist Änderung dringend geboten, oder klärt sich alles von selbst?
•
•
•
Welche Kompetenzen darf man voraussetzen?
Welche Anforderungen sind angemessen?
In welcher Hinsicht ist Schutz/ Schonung geboten?
•
•
Was sind alterstypische Gefährdungen und Störungen?
Mit welchen Krisen und Problemen ist zu rechnen?
Entwicklungspsychologie
dient ...
• ... dem Überblick über Entwicklungsbedingungen
•
•
als möglichen Risikofaktoren/ Ursachen für Fehlentwicklungen (Anamnese)
als Faktoren der Entwicklungsförderung (Salutogenese)
•
psychosoziale Bedingungen: z.B. Kenntnisse über Auswirkungen
familiärer Konstellationen, Heimerziehung, Adoption,Traumatisierungen
(Gewalterfahrung), Vernachlässigung
•
biotische Bedingungen: z.B. Ursachen für Akzeleration/ Retardation
•
Einordnung der Individualentwicklung in historisch-konkrete Kontexte
Biotisches und Soziales in der psychischen Entwicklung
• Praxisbeispiele:
Nicht wollen oder nicht können?
• 1. Fall: Enrico, 15 Jahre, Schule für
Lernbehinderte - Schulschwänzer
 Seine Mutter: Er könnte, wenn er nur wollte...
• 2. Fall: Silvana, 9 Jahre, Bettnässerin
 Ihre Mutter: Sie möchte, kann aber nicht...
Biotisches und Soziales in der psychischen Entwicklung
• Weitere Erkenntnisse:
(Psychische) Affekte und Konflikte „suchen“ sich
ein disponiertes Organ(z.B. Niere und Blase als
„Angstorgane“)
Geschlechtstypische Konfliktverarbeitungsstrategien: Jungen externalisieren,
Mädchen internalisieren.
Entwicklungspsychologie
dient ...
• ... der Gestaltung von Entwicklungsbedingungen
•
•
Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Entwicklungsförderung,
präventive Maßnahmen gegen Fehlentwicklungen (z.B. Kinder- und
Jugendschutz)
•
altersgerechte Interventionsmöglichkeiten im Kindes-, JugendErwachsenenalter (Planung, Durchführung, Evaluation)
•
Beratung und Betreuung interpersoneller Systeme (z.B. Familien,
Jugendgruppen)
Übung: Ursachen von Fehlentwicklungen
Sie arbeiten als Sozialpädagoge/in an einer Förderschule und haben dort u.a. die Aufgabe, sich mit
aufmerksamkeitsgestörten Kindern zu beschäftigen.
Aus den Gutachten des zehnjährigen Patrick, die zur Überprüfung der Förderschulbedürftigkeit
(Förderschule für Erziehungshilfe) angefertigt wurden:
Aus dem pädagogischen Gutachten:
Patrick ist kontaktfreudig. Er ist ein großer, sehr kräftiger Junge (Adipositas). Die 3. Klasse wiederholt er.
Lernschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten zeigten sich bereits im ersten Schuljahr. Patrick ist
lustlos, unkonzentriert und für kurze Zeit begeisterungsfähig für praktische Tätigkeiten. Er beteiligt sich
kaum am Unterricht. Schwierigkeiten beim Erkennen von Wesentlichem und Unwesentlichem sowie
mangelnde Gedächtnisleistungen werden deutlich. Patrick kann sich höchstens 10 Minuten
konzentrieren. Er ist kaum belastbar, leicht ablenkbar und ermüdet schnell. Sein Arbeitstempo entspricht
nicht den Anforderungen. Die Arbeitsergebnisse sind liederlich und oberflächlich.
Patrick ist nicht in der Lage, selbständig zu arbeiten. Er bedarf ständiger Zuwendung und Hilfe, um
Aufgaben lösen zu können. Bei Leistungsversagen spielt er nervös mit den Händen. Patrick ist
lernunwillig und nicht anstrengungsbereit. Gesetzte Motivationen sind nur von kurzer Dauer.
Mit gezielten Störaktionen im Unterricht wie pfeifen, reinrufen, Arbeitsmittel herunterwerfen, im Zimmer
herumlaufen möchte er Aufmerksamkeit gewinnen. Es gelingt ihm kaum, die Regeln des
Zusammenlebens einzuhalten. Konflikte versucht er immer mit Gewalt zu lösen. Patrick erzählt gern
Phantasiegeschichten, in denen immer Aggressionen und Brutalität eine Rolle spielen, um die
Aufmerksamkeit der anderen auf sich zu lenken.
Als Kleinkind wurde er überwiegend von den Großeltern betreut. Es kam zu Spannungen zwischen den
Eltern und Großeltern, da es Unstimmigkeiten in der Erziehung gab. Im Beisein des Jungen wurde die
Mutter mehrfach von den Großeltern beschimpft und für unfähig erklärt, ein Kind zu erziehen. Patrick hat
keinerlei Respekt und Achtung vor seiner Mutter.
Übung: Ursachen von Fehlentwicklungen
Aus den Gutachten des zehnjährigen Patrick, die zur Überprüfung der Förderschulbedürftigkeit
(Förderschule für Erziehungshilfe) angefertigt wurden:
Aus dem psychologischen Gutachten:
Die intellektuelle Befähigung liegt im unteren Durchschnittsbereich. Mangelleistungen sind vorwiegend
in der akustischen und optischen Auffassung sowie im Gedächtnis zu erkennen. Patrick neigt zu
affektiven Ausbrüchen im Sozialbereich bei Mittelpunktstrebigkeit und Durchsetzungswillen. .... Eine
Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörung liegt vor.
Fragestellungen:
1. Was ist über Aufmerksamkeitsstörungen (ADS) bekannt? (Phänomenologie)
Wie wird Patrick charakterisiert? Inwieweit entspricht seine Symptomatik den
Kriterien für ADS? (Diagnostik)
2. Welche Ursachen könnten den Verhaltensauffälligkeiten und
Leistungsstörungen von Patrick zugrundeliegen? (Anamnese)
3. Welche Förder- bzw. Interventionsmaßnahmen sind angezeigt?
(Intervention)
Übung: Ursachen von Fehlentwicklungen
Zu 1.: Das Aufmerksamkeits-Defizit- Syndrom(ADS)
Historisch:
Der Frankfurter Nervenarzt Heinrich Hoffmann beschreibt 1845 im
„Struwwelpeter“ den „Zappelphilipp“, den „bitterbösen Friederich“, den
„Hans-Guck-in-die-Luft“, den „fliegenden Robert“, das „zündelnde
Paulinchen“...
Das moderne Wirrwarr der Diagnosen:
MCD
= Minimale cerebrale Dysfunktion
POS
= Psychoorganisches Syndrom
ADHD
= Attention Deficit Hyperactivity Disorder
ADD
= Attention Deficit Disorder = ADS
ADS
= Das Aufmerksamkeits-Defizit- Syndrom (mit oder ohne
Hyperaktivität)
Übung: Ursachen von Fehlentwicklungen
Das Aufmerksamkeits-Defizit- Syndrom (ADS)
Kern- bzw. Leitsymptome:

Unaufmerksamkeit

Impulsivität

Hyperaktivität/ Hypoaktivität
Übung: Ursachen von Fehlentwicklungen
• Häufigkeit/ Vorkommen von ADS:
- Aufmerksamkeitsstörungen bei 10 - 20% ansonsten unauffälliger Kinder (nur ADS)
- Aufmerksamkeits- und Verhaltensstörungen (zusätzlich hyper-/ hypoaktiv o.a.
Komorbidität - ADHS) bei mindestens 5%
- ca. 30% der ADS-Kinder müssen Klassen wiederholen, 20 - 40% haben
Teilleistungsstörungen.
• Weitere diagnostische Kriterien für ADS:
- Aufmerksamkeitsstörungen treten in der Regel bereits vor vollendetem 7. Lebensjahr auf.
Sie sind jedoch vor dem 3. Geburtstag kaum diagnostizierbar.
- Aufmerksamkeitsstörungen werden nur als solche bezeichnet, wenn ihre Dauer länger
als ein halbes Jahr beträgt ( = Ausschluß einer vorübergehenden Lern- und Leistungsstörung,
z.B. aufgrund eines traumatischen Erlebnisses, z.B. Scheidung der Eltern o.ä.)
- Ausschluß einer tiefergreifenden Entwicklungsstörung (die die ganze Persönlichkeit
betrifft),
- Ausschluß einer geistigen Behinderung
Übung: Ursachen von Fehlentwicklungen
Wie wird Patrick charakterisiert? Inwieweit entspricht seine Symptomatik den
Kriterien für ADS?
Alle Leitsymptome sind vorfindbar:
•Unaufmerksamkeit: Lernschwierigkeiten, unkonzentriert, nur kurz begeisterungsfähig,
nicht anstrengungsbereit
•Impulsivität: affektive Ausbrüche, Störaktionen, Konfliktlösung mit Gewalt
•Hyperaktivität: pfeifen, hereinrufen, herumlaufen im Unterricht
•Dauerhafte Störung: „... Auffälligkeiten bereits im ersten Schuljahr...“
•Ausschluß einer tiefergreifenden Entwicklungsstörung? - unklar
•Ausschluß einer geistigen Behinderung: IQ im unteren Durchschnitt, d.h., er ist
förderfähig.
Um zu einer adäquaten Intervention zu finden brauchen wir aber noch einige Erklärungen
für die Störung:
These: Die Theorie entscheidet, was man sieht (Einstein).: Was bewerte ich als
Abweichung? -Welche Ursachen will ich sehen? Welche Interventionen halte ich für
angemessen?
Übung: Ursachen von Fehlentwicklungen
2. Frage nach den Bedingungen/ Ursachen:
•Endogene/ biotische Ursachen:
•Frühere Annahmen: Frühkindliche Hirnschädigung als primäre Ursache,
minimale cerebrale Dysfunktion (MCD)
•daraus folgend: Hyperaktivität, mangelnde Reaktionskontrolle,
Teilleistungsstörungen im Bereich der sprachlichen Wahrnehmung, der
kognitiven Organisation, der visuellen Diskriminationsleistung ...
•Neuere Erkenntnisse: Stoffwechselstörung im Gehirn (genetisch bedingte
Transmitterstörung im Dopaminhaushalt)
•Kritik
Übung: Ursachen von Fehlentwicklungen
2. Frage nach den Bedingungen/ Ursachen:
•Gesamtgesellschaftliche Ursachen?
•Generell starkes Anwachsen der Aufmerksamkeitsstörungen in den letzten
Jahren (insb. in großen Städten) - das läßt auf soziale/
gesamtgesellschaftliche Ursachen schließen.
•Z.B. Fernsehnutzung, GameBoy, Computerspiele („Nintendo-Daumen“)
•schulische Bedingungen, z.B. zu große Klassen, nicht genügend individuelle
Zuwendung, individuelle Besonderheiten und familiäre Defizite werden nicht
genügend berücksichtigt...
•Neurobiologische Verursachungsthesen entlasten Eltern
•Pharma-Lobby
•Hirnforschung/ Psychosomatik: Auch soziale Einflüsse können zu
hirnorganischen Befunden führen.
Übung: Ursachen von Fehlentwicklungen
2. Frage nach den Bedingungen/ Ursachen:
•Familiäre Faktoren/ Ursachen:
•Fehlende Bindung: Von Anfang an abgelehntes Kind?
•Fehlende Vorbilder: Keine Autoritätsperson, aufgewachsen bei überforderter
alleinerziehender Mutter, deren Autorität von Großeltern zudem untergraben
wurde, keine Grenzen. Geringer Bildungsstand des sozialen Umfelds.
•Familiäre Vernachlässigung: Inadäquate Reaktionen der Erziehungspersonen
auf Leistungsprobleme. Verbote, Sanktionen, Schläge, familiäre Gewalt. Patrick
hat gelernt, durch "Terror" auf sich aufmerksam zu machen.
•.......
Übung: Ursachen von Fehlentwicklungen
Fast immer sind die Ursachen multifaktoriell und entwickeln
eine Eigendynamik:
•Ein biologisch benachteiligtes/ disponiertes Kind wird sozial
auffällig, weil es die Anforderungen der sozialen Umgebung
nicht ausreichend erfüllen kann.
•Teufelskreis von Mißerfolg, Kritik, Entmotivierung/ Meidung;
Versuch der Kompensation durch auffälliges Verhalten, evt.
weitere sekundäre Folgen.
•Auch Patricks Adipositas als Folge von diesen
Kompensationsprozessen (es in sich hineinfressen)
Übung: Ursachen von Fehlentwicklungen
•3. Interventionsansätze (unterscheiden sich je nach
Ursachenzuschreibung):
•Auch „Vitamin R“ (Ritalin), aber ...
•Wenn man gesellschaftliche Bedingungen sieht, müßte man eintreten für
bessere und frühere Diagnostik von Problemkindern und Frühförderung, z.B.
bereits im Kindergarten, Sozialpädagogen an Schulen, kleinere Klassen...
•Bei Akzentuierung der familiären Bedingungen wäre ein Herangehen:
Zusammenarbeit mit Mutter (Systemischer Ansatz)
Was tun, wenn die großen komplexen Lösungen nicht funktionieren? (z.B.
Mutter Mitarbeit verweigert?)
•„Kleine Lösung“: Aufmerksamkeitsförderung (Arbeit am Symptom)
Versuch, den Teufelskreis von Mißerfolg und Meidung zu durchbrechen,
Aufmerksamkeit schenken in Erfolgssituationen: den Eltern Erziehungsarbeit
mit dem schwierigen Kind abnehmen ...
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