Dr. Samuel Pfeifer, Klinik Sonnenhalde, Riehen / Schweiz Was kann Seelsorge von der Psychotherapie lernen? Therapie statt Religion? Was einst alleiniges Wirkungsfeld der Religion war, ist heute zur Aufgabe psychologisch orientierter Therapeuten geworden. Sie sind es, die Menschen in ihrer Not begleiten, ihnen seelischen Schmerz verständlich machen, ihnen neuen Lebenssinn vermitteln und ihnen dazu verhelfen, das Leben besser zu bewältigen und in größerer Fülle zu erfahren. Nach Benner 1998 Verdrängung der Seelsorge Psychotherapie Psychologisierte Seelsorge Eine breite Palette von therapeutischen Philosophien aus dem ausserchristlichen Raum. Seelsorge vs. Psychotherapie? Beklagt wird „Psychologisierung der Seelsorge“ 1947 Eduard Thurneysen: „Psychologie ist Hilfswissenschaft der Seelsorge“ 1978 Stollberg: „Psychotherapie im kirchlichen Kontext“ Dialog vs. Proprium Wie kann die Seelsorge die Sprache unserer Kultur sprechen, ohne ihr Proprium zu verlieren und zu einer blossen Spielform der über hundert Psychotherapieschulen zu werden? Definitionen – Seelsorge als Begegnung Die Unterstützung und Begleitung des Einzelnen in Fragen des Glaubens und der Lebensführung durch dafür ausgebildete und beauftragte Mitarbeiter. – Die wissenschaftliche Analyse und Darstellung der Seelsorge ist Gegenstand der praktischen Theologie. Die Geschichte der Seelsorge beginnt nicht erst mit dem biblischen Christentum und sie endet nicht an den Grenzen christlicher Konfessionen und Denominationen. Seelsorge ist ein Phänomen menschlicher Kommunikation und wie diese zeit- und situationsabhängig. Wo Menschen bewusst miteinander leben und kommunizieren, wird sich auch mehr oder weniger wahrnehmbar „so etwas wie“ Seelsorge ereignen… (Ziemer 2004) „Gespräch in der Seelsorge ist weder Verkündigung noch Therapie, sondern existentielles Gespräch im Deutehorizont des christlichen Glaubens.“ (Nicol, 1990) Übersicht 1. Das Bio-psycho-soziale Modell: Neurobiologie, Psychotherapie und Seelsorge. 2. Psychotherapieforschung und die gemeinsamen Wirkfaktoren von Therapie und Seelsorge. 3. Die Bedürfnisse und Erwartungen der „Konsumenten“. 4. Problemkreise: Kulpabilisierung, Spiritualisierung und Dämonisierung. 5. Wege zum Dialog zwischen Psychotherapie und Seelsorge. A) Neurobiologie und Psychotherapie Alles Neurobiologie und Genetik? Eindrückliche Forschungsergebnisse der Bildgebung und der Gensequenzierung „A new intellectual framework for psychiatry“ (E. Kandel 1999) Umdenken in der Psychotherapie: „NEUROPSYCHOTHERAPIE“ (Grawe 2003). Das Bio-Psycho-Soziale Modell PSYCHE GEFAHR Fühlen - Denken Wollen - Handeln Psychische NEUROBIOLOGIE Probleme BIOLOGIE SOZIALES UMFELD Erbanlage, Temperament Hirn-Biochemie individuelle Sensibilität körp. Gebrechen Kindheit, Familie Belastende Erlebnisse Schwere Umstände „STRESS“ Alles Neurobiologie und Genetik? GEFAHR: Verschwommene MRI-Bilder und kryptische Genomsequenzen gaukeln einen Wahrheits- und Deutungsanspruch vor, der einer genauen Überprüfung nicht standhält. Beispiel: „Das Gottes-Gen“ – Dean Hamer – Korrelation von „Selbsttranszendenz“ mit einem gehäuften Vorkommen des Gens für das Enzym VMAT2. Denken und Glauben von Biologie geprägt Neurotransmitter prägen alle Denkvorgänge, Gefühle, Triebe und Impulse. Letztlich ist auch der Glaube von der Balance der Neurotransmitter bestimmt. Die unsterbliche Seele ist abhängig von den Ausdrucksmöglichkeiten des Gehirns. Grenzen der Neurobiologie „Die innere Struktur psychischer Leidenszustände lässt sich wahrscheinlich doch nicht vollständig in neurobiologisch definierten Konzepten abbilden.“ Gefahr: „kausaler Determinismus von Denken, Fühlen und Verhalten, in dem der freie Wille oder die Autonomie der Subjektivität bestenfalls nützliche Illusionen darstellen.“ Editorial im Nervenarzt (Mai 2005) B Wirkfaktoren in der Psychotherapie Gemeinsamkeiten therapeutischer Prozesse 1. Eine vertrauensvolle Beziehung zur helfenden Person. 2. Eine Erklärung für die Probleme Eine rationale Begründung oder ein mythologischer Zusammenhang, der die Gründe für die Schwierigkeiten des Patienten erklärt und indirekt das Vertrauen des Patienten in seinen Therapeuten stärkt. 3. Darlegung neuer Informationen über die Ursache und Dynamik der Probleme des Patienten. Aufzeigen neuer Wege zum Umgang mit diesen Schwierigkeiten. 4. Hoffnung wecken. Stärkung der Erwartungen des Patienten auf Hilfe. 5. Vermittlung eines Erfolgserlebnisses, das die Hoffnungen weiter stärkt und ihm das Gefühl gibt, seine Schwierigkeiten meistern zu können. 6. Emotionales Engagement des Therapeuten. (nach J. Frank) Gemeinsame Faktoren Überzeugung Beziehung Erwartung Gemeinsame Faktoren Überzeugung GLAUBE Beziehung LIEBE Erwartung HOFFNUNG Gemeinsame Faktoren Glaube Liebe Hoffnung C Bedürfnisse und Erwartungen der „Konsumenten“ Studie: Ziele in der Psychotherapie Arbeitsgruppe um Prof. Klaus Grawe in Bern (M. Grosse Holtforth 2001) Fünf mögliche Ziele einer Therapie: 1. 2. 3. 4. 5. Problem- bzw. Symptombewältigung Beziehungen Wohlbefinden Orientierung und Sinnfindung Selbstbezogene Ziele (Selbstwert, Selbstsicherheit etc.) Ziele in der Psychotherapie nur 3 % suchen Antwort auf die Frage nach dem Sinn. M. Grosse Holtforth 2001 "Die Tragödie des modernen Menschen besteht nicht darin, dass er im Grunde immer weniger über den Sinn des eigenen Lebens weiß, sondern dass ihn das immer weniger stört." (Vaclav Havel) Sehnsucht nach Trost «Ich beuge mich dem Vorwurf, dass ich ihnen keinen Trost zu bringen weiss, denn das verlangen sie im Grunde alle, die wildesten Revolutionäre nicht weniger leidenschaftlich als die bravsten Frommgläubigen.» Sigmund Freud in „Das Unbehagen in der Kultur“ Pragmatische Sichtweise ? Patienten nehmen vielleicht Therapie heute anders wahr, nicht als Weg zu Lebenssinn und Orientierung, sondern schlicht zur Bewältigung von Problemen, zur Reduktion von Symptomen, zur Verbesserung von Beziehungen, und zur Stärkung des Selbstbewusstseins. Lebenssinn hat beim „Seelenklempner“ vielleicht genau so wenig Bedeutung wie beim Zahnarzt. ABER: Können wir diese reduktionistische Sichtweise unkritisch mittragen? Entkerygmatisierung der Seelsorge Verschiebung der Perspektive: von „coram deo“ nach „coram mundo“ Thurneysen (1947): „Seelsorge ist Wortverkündigung an den Einzelnen und kann und will nie etwas Anderes sein.“ – „Psychologie als Hilfswissenschaft.“ Stollberg (1978): „Seelsorge ist Psychotherapie im kirchlichen Kontext.“ „Entkerygmatisierung“ der christlichen Seelsorge in der Pastoralpsychologie (Sons) Spiritualität – Geistheilung Die diesseitsbezogene Psychologisierung hat in vielen Menschen einen Hunger nach Spiritualität ausgelöst. Öffnung für östliche Modelle der Meditation. Esoterische Modelle der Selbstfindung. Heilungsgebete und Geistheilung in den einst rationalen Kirchen (ohne Reflexion der theologischen Wurzeln). Aber auch: Ernsthaftes Nachdenken über den Wert frühchristlicher Spiritualität (z.B. Wüstenväter). Warum beten? D Problematische Bereiche der Seelsorge: Kulpabilisierung, Spiritualisierung, Dämonisierung Das Unbehagen in der Kultur der Seelsorge 1. 2. 3. Erzeugung von Schuldgefühlen (Kulpabilisierung): Suche nach Ursachen und „Wurzelsünden“. Lebensgestaltung als geistliche Forderung (Vermischung von Gemeindezucht und Seelsorge) – „Geistlicher Missbrauch“. Spiritualisierung: Geistliche Deutung psychischer Probleme; Religiöses Vokabular als Abwertung seelischer Not („Stolz, Auflehnung, Götzendienst“). Religiöse Interpretation von psychosomatischen und psychischen Symptomen (z.B. Schlaflosigkeit). Dämonisierung seelischen Leidens. („Delta-Faktor“; „Frei von dunklen Schatten“) Glaube an dämonische Ursache Untersuchung an 343 Patienten mit hoher Religiosität 60 Nondelusional Disorders 50 Demonic Causality Rituals of Deliverance 40 % 30 20 10 0 PSY MOOD ANX PERS Nach Pfeifer (1994), Brit J Med Psychol 67:247–258. ADJ Kritik der Kritik Gefühle und Bedürfnisse der Menschen als götzendienerische Empfindungen? Ist denn das Empfinden der Menschen nicht Teil des menschlichen Wesens und der menschlichen Not? Bereits im AT: Mitgefühl und Barmherzigkeit vs. Schuld und Sühne. „Der Herr, dein Gott, hat dein Wandern durch diese große Wüste auf sein Herz genommen.“ Christliche Seelsorger dürfen nicht zu Schriftgelehrten und Pharisäern degenerieren, die zwar jede Stelle zum Thema Sünde und Dämonie kennen, aber Gefühle der Barmherzigkeit mit den Schwachen bereits als „humanistisch“ und „außerbiblisch“ deklarieren. Seelsorge ohne Psychologie? Theologische Konstrukte allein erreichen nicht die Herzen der Menschen. Frage: Reichen die Konzepte der Bibel für eine fachgerechte Behandlung einer Anorexie, einer Angststörung, einer Zwangsstörung, oder einer Depression oder Psychose? Ein religiöser Reduktionismus kann zum Deckmantel für eine unprofessionelle (und oftmals auch unbarmherzige) Beratung werden, die dem leidenden Menschen nicht gerecht wird. Wiederentdeckung der Spiritualität Früher: „Christian Counseling“ „Integration of Psychology and Theology“ Heute: „Care of Souls“ „Care for the Soul“ „Spiritual Formation“ „Spiritual Direction“ „Integrating Spirituality into Treatment“ Die Neuentdeckung der Seele David Benner (1999): Care of Souls. Revisioning Christian Nurture and Counsel. Baker. Daniel Hell (2003): Seelenhunger. Der fühlende Mensch und die Wissenschaften vom Leben. Huber. Daniel Hell (2002): Die Sprache der Seele verstehen. Die Wüstenväter als Therapeuten. Herder. Die Neuentdeckung der Seele Unsere Beziehung zu Gott wird durch dieselben psychologischen Prozesse und Mechanismen moduliert, die auch in der Beziehung zu anderen Menschen wirken. Die geistliche Sehnsucht ist in gewisser Weise auch eine psychologische Sehnsucht und jede psychologische Sehnsucht kann auch verstanden werden als Reflexion unserer grundlegenden geistlichen Sehnsucht." David Benner Spannungsfelder der Seelsorge IDEALE Rel. Leitlinien GesellschaftsKirchliche Subkultur Individuum Wünsche Sehnsucht Triebe, Impulse prägende Kultur REALITÄT Leiden, Zerbrochenheit Gewalt, Versagen unerfüllte Wünsche D Was kann die Seelsorge von der Psychotherapie lernen? Herausforderung an die Seelsorge 1. Einfühlung und Engagement (Compassion) 2. Gesellschaftliche Relevanz 3. Verantwortungsbewusstsein, Professionalität und Ethik 4. Spiritualität und Sehnsucht nach Gott 1. Einfühlung und Engagement Gott nimmt das Fühlen, Begehren und Leiden des Menschen ernst. Jesus weinte über die Not der Menschen und nahm Anteil an ihrem Ergehen. Der reife Seelsorger kennt aus seinem eigenen Leben Grenzen und weiss um den Wert der Schwachheit. Beispiel: Henri Nouwen “Seine Worte sprachen mit besonderer Sensibilität zu denjenigen Menschen, die in ihrem Leben seelisch gelitten hatten. Er entdeckte, dass er aus seinen eigenen Verwundungen die Verletzungen anderer Menschen erreichen konnte.” 2. Gesellschaftliche Relevanz Seelsorge kann in der Sprache der umgebenden Kultur kommunizieren. Seelsorge spricht die Themen an, die die Menschen bewegen. Diakonischer Auftrag in einer entsolidarisierten Gesellschaft. Seelsorge gibt ethische Leitlinien. Seelsorge vertritt manchmal auch unbequeme Gegenstandpunkte. 3. Professionalität und Ethik Seelsorglich Tätige kennen ihre Grenzen und arbeiten mit Fachpersonen und -institutionen zusammen. Sie kennen die ethischen Richtlinien der Beratung und achten das Beichtgeheimnis. Sie sind sich ihrer Verantwortung bewusst und bedrängen Ratsuchende nicht mit einseitigen spirituellen Deutungen. Sie bilden sich selbst in speziellen Fachbereichen aus und nehmen Intervision / Supervision in Anspruch. 4. Spiritualität und Sehnsucht nach Gott In der Welt, nicht von der Welt. Die Sehnsucht nach dem letzten Durchblicken durch den matten Spiegel. Sehnsucht nach besserem Verständnis der menschlichen Seele. Sehnsucht nach vermehrtem Erkennen, was sein Wort für den einzelnen bedeutet. Eine Sehnsucht, dass er die Not der Menschen hinweg nimmt und ihre Tränen trocknet. Zusammenfassung **** Ein Unbehagen zwischen den Kulturen der Seelsorge und der Psychotherapie ist unvermeidlich und sogar stimulierend. Seelsorge darf sich nicht dem kreativen Dialog mit der Psychotherapie verschliessen. Sinn und Werte leiten sich nicht nur ab von der Suche nach Glück, sondern letztlich aus der Perspektive der Ewigkeit – in einer unvollkommenen Welt. Eine christliche Gegenkultur hält das Spannungsfeld zwischen biblischen Leitlinien und der individuellen Not der Rat suchenden Person aus und ist in der Lage, in der Sprache der Gegenwartskultur zu kommunizieren. The End www.seminare-ps.net