Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Universität Bremen Fachbereich 10 Wolfgang Wildgen Kreole Identität(en): Reflexionen zur „Mischung“ von Kulturen und Sprachen Seminar Caliban erzählen Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Karte der Karibik Detailansicht 2 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Abfolge von Stadien 1. Erstbesiedlung vom südamerikanischen Festland aus, ab ca. 500 v. Chr. – der Name der indianischen Erstsiedler wird mit Arawaken angegeben. Felszeichnungen der Arawaken in der Dom. Republik 3 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Fotos ©W.Wildgen • Felsritzungen in Ste. Luce (Süden von Martinique) • Die Lage auf einem Vorsprung über Ste. Luce könnte auf einen sakralen Ort hinweisen. 4 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften 2. Eroberung durch die Kariben, die teilweise die ältere Indianerkultur verdrängt oder sich mit ihr vermischt haben (15. Jh. n. Chr.) Diese Bevölkerung wurde von den spanischen “Entdeckern” vorgefunden und bekämpft. Viele Geschichten über Menschenfresser haben im kriegerischen Kontakt mit den Kariben ihren Ursprung. Auf der sehr gebirgigen Insel Dominica gibt es ein Reservat, in dem Nachkommen der Kariben und der mit ihnen vermischten entflohenen Sklaven leben (viele Kariben sind von Martinique nach Dominica geflohen). Eine Wiederbelebung der karibischen Kultur erfolgt derzeit in Trinidad. • Die von den Tainos so genannten Caribas oder Kariben bezeichneten sich selbst als Kalinas. Sie waren Neuankömmlinge auf dem später nach ihnen benannten Meer, der Karibik, und seinen Inseln; erst Anfang des 15. Jahrhunderts waren sie in das Gebiet gekommen und hatten die Kleinen Antillen von Grenada bis nach Guadeloupe erobert und sich mit den dort schon ansässigen Bewohnern vermischt. Entgegen den bis heute gängigen Erklärungen waren sie weder wild noch kriegerisch, und sie waren auch keine Kannibalen.“ 5 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften 3. Die Kolonisation erfolgte zuerst durch die Spanier, die allerdings ihren Schwerpunkt bald auf die großen Inseln der Karibik (Kuba, Puerto Rico, Hispaniola [heutige Dominikanische Republik und Haiti]) und das mittel- und südamerikanische Festland verlegten. Die Karibik blieb eine Durchfahrzone für die spanischen Schiffe und war deshalb das beliebte Areal von Freibeutern (Piraten und englischen, französischen, holländischen Freibeutern). Sie operierten im Widerspruch zur päpstlich vermittelten Aufteilung der kolonialen Welt unter die Spanier und Portugiesen. Die koloniale Periode kann weiter untergliedert werden: 6 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften 3. A. Frühe Kolonisation. Nach dem Aussterben (oder der Vertreibung) der indianischen Bevölkerung wurden Sklaven aus Westafrika als Arbeitskräfte eingeführt. Die erste Periode ist durch einen ausgeglichenen Populationsanteil von Europäern und afrikanischer Bevölkerung charakterisiert. Die genetische und sprachliche Mischung waren die Folge. Die sprachliche Mischung erzeugte eine Behelfssprache (Pidgin, petit nègre), plansprachliche Eingriffe der Missionare und als gemeinsame Kommunikationsbasis ein Kreol (d. h. eine alle Kommunikationsfelder abdeckende Mischsprache). Der Wortschatz des Kreols ist etymologisch der Kolonialsprache entlehnt, die Phonologie, Morphologie und Syntax lassen aber Einflüsse der westafrikanischen Substratsprachen erkennen • Diese Periode war auf den einzelnen Inseln unterschiedlich lang. In Martinique gab es 1664 etwa gleich viele weiße „colons“ wie schwarze Sklaven (2722 zu 2600). Erst nach einem halben Jahrhundert war die Relation 3100 zu 4900 (vgl. Chaudenson, 2003: 108). 7 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften 3. B. Plantagengesellschaft (Beginn: 1669) mit industrieller Produktion von Zucker, Rum, Baumwolle, Tabak, Kaffee. In Martinique dominierte die Zuckerproduktion auf der Basis des aus Afrika eingeführten Zuckerrohranbaus. Bei der Technik der Zuckergewinnung waren aus Brasilien ausgewiesene Juden sehr hilfreich. In der Plantagengesellschaft steht sich eine Schicht wohlhabender Besitzer (oft mit enger Anbindung an die Kolonialmacht), eine Mittelschicht von Aufsehern und Angestellten, die teilweise aus Mischlingen rekrutiert wurde, und eine weit größere Masse schwarzer Sklaven gegenüber. • Nach Mufwene (2001) sind die genetisch und ethnisch gemischten Mittelschichten der eigentliche Ort der Entstehung von kolonialen Kreols, d. h. es gibt gemischte, anfangs mehrsprachige Familien, deren Sprache und Kultur zum Kreol konvergiert. Das Kreol ist demnach nicht eine Erfindung von Kindern (siehe die Theorie von Bickerton, 1984), sondern die Kulturleistung dieser vermittelnden Schichten. 8 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften • Dieser Prozess muss als kulturschaffende Leistung einer sozialen Gruppe in der Habitationsgesellschaft angesehen werden. Das Ergebnis ist ein Angebot für die schwarzafrikanische Mehrheit (und die Neuankömmlinge), die zugunsten des Kreols den Gebrauch der Muttersprachen reduzieren und schließlich aufgeben • In der Folge kommt eine Mehrheitskultur zustande; daneben pflegt die Oberschicht natürlich die Kolonialsprache, die auch für die aufstrebende Mittelschicht ein Fernziel bleibt. 9 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Cases nègres als architektonisches Überbleibsel Foto ©W.Wildgen Typische Häuser für Plantagenarbeiter in Martinique 10 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Sprach- und Kultursituation ist also jetzt bipolar: Reale dominierende Kreolsprache und Kreolkultur Als sozial gehobene Varietät weiter existierende Kolonialsprache Auf den großen Inseln Kuba, Hispaniola, Puerto Rico entsteht keine Kreolkultur, das Spanische bleibt die Zielsprache auch für alle Neuankömmlinge („bossals“). 11 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften 3. C. Die Periode nach der Abschaffung der Sklaverei (erste Schritte um 1800; Durchsetzung nach 1840) bis zur Dekolonisation (ab 1960). Diese Periode ist durch Ereignisse in der europäischen Geschichte: Französische Revolution, Napoleonische Kriege, Restauration im 19. Jh. stark beeinflusst. In der Karibik gibt es nicht nur Kriege zwischen den Kolonialherren (hauptsächlich England, Frankreich), sondern auch Aufstände. Als erstes Land des Kolonialbereichs wird Haiti unabhängig (1820). Noch vor der einsetzenden Dekolonialisierung bindet Frankreich 1946 einige seiner überseeischen Besitzungen in das innerfranzösische Verwaltungssystem ein. Diese sind damit auch Teil der EU geworden. In dieser speziellen Situation hat das Kreol und die kreole Kultur nahezu den Status eines „patois“, eines Dialekts oder einer Regionalsprache, allerdings mit einer wesentlich höheren Verständigungsbarriere, erhalten. • Einerseits erbt es deren Problematik (und Unterdrückung) andererseits kommt es in Reichweite der europäischen Charta zum Schutz von Regional- und Minderheitensprachen, die allerdings in Frankreich nur zögernd umgesetzt wird. Charte (Université Laval, Québec) 12 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Sklavenbefreiung Appell für die Abschaffung des Sklavenhandels Die französische Revolution schafft die Sklaverei ab 13 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Verdrängung des Kreol in Martinique? Dem stehen entgegen: • Die Eigenständigkeit des Kreols, das die Entwicklung einer Übergangssprache, etwa eines kreolgetönten Französisch, erschwert. Eine Lösung – wie im Französisch Belgiens, der Schweiz oder (teilweise) in Quebec – wird damit (zumindest vorerst) blockiert. • Die mit der Tradition der kreolen Kultur verbundene Eigenidentität, die durch die Insellage und die Entfernung zu Frankreich verstärkt wird. Entscheidend wird die Dynamik der verschiedenen sozialen Gruppen in Martinique selbst sein. 14 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Soziale Schichtung in Martinique heute • Die ursprüngliche Dreiteilung der Plantagengesellschaft in: Plantagenbesitzer (Zuckerbarone) – verarmte Weiße – schwarze Sklaven, wurde nach dem Ende der Sklaverei und der Verstädterung weiter aufgesplittert. Es gibt in Martinique noch die Nachfahren der Zuckerbarone, die sog. „béké“, die heute das fruchtbare Land besitzen, aber auch die meisten neueren, ökonomisch relevanten Bereiche kontrollieren (in Guadeloupe hat die Französische Revolution diese Insel-Aristokratie dezimiert). Sie machen nach Fleischmann (1986: 104) nur 0,2 % aus, d. h. einige Familienclans kontrollieren die Wirtschaft. Diese Schicht ist meist zweisprachig: Kreol-Französisch und versteht sich als die traditionelle Oberschicht. • Im städtischen, d. h. modernisierten Bereich gibt es auch eine Oberschicht („grands blancs“), die mit der Metropole verbunden ist und Französisch spricht. Die Mittelschichten der Städte sind Mulatten oder Schwarze im Angestellten- und Arbeiterverhältnis. Die Staatsangestellten profitieren davon, dass ihre Gehälter 40 % über denen der Metropole liegen, wodurch sie (im Vergleich etwa zu Frankreich) ungewöhnlich wohlhabend sind. 15 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften • Die Unterschichten sind sehr uneinheitlich (nicht linear skalierbar). Bei den einfachen Arbeitern fällt ins Gewicht, dass der Mindestlohn (SMIG) 18 % unter dem in Frankreich liegt. Dies bedingt ein starkes Einkommensgefälle zwischen der Mittel- und Unterschicht (städtische Hilfsarbeiter und Landarbeiter). Die Kleinbauern und Fischer, die sich teilweise selbst oder die lokalen Märkte versorgen, bilden eine eigene soziale Gruppe, die ortsgebunden und traditionell ist. Die größte kulturelle Dynamik geht von der ethnisch gemischten Mittelschicht mit Bildungszugang und Kontakt zur Metropole aus. Kulturell statisch (oder stabilisierend) bleiben die traditionelle Oberschicht (béké) und die recht autonomen Kleinbauern und Fischer. 16 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Der Kampf um eine kulturelle Identität: „Négritude“ und „Créolité“ • Die Négritude, die schwarze oder afrikanische Identität, ist selbst ein gespaltenes Konzept. Ihren stärksten Impuls hat sie in der Bewegung von Martin Luther King in den USA, also auf dem Hintergrund der in den Großstädten der nördlichen USA gelandeten Nachfahren von in die Südstaaten deportierten Afrikanern erhalten. • Den Hintergrund bildet eine postkoloniale Situation. Die befreite (englische) Kolonie hat sich Geltung gegenüber den alten Kolonialstaaten (England) verschafft. Der Kontext ist also nicht Afrika, nicht die Zone, die in den 60er Jahren dekolonisiert wurde (z. B. Algerien nach dem Algerienkrieg), er ist auch nicht derjenige der 1946 rasch zu „départements“ Frankreichs avancierten Inseln: Martinique, Guadeloupe, u.a. Insofern gibt es Anwendungsprobleme dieses Konzeptes jenseits der USA, wo die Bewegung eigentlich entstanden ist. 17 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Négritude • Der Begriff der „Négritude“ entstand unter Afrikaner und Antillenbewohnern in Paris; Senghor und Césaire sollen ihn geprägt haben. Für die farbige Bevölkerung Martiniques sind aber die Bewohner Guadeloupes näher an Afrika und somit an der „Négritude“, da sie dunkler sind als sie selbst. • Sich selbst sehen sie auch viel näher an Frankreich als die früheren afrikanischen Kolonien Frankreichs, wie z. B. als den Senegal. Auf der Skala einer „Négritude“ sehen sie also beide unter sich stehen und verstehen sich selbst fast als kulturelle Weiße (die Kinder zeichnen sich als Weiße mit blonden Haaren; vgl. Fleischmann, 1986: 229). • Angelpunkt des Diskurses zur Négritude von Martinique ist das „Cahier d’un retour au pays natal“ von Aimé Césaire, in dem er nicht nur die kulturelle Destruktion der Kolonialperiode, sondern auch die enge Verbindung mit seiner Heimat, den Antillen, und indirekt mit dem Herkunftsland Afrika aufweist. 18 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften • Er proklamiert poetisch eine „Négritudehumanité“, also ein Ideal ganz im Sinne von Victor Hugo oder Paul Claudel, das sich aber jetzt auf eine afrikanische Vergangenheit und deren Helden bezieht. Im idealisierenden Zugriff steht er dabei der europäischen Romantik relativ nahe. Ebenso wie einem poetischen Schwärmer des 19. Jh. Figuren wie Moses (Hugo) oder Christus (Claudel) unantastbar fern stehen, ist auch den afrikanischen Poeten der USA, der Antillen, Afrikas die vorkoloniale Kultur Schwarz-Afrikas unnahbar fern. Die Négritude verblasst dadurch zum literarischen Konstrukt, das sich ebenso wie die romantische Heimatliebe vorheriger „poètes doudou“ nahtlos von der herrschenden postkolonialen Kultur vereinnahmen lässt. Victor Hugo en 1829, par Devéria http://www.acstrasbourg.fr/pedago/lettres/victor%20 Hugo/Communs/biographie.htm 19 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Haiti als Vorbild • Césaire hat als Vorbild die Befreiung von Haiti nach dem Sklavenaufstand von 1791 und besonders die tragische Figur ihres Generals Toussaint Louverture gewählt, der von den napoleonischen Truppen nach Frankreich verschleppt wurde (vgl. Césaires Theaterstück: Et les chiens se taisaient). Auf diesem Befreiungsweg, der Haiti ab 1805 zum ersten dekolonialisierten Land mit afrikanischer Bevölkerung machte, wurde der Bezug zu Afrika, zu afrikanischen Religionen und Mythen, als identitätsstiftend eingesetzt und die Misch-Religion des Wodu wurde neben dem Kreol zum Kennzeichen eines Neubeginns. An Wodu lässt sich auch die Problematik solcher MischIdentitäten ablesen. • Die Vermischung von Christentum und Wodu geht zuerst auf die Toleranz der meist bretonischen Geistlichen in Haiti zurück. Nach deren Vertreibung nahmen vagabundierende prêtres savants, meist frühere Chor-Ministranten, deren Aufgaben wahr und wurden somit zu den Katalysatoren der Mischreligion, die außerdem dem Einfluss der katholischen Kirche entzogen war. 20 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Voodoo (Wodu) als Misch-Religion • Ursprünglich geht der Name auf den Namen Gott/Geist in der Yoruba-Sprache zurück. Offiziell existiert der Kult in Haiti , sowie in Westafrika in Benin, Togo, Ghana. • Die reichhaltigeren, originalen religiösen (und philosophischen) Traditionen West-Afrikas waren in der Karibik nur verstümmelt angekommen. Dies lag zum einen in der Vielfalt der Herkunftsregionen, die bevorzugt weit weg von den kulturell entwickelten Küstenländern (bis 1000 km im Inneren) lagen und an der Sozialund Altersstruktur der Versklavten (häufig nicht initiierte Kinder und Jugendliche). Zum anderen wurde durch die intensive Christianisierung jede Fortsetzung mitgebrachter Kulte und Rituale unterbunden. Die Sklaven wurden nicht nur nackt und kahl geschoren gehandelt, auch kulturell sollten sie als Christen quasi neugeboren werden. • Der Versuch, zu den afrikanischen Wurzeln zurückzukehren, musste also einen jahrhundertealten Verlustprozess kompensieren. 21 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften • Es ist nahe liegend, dass nur sehr stabile Muster, etwa Trommel-Rhythmen, Natursymbole, emotional-irrationale Inhalte reaktiviert werden konnten. Deren Vermischung mit Elementen europäischen Ursprungs wurde ursprünglich geduldet. So hatten gerade die Jesuiten (vor ihrer Verjagung, die eine Konsequenz ihrer progressiven Missionspolitik war) Amalgamierungen von Christentum und Kultformen anderer Herkunft gepflegt, auch die überwiegend bretonischen katholischen Priester in Haiti akzeptierten die Vermischung von katholischem Marienund Heiligenkult mit polytheistischen Vorstellungen afrikanischer Herkunft. Der monotheistische Gesamtcharakter wurde jedoch durch die Figur des Bon Dieu, des Schöpfers der Welt, oberster Herr aller Loas (vgl. Jahn, 1958 : 36 f.) aufrechterhalten. • Die folgende Tabelle zeigt einige Entsprechungen: 22 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Synkretismus Besonderheiten Orisha/Loa Bedeutung, Zuordnung Obatala Schöpfer Im Candomblé: Christus (Nosso Sr. do Bonfim) Im Voodoo vergleichbar Damballah Yemayá Mutter der Menschheit Im Candomblé: Maria (Nossa Sra. das Conceiçaõ) Shango Krieg Im Candomblé: Hieronymus Oshun Fruchtbarkeit Im Candomblé: Maria (Nossa Sra. da Candeias) Ogún Eisen, Werkzeuge, Gefängnis Im Candomblé: Antonius Im Voodoo Ogoun Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Orisha 23 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Créolité statt Négritude Das Pendant zur Négritude ist auf den Antillen das Konzept der Créolité. Da sich die Insel-Kreols sowohl in Bezug auf die Kolonial- und Zielsprache als auch in Hinblick auf die Zusammensetzung der afrikanischen Bevölkerung unterscheiden, entspricht die Créolité zwar einem geographischen Zusammenhang, sie hat aber gegenüber der Négritude folgende Nachteile: • Es gibt keine Möglichkeit, auf eine vergangene Hochkultur Bezug zu nehmen. Die kulturelle Basis ist diejenige der Sklaven-Habitationen auf den Plantagen, also eine Subkultur. Das bedeutt, dass das Produkt der insulären Mischkultur zur orientierenden Norm erhoben wird. • Das Kreol ist primär eine linguistische Realität. Da aber die Schulsprache jeweils Französisch, Englisch ... ist und auch die Oberschicht prägt, wird das Kreol kaum geschrieben/gelesen. Es kann damit viele kulturelle Domänen nicht besetzen. In der Konsequenz ist die Créolité einem Drift in Richtung auf die Hochkultur, in Martinique in Richtung auf die Metropole Paris ausgesetzt. 24 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Die Dynamik von Kreolsprachen Die Lehrmeinung zur Entstehung von Kreolsprachen leitet diese aus einem Jargon oder einem Pidgin ab. Romaine (1988: 117) nimmt drei typische Entwicklungswege an: Typ 1: Jargon Kreol Typ 2: Jargon stabiles Pidgin Kreol Typ 3: Jargon stabiles Pidgin erweitertes Pidgin Kreol • Der Jargon ist eine situativ entstehende Behelfssprache; sie wird z. B. nur zu regelmäßigen Markttagen benützt, an denen sich Sprecher treffen, die ansonsten keine Kontakte haben. • Das Pidgin ist eine entwickelte Zweitsprache für Kontaktsituationen. Jeder Sprecher hat dabei seine Muttersprache als allgemeines, außerhalb der Kontaktsituation benütztes Kommunikationsmittel. • Schließlich werden vom Kreol die mit der Ausgleichsprache konkurrierenden Muttersprachen verdrängt. 25 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Drei Phasen bei der Entstehung des Kreols 1. Die Kontaktsituation Weiße – karibische Indianer. • Die Kontakte waren häufig wenig friedlich, da die Kariben ein wehrhaftes Volk waren, das erst einige Zeit vorher die Urbevölkerung der Arawaken unterworfen hatte. Immerhin ist im Zusammenhang von Missionierungsversuchen wohl eine erste Kontaktsprache entstanden. Die Kariben wurden 1658 von den Franzosen vertrieben und flüchteten auf die Inseln Dominica und St. Vincent. In der Zeit nach der französischen Inbesitznahme (1635) bis zur Vertreibung könnte dennoch eine erste Kontaktsprache (ein Jargon) entstanden sein (Bouton, 1640, verweist auf „un certain baragouin meslé de françois, espagnol, anglois et flamant“; vgl. HazaëlMassieux, 1996: 99). 26 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik 2. • • Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Schon seit 1635 betrieben die Franzosen den Sklavenhandel, der hauptsächlich von Senegal nach St. Domingue (Hispaniola, heute Haiti und Dominikanische Republik) verlief. 700 000 Sklaven wurden allein zwischen 1673 und 1789 verkauft; davon 600 000 nach St. Domingo, die anderen 100 000 nach Martinique, Guadeloupe und St. Christophe. In der ersten Phase (ab 1635) hielten sich zahlenmäßig die Weißen und Schwarzen in etwa die Waage. In dieser Periode der Habitation, d. h. einer relativ starken Abhängigkeit von Weißen und Schwarzen, entstand eine Ausgleichssprache, eine Koiné, nach dem Muster des Französischen. Dabei wurden die lockeren dialektalen Normen des Französischen (im Wesentlichen Dialekte Westfrankreichs zwischen Bordeaux und Picardie) aufgeweicht. Im Kontext der frühen Missionierung entschied man sich, diese in der (neuen) Mischsprache durchzuführen. Bereits missionierte und auf den Inseln geborene Sklaven (die Etymologie von créole verweist auf die „dort Geborenen“) dienten als Hilfslehrer. Sie stellen somit den Keim der Konsolidierung der Mischsprache dar, die im 17. Jh. ihre Form erhielt, zum Kreol wurde (die Jesuiten halfen eventuell bei der Fixierung dieser Kontaktsprache; vgl. Hazaël-Massieux, 1996: 226). 27 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik 3. 4. • Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Mit dem Anwachsen der Sklavenimporte und der Ausdehnung der Plantagenkultur wurden nicht nur die Plantagenbesitzer sehr reich, das Zahlenverhältnis verschob sich auch dramatisch. Bereits 1745 zählte Martinique etwa 80 000 Einwohner, davon 65 000 Sklaven. Der Zuzug weißer Arbeiter (petits blancs) kam zum Erliegen. Die neue Sprachsituation war die, dass quasi jedermann das Kreol beherrschte, die weiße Oberschicht aber zweisprachig Kreol-Französisch war. Die Abschaffung der Sklaverei (am 23.05.1848) erfolgte nach einem Aufstand noch bevor das Dekret, das Schoelcher (1804-1893) eingebracht hatte, am 4.11.1848 verabschiedet war. Die Folgen waren zuerst eine Abwanderung der Schwarzen aus den Plantagen in die Städte und dann die Kontraktverpflichtung von Einwanderern aus Indien und Ostasien. Der „Code de l’indigénat“ (18.06.1887) zementierte aber den QuasiSklavenstatus aller Nicht-Franzosen auf den Inseln (er war bis zur Departementalisation 1946 und in Algerien bis zur Unabhängigkeit 1962 in Kraft). Diese Periode änderte somit weder die politische noch die sprachliche Situation. Das Kreol blieb die Grundsprache und entwickelte sich weiter. 28 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Victor Schoelcher 1804-1893 Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Schoelcher: Pétition pour l’émancipation immédiate, 1847 « Nous demandons, Messieurs, l’abolition immédiate et complète de l’esclavage dans les colonies françaises ; Parce que la propriété de l’homme sur l’homme est un crime ; Parce que l’épreuve des lois des 18 et 19 juillet 1845 a rendu plus manifestes que jamais l’insuffisance et le danger des moyens prétendus préparatoires ; Parce qu’aujourd’hui même ces lois ne sont pas encore appliquées dans leur entier ; Parce qu’on ne peut détruire les vices de la servitude qu’en abolissant la servitude elle-même ; Parce que toutes les notions de justice et d’humanité se perdent dans une société à esclaves ; Parce que l’homme est encore vendu à l’encan, comme du bétail, dans nos colonies ; (...) Parce que la prolongation de l’esclavage porte atteinte aux véritables intérêts des colonies et à la sécurité de leurs habitants ; Parce que l’abolition, en réhabilitant le travail agricole, y rattachera toute la population libre ; (...) Parce que l’affranchissement des nèges français entraînera l’émancipation de toute la race noire ; Parce qu’en vertu de la solidarité qui lie tous les membres de la nation entre eux, chacun de nous a une part de responsabilité dans les crimes qu’engendre la servitude ». 29 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Die Abschaffung der Sklaverei aus französischer Sicht Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften 5. Die Departementalisation (1946) und die Alphabetisierung (in Französisch) erzeugte eine Stärkung des Französischen, das die Schriftlichkeit und die Medien beherrscht und Kriterium des sozialen Aufstiegs ist. (Die Analphabetenrate sank unter 10 %, d. h. fast alle lernen Französisch.) 30 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Ein Satz in acht verschiedenen französischen Kreolsprachen Créole haïtien (CH); créole guadeloupéen (CG) ; créole martiniquais (CMa) ; créole guyanais (CGu) ; mauricien (CM) ; créole rodriguais (CRo) ; créole réunionnais (CR) ; créole seychellois (CS) 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. (CH) An nou tout pèp kreyòl sou latè bay lamen. (CG) Tout pep kréyol ki asi latè an nou ban nou lanmen. (CMa) Tout pep kréyol ki asou latè annou ba kò-nou lanmen. (CGu) Pèp kréyòl-yab ki asou latè annou rédé nou konpannyen. (CM) Tou dimoune ki koz langaz kreol anou mars ansam. (CRo) Tou kreol lor la ter anou marye pyke. (CR) Anou pèp kréol dan lo Monn antyé anon mèt ansanm. (CS) Tou pep Kreol dan lemonn, annou atrap lanmen. (Fre) Peuples créoles du monde entier donnons-nous la main. (Deu) Kreolische Völker der ganzen Welt, reichen wir uns die Hand! Auszug aus : http://membres.lycos.fr/campuscreole/claroline/link/link.php 31 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Die Unterdrückung des Kreol • In der Kultur- und Schulpolitik wird das Kreol in den DOM-Ländern, wie die (allerdings schon weitgehend verschwundenen) Dialekte in Frankreich behandelt. • Bebel-Gisler (1976) beschreibt die Situation in Guadeloupe. Generell ist an allen Orten der Kultur (Maison des Jeunes et de la Culture), in den Schulen, in der Administration das Kreol verboten.[1] Teilweise bis 1962 wurde Schulkindern im Pausenhof, wenn sie beim Kreol-Sprechen ertappt wurden, noch die „planchette“, ein Brett, auf dem stand: „Il est interdit de parler créole“, umgehängt. Am Donnerstag hieß es dann Nachsitzen. Nur wer perfekt Französisch gelernt hat, darf danach beliebig anders sprechen, auch Kreol. Damit wird aber nur die Zweisprachigkeit der Oberschicht (der béké) sanktioniert. Das Kreol erhält den Status „de langue interdite, infériorisée, vulgaire, folklorique, asociale, etc.“ (Bebel-Gisler, 1976: 125). • [1] Seit 2000 erlaubt die europäische Charta den Gebrauch, sofern die Funktionen der Institution nicht darunter leiden. 32 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Das Kreol der Französischen Antillen • Bereits in den Kommentaren des 17. Jh. wird auf den Wegfall der Flexion hingewiesen. Relativ differenziert stellt sich aber das Paradigma der Personalpronomina dar. Wir vergleichen kurz das Haiti- und das Guadeloupe-Kreol: Haiti Kreol Guadeloupe 1 Pers. Sing. moin moin, au 2 Pers. Sing. vou vou, ou 3 Pers. Sing. li li, i 1. Pers. Plural nou nou 2. Pers. Plural nou, zot zo, zot 3. Pers. Plural yo yo 33 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften TMA-System • Charakteristisch für viele Kreols ist die Entwicklung eines eigenständigen Systems für Tempus, Modalität und Aspekt (TMA). Das Kreol von Guadeloupe hat das folgende System (vgl. Hazaël-Massieux, 1996: 248): Tempus Aspekt Neutrale Form i manjé (er hat gegessen) i ka manjé (er isst [gerade]) Vergangenheit i té manjé (er hatte gegessen) i té ka manjé (er aß [gerade]) Zukunft i ké manjé (er wird essen) i ké ka manjé (er wird dabei sein zu essen) 34 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Hier treten drei Morpheme auf, deren Herkunft und Grammatikalisierung zu klären ist: té, ka, ké: • Das té (ti) wird aus frz. étais (à) abgeleitet: • Beispiel (Mauritius): moi j’étais à danser > mo té dansé > mo ti dansé • Das ka wird kontrovers diskutiert (vgl. Hazaël-Massieux, 1996: 185-205). Chaudenson favorisiert eine Ableitung aus être qu’à + Inf.: Il n’est qu’à venir – er soll/muss nur kommen. • Das qu’à tritt in dieser Form noch in der Übersetzung des Passionsberichtes auf und wurde später zu ka als Morphem des Aspekts (durativ) grammatikalisiert (Germain, 1980: 101, nennt die Funktion: continuatif). • Da ké später als ka und nur dort, wo ka im System stabilisiert ist, auftritt, leitet Chaudenson ké aus ka ab. Die Realisierung des Futurs durch das Hilfsverb aller ist ja auch im Französischen eine Alternative zur futurischen Flexionsform. Es wird ähnlich im Kreol verwendet: moin a batte: je vais te battre (va > a); im Laufe der Zeit setzt sich das Futur in der Verbindung von ka + (all)é > ké durch. Germain (1980: 101) spricht von prospectif futur. 35 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften • Innerhalb des TMA-Systems gibt es klare syntaktische Regularitäten. Die obligatorische Reihenfolge der maximalen Realisierung ist té, kó, kà; alle anderen Kombinationen sind ausgeschlossen (vgl. Bernabé, 1987: 123). • In allen drei Fällen können wir die Grammatikalisierung ursprünglich französischer Wörter und Konstruktionen und der Organisation im präverbalen Paradigma des TMASystems beobachten. Das Kreol schafft eine grammatische Regularität, die aber durchaus noch im Projektionsfeld der Tendenzen im Französischen angesiedelt werden kann. Unterschiede innerhalb der französischen Kreolsprachen sind entweder auf Arten der Selektion (vgl. Mufwene, 2001) oder auf Substrat-Einflüsse (westafrikanische Sprachen im Falle des atlantischen Kreols, Einflüsse aus Madagaskar bei den Kreols des Indischen Ozeans) zurückzuführen. 36 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Präpositionen mit schwachem lexikalischen Gehalt, wie: à / de verschwinden und werden durch gehaltvollere Präpositionen wie pour, avec, ensemble avec ersetzt. Ortspräpositionen wie sur, sous, die häufig bereits dialektal abgeschwächt waren, werden aus komplexeren Bildungen abgeleitet: • en l’air > Guadaloupe : anlé (sous) • en haut > Guadaloupe : anho (sur) Konjunktionen wie et (und) werden aus verstärkten Ausdrücken abgeleitet: • et puis > epi (und) oder durch die funktionserweiterte Präposition avec wiedergegeben. 37 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften • Auffällig sind Verbalkomposita, die an serielle Verbkonstruktionen in westafrikanischen Sprachen erinnern (Chaudenson, 2003: 380 ff. ist generell skeptisch, was den Einfluss eines afrikanischen Substrats betrifft, akzeptiert dies aber zumindest für die karibischen Kreolsprachen). Germain (1980: 102) geht von einem „héritage des esclaves éburnéodahoméens“ aus. Er nennt als Beispiele (ibidem): poté alé (emporter), voyé alé (envoyer), couri alé (se précipiter), couri caché (se cacher). • Insgesamt ergibt sich das Bild einer massiv aus der Struktur der Zielsprache (der französische Dialekt-Koiné des 17. Jh. auf den Inseln) entwickelten Varietät mit Verfall der Flexionsmorphologie und Ausgleich dieses Verlustes über Grammatikalisierungsprozesse. Diese Sprachentwicklung unterscheidet sich von solchen innerhalb Frankreichs durch die Ungehindertheit und Schnelligkeit des Prozesses. 38 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Die „Créolité“ als literarisches Phänomen • Die zentrale, um nicht zu sagen die Vaterfigur der Literatur in Martinique (und den Französischen Antillen) ist Aimé Césaire (1913 bis heute). Er geht 1935 als zweiter „normalien nègre“ nach Paris, wo er Léopold Senghor und andere Afrikaner kennen lernt. Er sagt selbst zu Afrika: „je l’ai découverte à Paris, à travers les Africains“, d. h. erst in Paris, wo er (diskriminierend) als Schwarzer wahrgenommen wird, entdeckt er seine „Négritude“. 1935-1938 schreibt er das Cahier d’un retour en pays natal[1]. Die Erstpublikation 1939 in der Zeitschrift „Volontés“ bleibt weitgehend unbemerkt; 1947 erscheint der Text zweisprachig in New York (mit einem Vorwort von André Breton). Breton hatte sich nach der deutschen Besetzung von Paris nach Martinique begeben und dort Césaire als Vertreter seiner Kunstrichtung, des Surrealismus, entdeckt. • [1] 1935 besuchte Césaire einen Studienfreund in Slowenien. Der Anblick der Insel „Martinska“ ließ ihn das Heft beginnen, dass dann zu dem Cahier d’un retour en pays natal wurde. Aimé Césaire (*1913) Fort-de-France, novembre 2001 photo © 2001, Susan Wilcox www.fullduck.com 39 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Kulturelle Organisationen SERMAC (Service municipal d‘action culturelle) mit parc floral ATRIUM in Fort de France 40 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Der kulturelle Einfluss Césaires • Die kulturelle Orientierung nach Frankreich ist eine Konstante in Césaires Leben; politisch hat er sich aber seit seinem Studium in Paris nach Afrika und seit 1944 nach Haiti (bzw. hier am Schicksal der Karibik) orientiert. Die französische Orientierung prägte schon seinen Vater, der einen Louis d’or darauf setzte: „(…) puisse-t-il un jour parler le français aussi bien qu’ Aimé Barthou.“ • Vorbilder sind in Bezug auf die Karibik Saint-John Perse (1887-1975), der bis zum 12. Lebensjahr in Guadeloupe lebte und Nobelpreisträger wurde und in Bezug auf Europa die Dichter Hugo, Rimbaud, Baudelaire, Lautréamont, Mallarmé, Péguy, Apollinaire und Claudel. • Sein Lehrer war Gilbert Gratiant (1895-1985), ein Schüler des Philosophen Alain in Paris; sein Schüler am Lycée Schoelcher wiederum war Edouard Glissant (1928 bis heute), der an der Sorbonne Philosophie studierte und Ethnologe am Musée de l’Homme in Paris war. Er erregte 1958 mit seinem ersten Roman La Lézarde Aufsehen. 41 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Ecriture créole oder weshalb die kreole Literatur nicht in Kreol geschrieben wird • Mit Césaire entsteht der Versuch, eine kreole Literatur in Französisch zu schreiben, d. h. die Sprache Französisch (alternativ Englisch, Spanisch, Portugiesisch, Niederländisch) als quasi neutrales Kulturmedium zu benützen, um darin Inhalte, Anschauungsformen, Gefühlswelten, historische Wurzeln einer kreolen, d. h. einer gemischten und aus der Unterdrückung heraustretenden Kultur zu formulieren. • Césaire sieht die französische Literatursprache das Produkt literarischer Anstrengungen seit dem 16. Jh., seit Ronsard und Rabelais. Nur durch Jahrhunderte der literarischen Arbeit an der Sprache sei die Sprache eines Victor Hugo oder eines Paul Claudel möglich geworden. In einer Unterhaltung mit Jacqueline Steiner (vgl. Louis, 2003) sieht Césaire das Kreol aber im Zustand einer oralen, situationsbezogenen Sprache, also auf der Ebene des Französischen vor dessen literarischer Ausgestaltung oder auf derjenigen der französischen Dialekte: „Ce créole n’est qu’au stade de l’immédiaté, incapable de s’élever, d’exprimer des idées abstraites.“ 42 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Créolité und surrealistischer Schreibstil • In Césaires Sprache gibt es einen offensichtlichen Niederchlag der Créolité in einzelnen Lexemen, die annotiert werden. Dies bleibt aber oberflächlich und geht nicht weiter als die Überahme von Argot-Wörtern (z. B. bei Balzac). Die eigentliche Créolité der Literatursprache ist eine intertextuelle. • Bei Césaire werden manche Stellen seiner Poesie, die surrealistisch opak (unergründlich) zu sein scheinen, bei der Einbeziehung afrikanischer Bezüge, plötzlich durchsichtig. Die Négritude und Créolité ist also ein Phänomen der intertextuellen Semantik. Für den französischen Leser bleiben solche Stellen undurchsichtig, der Leser jedoch, welcher die afrikanischen Mythen und Traditionen kennt, kann sie wortwörtlich verstehen. 43 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Jahn (1958: 149) analysiert einige Zeilen Césaires aus der Perspektive eines Afrikanisten. Beispiel: de fremdartigen Ausdruck (übersetzt) „der Baum, der die Kastanien aus dem Feuer holt“: • Der Baum steht für die Grenze der Plantage, die der Sklave bei der Flucht überschreitet. • Die Kastanie (marron) steht für die geflohenen Sklaven, die im Urwald zu überleben versuchen. • Das Feuer steht für die Sklaverei, aus der man sich befreien will. Ähnliches zeigt Jahn für die Zeile: „Zwei und zwei sind fünf“ (Verweis auf Wodu-Zwillinge) und für Senghors Ausdruck „schwarze Milch“. Es gibt quasi eine doppelte Lektüre dieser Poesie: • Der Europäer kann einige Passagen nicht wirklich verstehen und sieht darin eine (opake) poetische Metapher (wie sie im Surrealismus gang und gäbe war). • Der Afrikaner/Inselbewohner der Karibik erschließt das Gemeinte aus seiner Tradition. 44 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Patrick Chamoiseau (* 1953) Il me semble qu'actuellement les générations d'enfants contemporains ont relativisé la question de la langue et que la langue a pris des distances quant à la notion d'identité, c'est-à-dire que la langue ne sert plus à définir une culture, une identité. Pour ces générations, la francophonie ne ressemble pas à une communauté culturelle. On peut, sous une même langue, avoir des réalités culturelles et anthropologiques différentes. Je suis plus proche d'un SaintLucien anglophone ou d'un Cubain hispanophone que n'importe quel Africain francophone ou Québécois francophone. Vous voyez, les langues, aujourd'hui, ont perdu leur pouvoir de pénétration, de structuration profonde d'une identité, d'une culture, d'une conception du monde. Photo prise à l'occasion du Grand Balan à la Maison de L'Amérique latine (Paris) 3 février 2002 © Kathleen Gyssels 45 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Das „Éloge de la créolité“ Die Créolité betont eine kaleidoskopartige Gesamtheit, ein Mosaik aus Verschiedenartigem, ein Synkretismus ohne gewaltsame Synthese. • „La Créolité est une annihilation de la fausse universalité, du monolinguisme et de la pureté. … La Créolité est notre soupe primitive et notre prolongement, notre chaos originel et notre mangrove de virtualités. … Car le principe même de notre identité est la complexité.“ (Bernabé, Chamoiseau, Confiant, 2002: 28) Die Créolité wird gegen die „Americanité“ abgegrenzt, die im Wesentlichen auf Immigration in Anpassung und Abgrenzung zu anderen Immigranten beruht. Die Créolité existiert natürlich in den unterschiedlichsten Formen auf den Antillen, in Guyana, in Brasilien, in Afrika, in Asien, in Polynesien, usw.. Als Hauptkriterium der Créolité dient ein doppelter Prozess (ibidem: 31): „ – d’adaptation des Européens, des Africains et des Asiatiques au Nouveau Monde; – de confrontation culturelle entre ces peuples au sein d’un même espace, aboutissant à la création d’une culture syncrétique dite créole.“ 46 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Die „Antillanité“ • Die „Antillanité“ ist eine auf den Bereich der Antillen begrenzte „Americanité“. Beispielsweise ist Kuba in erster Linie ein Fall von Americanité, da im Norden Kubas Siedler aus Andalusien, Galizien und den Kanaren eine sprachlich und kulturell neue Form geschaffen haben. Kuba hat mit Martinique nur den Faktor einer Emigration nach Amerika gemeinsam. Was beide trennt, ist die „Créolité“. • Die kreole Solidarität verbündet Martinique „avec tous les peuples africains, mascarins, asiatiques et polynésiens, qui relèvent des mêmes affinités anthropologiques que nous: notre créolité“ (ibidem: 33). 47 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften •Edouard Glissant war Schüler von Césaire am Lycée Schoelcher in Martinique. Er gründete 1959 (mit Paul Niger) den „Front antillo-guyanais“ und wurde wegen seiner Unterstützung algerischer Intellektueller aus Guadeloupe nach Frankreich ausgewiesen. Zurück in Martinique (1965) gründete er die Zeitschrift „Acona: Revue de sciences humaines“. Portrait von Edouard Glissant. http://motspluriels.arts.uwa.edu.au/MP898glissant.html 48 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Die kreole Poetik von Edouard Glissant • Glissant unterscheidet in einem Interview (1998) zwischen atomistischen und kompositen Kulturen. Erstere (typischerweise die europäischen Nationalstaaten) leiten ihre Legitimation aus einem Mythos des Weltursprungs ab, für letztere ist ihre eigene Entstehung noch so nahe, dass ein solcher Mythos überflüssig ist. • Zu den kompositen Kulturen gehören nicht nur die kreolen Kulturen, sondern auch Regionen, die sich im vereinten Europa neu formieren. Diese bilden quasi Archipele der Identität, die lose miteinander verknüpft sind. Die Créolité wäre demnach der Normalzustand, den eine globalisierte Kultur anstrebt, die nationale Identität dagegen ein kurioses Moment einer speziellen Geschichtsepoche. • Im Band I seiner Poétique (Soleil de la conscience) spricht Glissant von der Notwendigkeit des chaotischen Schreibens, „la quasi-nécessité d’un chaos d’écriture“ (Glissant, 1997: 20), dem eine Welt im Chaos entspricht. Gerade die Antillen seien in einem Prozess der Selbst-Konstruktion, bei dem sie tausend Wege versuchen müssen, bevor sie die ihnen eigene Ordnung finden: 49 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften • Der Dichter ist Teil dieses Prozesses. Er ist gleichzeitig dessen Objekt und Subjekt, da er den Prozess beobachtet. Seine Prosa, sein Rhythmus, seine Irrwege, seine Ahnung einer Geschichte, sein Kauen von Wörtern („mâchage furieux des mots“, ibidem: 21), der schwindelerregende Zugriff auf Wahrheiten sind der Modus seiner Existenz. Dabei stößt der Dichter der Antillen auf die ihm konträre „vérité française“, die er in einer Verbindung der Gegensätze zur dialektischen Synthese bringen will. • Die „kreole Poetik“ ebenso wie das „Lob des Kreols“ sind Programm und Poesie zugleich, d. h. Ausdruck einer individuellen Empfindung (als Poesie) und Programm, als deren geschichtliche Ausdeutung. Welche Rolle sie für die Bewusstseinsentwicklung der Mitglieder der Kreolkultur, insbesondere da ihre Leser entweder die Europäer, die Elite der béké und die Mittelschichtbürger der Antillen (nicht aber die Masse der KreolSprecher) sind, bleibt weitgehend offen. 50 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften En „drive“ • Die früheren Sklaven gingen in die Städte und bildeten eine Gesellschaft „en drive“ (in Fluss), ständig auf der Suche nach Gelegenheiten des Fortkommens, sie füllen in den Slums die Lücken aus oder besiedeln die Randgebiete. Da in der Stadt gewissermaßen die Reichtümer der Plantagenbesitzer sichtbar, greifbar werden, bilden sie ein magnetisches Anziehungsfeld für alle Heimatlosen, Vagabunden, alle die nicht festgehalten werden, die auf der „drive“ sind. Die Gefahr, in die Drive abzurutschen, droht jedem. Mit dem Zusammenbruch der Zuckerindustrie wird das „En-ville“ zum großen Sammelbecken. Die Stadt Fort-de-France zieht auch Personen der Nachbarinseln (bis nach Haiti) an. Mit den Bevölkerungen im Fluss (ohne Heimstatt) wird auch die Kultur und die Sprache von jenem Zufallsfluss erfasst, der ein schnell wechselndes kulturelles Mosaik erzeugt. • „Ces peuples précipités dans la coupelle des Caribes … ne connurent pas de synthèse mais une sorte d’incertaine mosaïque, toujours conflictuelle, toujours chaotique, toujours évolutive et organisant elle-même ses équilibres dans des créolités.“ (ibidem: 222) 51 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Die Zukunft der kreolen Kultur? • Sieht man sich die politische Landschaft der Karibik an, so merkt man, dass von den großen Inseln (mit Ausnahme Kubas) die meisten entweder schon zu den USA gehören (Puerto Rico) oder unter ihrem Einfluss stehen bzw. englischsprachig sind und damit kulturell den USA offen stehen. Fällt Kuba in den Einflussbereich der USA, so verstärkt sich deren Dominanz in der Karibik. • Geographisch liegen die Kleinen Antillen zwar relativ weit von den USA entfernt (diese haben aber selbst in Grenada eingegriffen, das noch näher an Venezuela liegt), politisch und kulturell können sich diese Inseln aber dem angloamerikanischen Sog nur durch eine Allianz mit Kontinentaleuropa entziehen. Die Hilfe, die aus Afrika oder Südamerika kommt, ist zu vernachlässigen. • Selbst eine karibische Union (die für die früher englischen Inseln versucht wurde und scheiterte) ist chancenlos. Sich als kulturelle Transitzone zwischen Europa und den USA (später Lateinamerika) zu positionieren, ist allem Anschein nach die einzig Erfolg versprechende Option. 52 Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Foto ©W.Wildgen Kreole Schlager Video Typische Jollen am Strand in Martinique (Marin) 53