ppt - Fachbereich 10

Werbung
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Universität Bremen Fachbereich 10
Wolfgang Wildgen
Kreole Identität(en):
Reflexionen zur „Mischung“
von Kulturen und Sprachen
Seminar
Caliban erzählen
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Karte der Karibik
Detailansicht
2
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Abfolge von Stadien
1.
Erstbesiedlung
vom
südamerikanischen Festland
aus, ab ca.
500 v. Chr. –
der Name der
indianischen
Erstsiedler wird
mit Arawaken
angegeben.
Felszeichnungen der Arawaken in der Dom. Republik
3
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Fotos ©W.Wildgen
• Felsritzungen in Ste. Luce (Süden von Martinique)
• Die Lage auf einem Vorsprung über Ste. Luce könnte auf einen
sakralen Ort hinweisen.
4
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
2. Eroberung durch die Kariben, die teilweise die ältere Indianerkultur
verdrängt oder sich mit ihr vermischt haben (15. Jh. n. Chr.) Diese
Bevölkerung wurde von den spanischen “Entdeckern” vorgefunden und
bekämpft. Viele Geschichten über Menschenfresser haben im
kriegerischen Kontakt mit den Kariben ihren Ursprung. Auf der sehr
gebirgigen Insel Dominica gibt es ein Reservat, in dem Nachkommen der
Kariben und der mit ihnen vermischten entflohenen Sklaven leben (viele
Kariben sind von Martinique nach Dominica geflohen). Eine
Wiederbelebung der karibischen Kultur erfolgt derzeit in Trinidad.
• Die von den Tainos so genannten Caribas oder Kariben bezeichneten
sich selbst als Kalinas. Sie waren Neuankömmlinge auf dem später nach
ihnen benannten Meer, der Karibik, und seinen Inseln; erst Anfang des
15. Jahrhunderts waren sie in das Gebiet gekommen und hatten die
Kleinen Antillen von Grenada bis nach Guadeloupe erobert und sich mit
den dort schon ansässigen Bewohnern vermischt. Entgegen den bis
heute gängigen Erklärungen waren sie weder wild noch kriegerisch, und
sie waren auch keine Kannibalen.“
5
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
3. Die Kolonisation erfolgte zuerst durch die Spanier, die
allerdings ihren Schwerpunkt bald auf die großen Inseln
der Karibik (Kuba, Puerto Rico, Hispaniola [heutige
Dominikanische Republik und Haiti]) und das mittel- und
südamerikanische Festland verlegten. Die Karibik blieb
eine Durchfahrzone für die spanischen Schiffe und war
deshalb das beliebte Areal von Freibeutern (Piraten und
englischen, französischen, holländischen Freibeutern).
Sie operierten im Widerspruch zur päpstlich vermittelten
Aufteilung der kolonialen Welt unter die Spanier und
Portugiesen. Die koloniale Periode kann weiter
untergliedert werden:
6
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
3. A. Frühe Kolonisation. Nach dem Aussterben (oder der Vertreibung)
der indianischen Bevölkerung wurden Sklaven aus Westafrika als
Arbeitskräfte eingeführt. Die erste Periode ist durch einen
ausgeglichenen Populationsanteil von Europäern und afrikanischer
Bevölkerung charakterisiert. Die genetische und sprachliche Mischung
waren die Folge. Die sprachliche Mischung erzeugte eine
Behelfssprache (Pidgin, petit nègre), plansprachliche Eingriffe der
Missionare und als gemeinsame Kommunikationsbasis ein Kreol (d. h.
eine alle Kommunikationsfelder abdeckende Mischsprache). Der
Wortschatz des Kreols ist etymologisch der Kolonialsprache entlehnt,
die Phonologie, Morphologie und Syntax lassen aber Einflüsse der
westafrikanischen Substratsprachen erkennen
• Diese Periode war auf den einzelnen Inseln unterschiedlich lang. In
Martinique gab es 1664 etwa gleich viele weiße „colons“ wie schwarze
Sklaven (2722 zu 2600). Erst nach einem halben Jahrhundert war die
Relation 3100 zu 4900 (vgl. Chaudenson, 2003: 108).
7
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
3. B. Plantagengesellschaft (Beginn: 1669) mit industrieller Produktion von Zucker, Rum, Baumwolle, Tabak, Kaffee. In Martinique
dominierte die Zuckerproduktion auf der Basis des aus Afrika
eingeführten Zuckerrohranbaus. Bei der Technik der Zuckergewinnung waren aus Brasilien ausgewiesene Juden sehr
hilfreich. In der Plantagengesellschaft steht sich eine Schicht
wohlhabender Besitzer (oft mit enger Anbindung an die Kolonialmacht), eine Mittelschicht von Aufsehern und Angestellten, die
teilweise aus Mischlingen rekrutiert wurde, und eine weit größere
Masse schwarzer Sklaven gegenüber.
• Nach Mufwene (2001) sind die genetisch und ethnisch gemischten
Mittelschichten der eigentliche Ort der Entstehung von kolonialen
Kreols, d. h. es gibt gemischte, anfangs mehrsprachige Familien,
deren Sprache und Kultur zum Kreol konvergiert. Das Kreol ist
demnach nicht eine Erfindung von Kindern (siehe die Theorie von
Bickerton, 1984), sondern die Kulturleistung dieser vermittelnden
Schichten.
8
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
• Dieser Prozess muss als kulturschaffende
Leistung einer sozialen Gruppe in der Habitationsgesellschaft angesehen werden. Das Ergebnis ist
ein Angebot für die schwarzafrikanische Mehrheit
(und die Neuankömmlinge), die zugunsten des
Kreols den Gebrauch der Muttersprachen
reduzieren und schließlich aufgeben
• In der Folge kommt eine Mehrheitskultur
zustande; daneben pflegt die Oberschicht
natürlich die Kolonialsprache, die auch für die
aufstrebende Mittelschicht ein Fernziel bleibt.
9
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Cases nègres als architektonisches Überbleibsel
Foto ©W.Wildgen
Typische Häuser für Plantagenarbeiter in Martinique
10
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Sprach- und Kultursituation ist also jetzt
bipolar:
Reale dominierende
Kreolsprache und
Kreolkultur
Als sozial gehobene Varietät
weiter existierende
Kolonialsprache
Auf den großen Inseln Kuba, Hispaniola, Puerto Rico entsteht keine
Kreolkultur, das Spanische bleibt die Zielsprache auch für alle
Neuankömmlinge („bossals“).
11
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
3. C. Die Periode nach der Abschaffung der Sklaverei (erste Schritte um
1800; Durchsetzung nach 1840) bis zur Dekolonisation (ab 1960). Diese
Periode ist durch Ereignisse in der europäischen Geschichte: Französische
Revolution, Napoleonische Kriege, Restauration im 19. Jh. stark beeinflusst. In der Karibik gibt es nicht nur Kriege zwischen den Kolonialherren
(hauptsächlich England, Frankreich), sondern auch Aufstände. Als erstes
Land des Kolonialbereichs wird Haiti unabhängig (1820). Noch vor der
einsetzenden Dekolonialisierung bindet Frankreich 1946 einige seiner
überseeischen Besitzungen in das innerfranzösische Verwaltungssystem
ein. Diese sind damit auch Teil der EU geworden. In dieser speziellen
Situation hat das Kreol und die kreole Kultur nahezu den Status eines
„patois“, eines Dialekts oder einer Regionalsprache, allerdings mit einer
wesentlich höheren Verständigungsbarriere, erhalten.
• Einerseits erbt es deren Problematik (und Unterdrückung) andererseits
kommt es in Reichweite der europäischen Charta zum Schutz von
Regional- und Minderheitensprachen, die allerdings in Frankreich nur
zögernd umgesetzt wird. Charte (Université Laval, Québec)
12
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Sklavenbefreiung
Appell für die Abschaffung des
Sklavenhandels
Die französische Revolution
schafft die Sklaverei ab
13
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Verdrängung des Kreol in Martinique?
Dem stehen entgegen:
• Die Eigenständigkeit des Kreols, das die Entwicklung einer
Übergangssprache, etwa eines kreolgetönten Französisch,
erschwert. Eine Lösung – wie im Französisch Belgiens, der
Schweiz oder (teilweise) in Quebec – wird damit
(zumindest vorerst) blockiert.
• Die mit der Tradition der kreolen Kultur verbundene
Eigenidentität, die durch die Insellage und die Entfernung
zu Frankreich verstärkt wird. Entscheidend wird die
Dynamik der verschiedenen sozialen Gruppen in
Martinique selbst sein.
14
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Soziale Schichtung in Martinique heute
• Die ursprüngliche Dreiteilung der Plantagengesellschaft in:
Plantagenbesitzer (Zuckerbarone) – verarmte Weiße – schwarze Sklaven,
wurde nach dem Ende der Sklaverei und der Verstädterung weiter
aufgesplittert. Es gibt in Martinique noch die Nachfahren der Zuckerbarone,
die sog. „béké“, die heute das fruchtbare Land besitzen, aber auch die
meisten neueren, ökonomisch relevanten Bereiche kontrollieren (in
Guadeloupe hat die Französische Revolution diese Insel-Aristokratie
dezimiert). Sie machen nach Fleischmann (1986: 104) nur 0,2 % aus, d. h.
einige Familienclans kontrollieren die Wirtschaft. Diese Schicht ist meist
zweisprachig: Kreol-Französisch und versteht sich als die traditionelle
Oberschicht.
• Im städtischen, d. h. modernisierten Bereich gibt es auch eine Oberschicht
(„grands blancs“), die mit der Metropole verbunden ist und Französisch
spricht. Die Mittelschichten der Städte sind Mulatten oder Schwarze im
Angestellten- und Arbeiterverhältnis. Die Staatsangestellten profitieren
davon, dass ihre Gehälter 40 % über denen der Metropole liegen, wodurch
sie (im Vergleich etwa zu Frankreich) ungewöhnlich wohlhabend sind.
15
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
• Die Unterschichten sind sehr uneinheitlich (nicht linear
skalierbar). Bei den einfachen Arbeitern fällt ins Gewicht,
dass der Mindestlohn (SMIG) 18 % unter dem in
Frankreich liegt. Dies bedingt ein starkes Einkommensgefälle zwischen der Mittel- und Unterschicht (städtische
Hilfsarbeiter und Landarbeiter). Die Kleinbauern und
Fischer, die sich teilweise selbst oder die lokalen Märkte
versorgen, bilden eine eigene soziale Gruppe, die
ortsgebunden und traditionell ist. Die größte kulturelle
Dynamik geht von der ethnisch gemischten Mittelschicht
mit Bildungszugang und Kontakt zur Metropole aus.
Kulturell statisch (oder stabilisierend) bleiben die
traditionelle Oberschicht (béké) und die recht autonomen
Kleinbauern und Fischer.
16
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Der Kampf um eine kulturelle Identität:
„Négritude“ und „Créolité“
• Die Négritude, die schwarze oder afrikanische Identität, ist selbst ein
gespaltenes Konzept. Ihren stärksten Impuls hat sie in der Bewegung von
Martin Luther King in den USA, also auf dem Hintergrund der in den
Großstädten der nördlichen USA gelandeten Nachfahren von in die
Südstaaten deportierten Afrikanern erhalten.
• Den Hintergrund bildet eine postkoloniale Situation. Die befreite
(englische) Kolonie hat sich Geltung gegenüber den alten Kolonialstaaten
(England) verschafft. Der Kontext ist also nicht Afrika, nicht die Zone, die
in den 60er Jahren dekolonisiert wurde (z. B. Algerien nach dem Algerienkrieg), er ist auch nicht derjenige der 1946 rasch zu „départements“
Frankreichs avancierten Inseln: Martinique, Guadeloupe, u.a. Insofern
gibt es Anwendungsprobleme dieses Konzeptes jenseits der USA, wo die
Bewegung eigentlich entstanden ist.
17
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Négritude
• Der Begriff der „Négritude“ entstand unter Afrikaner und Antillenbewohnern
in Paris; Senghor und Césaire sollen ihn geprägt haben. Für die farbige
Bevölkerung Martiniques sind aber die Bewohner Guadeloupes näher an
Afrika und somit an der „Négritude“, da sie dunkler sind als sie selbst.
• Sich selbst sehen sie auch viel näher an Frankreich als die früheren afrikanischen Kolonien Frankreichs, wie z. B. als den Senegal. Auf der Skala einer
„Négritude“ sehen sie also beide unter sich stehen und verstehen sich selbst
fast als kulturelle Weiße (die Kinder zeichnen sich als Weiße mit blonden
Haaren; vgl. Fleischmann, 1986: 229).
• Angelpunkt des Diskurses zur Négritude von Martinique ist das „Cahier d’un
retour au pays natal“ von Aimé Césaire, in dem er nicht nur die kulturelle
Destruktion der Kolonialperiode, sondern auch die enge Verbindung mit
seiner Heimat, den Antillen, und indirekt mit dem Herkunftsland Afrika
aufweist.
18
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
• Er proklamiert poetisch eine „Négritudehumanité“, also ein Ideal ganz im Sinne von
Victor Hugo oder Paul Claudel, das sich aber
jetzt auf eine afrikanische Vergangenheit und
deren Helden bezieht. Im idealisierenden
Zugriff steht er dabei der europäischen
Romantik relativ nahe. Ebenso wie einem
poetischen Schwärmer des 19. Jh. Figuren wie
Moses (Hugo) oder Christus (Claudel)
unantastbar fern stehen, ist auch den
afrikanischen Poeten der USA, der Antillen,
Afrikas die vorkoloniale Kultur Schwarz-Afrikas
unnahbar fern. Die Négritude verblasst dadurch
zum literarischen Konstrukt, das sich ebenso
wie die romantische Heimatliebe vorheriger
„poètes doudou“ nahtlos von der herrschenden
postkolonialen Kultur vereinnahmen lässt.
Victor Hugo en 1829,
par Devéria
http://www.acstrasbourg.fr/pedago/lettres/victor%20
Hugo/Communs/biographie.htm
19
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Haiti als Vorbild
• Césaire hat als Vorbild die Befreiung von Haiti nach dem Sklavenaufstand
von 1791 und besonders die tragische Figur ihres Generals Toussaint
Louverture gewählt, der von den napoleonischen Truppen nach Frankreich
verschleppt wurde (vgl. Césaires Theaterstück: Et les chiens se taisaient).
Auf diesem Befreiungsweg, der Haiti ab 1805 zum ersten dekolonialisierten
Land mit afrikanischer Bevölkerung machte, wurde der Bezug zu Afrika, zu
afrikanischen Religionen und Mythen, als identitätsstiftend eingesetzt und
die Misch-Religion des Wodu wurde neben dem Kreol zum Kennzeichen
eines Neubeginns. An Wodu lässt sich auch die Problematik solcher MischIdentitäten ablesen.
• Die Vermischung von Christentum und Wodu geht zuerst auf die Toleranz
der meist bretonischen Geistlichen in Haiti zurück. Nach deren Vertreibung
nahmen vagabundierende prêtres savants, meist frühere Chor-Ministranten,
deren Aufgaben wahr und wurden somit zu den Katalysatoren der
Mischreligion, die außerdem dem Einfluss der katholischen Kirche entzogen
war.
20
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Voodoo (Wodu) als Misch-Religion
• Ursprünglich geht der Name auf den Namen Gott/Geist in der
Yoruba-Sprache zurück. Offiziell existiert der Kult in Haiti , sowie in
Westafrika in Benin, Togo, Ghana.
• Die reichhaltigeren, originalen religiösen (und philosophischen)
Traditionen West-Afrikas waren in der Karibik nur verstümmelt
angekommen. Dies lag zum einen in der Vielfalt der Herkunftsregionen, die bevorzugt weit weg von den kulturell entwickelten
Küstenländern (bis 1000 km im Inneren) lagen und an der Sozialund Altersstruktur der Versklavten (häufig nicht initiierte Kinder und
Jugendliche). Zum anderen wurde durch die intensive Christianisierung jede Fortsetzung mitgebrachter Kulte und Rituale
unterbunden. Die Sklaven wurden nicht nur nackt und kahl
geschoren gehandelt, auch kulturell sollten sie als Christen quasi
neugeboren werden.
• Der Versuch, zu den afrikanischen Wurzeln zurückzukehren, musste
also einen jahrhundertealten Verlustprozess kompensieren.
21
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
• Es ist nahe liegend, dass nur sehr stabile Muster, etwa
Trommel-Rhythmen, Natursymbole, emotional-irrationale
Inhalte reaktiviert werden konnten. Deren Vermischung mit
Elementen europäischen Ursprungs wurde ursprünglich
geduldet. So hatten gerade die Jesuiten (vor ihrer
Verjagung, die eine Konsequenz ihrer progressiven
Missionspolitik war) Amalgamierungen von Christentum
und Kultformen anderer Herkunft gepflegt, auch die
überwiegend bretonischen katholischen Priester in Haiti
akzeptierten die Vermischung von katholischem Marienund Heiligenkult mit polytheistischen Vorstellungen
afrikanischer Herkunft. Der monotheistische Gesamtcharakter wurde jedoch durch die Figur des Bon Dieu, des
Schöpfers der Welt, oberster Herr aller Loas (vgl. Jahn,
1958 : 36 f.) aufrechterhalten.
• Die folgende Tabelle zeigt einige Entsprechungen:
22
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Synkretismus
Besonderheiten
Orisha/Loa
Bedeutung,
Zuordnung
Obatala
Schöpfer
Im Candomblé:
Christus (Nosso Sr.
do Bonfim)
Im Voodoo
vergleichbar
Damballah
Yemayá
Mutter der
Menschheit
Im Candomblé:
Maria (Nossa Sra.
das Conceiçaõ)
Shango
Krieg
Im Candomblé:
Hieronymus
Oshun
Fruchtbarkeit
Im Candomblé:
Maria (Nossa Sra.
da Candeias)
Ogún
Eisen, Werkzeuge,
Gefängnis
Im Candomblé:
Antonius
Im Voodoo Ogoun
Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Orisha
23
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Créolité statt Négritude
Das Pendant zur Négritude ist auf den Antillen das Konzept der Créolité. Da
sich die Insel-Kreols sowohl in Bezug auf die Kolonial- und Zielsprache
als auch in Hinblick auf die Zusammensetzung der afrikanischen
Bevölkerung unterscheiden, entspricht die Créolité zwar einem geographischen Zusammenhang, sie hat aber gegenüber der Négritude folgende
Nachteile:
• Es gibt keine Möglichkeit, auf eine vergangene Hochkultur Bezug zu
nehmen. Die kulturelle Basis ist diejenige der Sklaven-Habitationen auf
den Plantagen, also eine Subkultur. Das bedeutt, dass das Produkt der
insulären Mischkultur zur orientierenden Norm erhoben wird.
• Das Kreol ist primär eine linguistische Realität. Da aber die Schulsprache
jeweils Französisch, Englisch ... ist und auch die Oberschicht prägt, wird
das Kreol kaum geschrieben/gelesen. Es kann damit viele kulturelle
Domänen nicht besetzen. In der Konsequenz ist die Créolité einem Drift in
Richtung auf die Hochkultur, in Martinique in Richtung auf die Metropole
Paris ausgesetzt.
24
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Die Dynamik von Kreolsprachen
Die Lehrmeinung zur Entstehung von Kreolsprachen leitet diese aus einem
Jargon oder einem Pidgin ab. Romaine (1988: 117) nimmt drei typische
Entwicklungswege an:
Typ 1: Jargon 
Kreol
Typ 2: Jargon 
stabiles Pidgin 
Kreol
Typ 3: Jargon 
stabiles Pidgin 
erweitertes Pidgin
Kreol
• Der Jargon ist eine situativ entstehende Behelfssprache; sie wird z. B. nur
zu regelmäßigen Markttagen benützt, an denen sich Sprecher treffen, die
ansonsten keine Kontakte haben.
• Das Pidgin ist eine entwickelte Zweitsprache für Kontaktsituationen. Jeder
Sprecher hat dabei seine Muttersprache als allgemeines, außerhalb der
Kontaktsituation benütztes Kommunikationsmittel.
• Schließlich werden vom Kreol die mit der Ausgleichsprache konkurrierenden
Muttersprachen verdrängt.
25
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Drei Phasen bei der Entstehung des Kreols
1. Die Kontaktsituation Weiße – karibische Indianer.
• Die Kontakte waren häufig wenig friedlich, da die Kariben
ein wehrhaftes Volk waren, das erst einige Zeit vorher die
Urbevölkerung der Arawaken unterworfen hatte.
Immerhin ist im Zusammenhang von Missionierungsversuchen wohl eine erste Kontaktsprache entstanden.
Die Kariben wurden 1658 von den Franzosen vertrieben
und flüchteten auf die Inseln Dominica und St. Vincent. In
der Zeit nach der französischen Inbesitznahme (1635) bis
zur Vertreibung könnte dennoch eine erste
Kontaktsprache (ein Jargon) entstanden sein (Bouton,
1640, verweist auf „un certain baragouin meslé de
françois, espagnol, anglois et flamant“; vgl. HazaëlMassieux, 1996: 99).
26
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
2.
•
•
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Schon seit 1635 betrieben die Franzosen den Sklavenhandel, der
hauptsächlich von Senegal nach St. Domingue (Hispaniola, heute Haiti
und Dominikanische Republik) verlief. 700 000 Sklaven wurden allein
zwischen 1673 und 1789 verkauft; davon 600 000 nach St. Domingo,
die anderen 100 000 nach Martinique, Guadeloupe und St. Christophe.
In der ersten Phase (ab 1635) hielten sich zahlenmäßig die Weißen und
Schwarzen in etwa die Waage.
In dieser Periode der Habitation, d. h. einer relativ starken Abhängigkeit
von Weißen und Schwarzen, entstand eine Ausgleichssprache, eine
Koiné, nach dem Muster des Französischen. Dabei wurden die lockeren
dialektalen Normen des Französischen (im Wesentlichen Dialekte
Westfrankreichs zwischen Bordeaux und Picardie) aufgeweicht.
Im Kontext der frühen Missionierung entschied man sich, diese in der
(neuen) Mischsprache durchzuführen. Bereits missionierte und auf den
Inseln geborene Sklaven (die Etymologie von créole verweist auf die
„dort Geborenen“) dienten als Hilfslehrer. Sie stellen somit den Keim der
Konsolidierung der Mischsprache dar, die im 17. Jh. ihre Form erhielt,
zum Kreol wurde (die Jesuiten halfen eventuell bei der Fixierung dieser
Kontaktsprache; vgl. Hazaël-Massieux, 1996: 226).
27
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
3.
4.
•
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Mit dem Anwachsen der Sklavenimporte und der Ausdehnung der
Plantagenkultur wurden nicht nur die Plantagenbesitzer sehr reich, das
Zahlenverhältnis verschob sich auch dramatisch. Bereits 1745 zählte
Martinique etwa 80 000 Einwohner, davon 65 000 Sklaven. Der Zuzug
weißer Arbeiter (petits blancs) kam zum Erliegen. Die neue
Sprachsituation war die, dass quasi jedermann das Kreol beherrschte,
die weiße Oberschicht aber zweisprachig Kreol-Französisch war.
Die Abschaffung der Sklaverei (am 23.05.1848) erfolgte nach einem
Aufstand noch bevor das Dekret, das Schoelcher (1804-1893)
eingebracht hatte, am 4.11.1848 verabschiedet war. Die Folgen waren
zuerst eine Abwanderung der Schwarzen aus den Plantagen in die
Städte und dann die Kontraktverpflichtung von Einwanderern aus Indien
und Ostasien.
Der „Code de l’indigénat“ (18.06.1887) zementierte aber den QuasiSklavenstatus aller Nicht-Franzosen auf den Inseln (er war bis zur
Departementalisation 1946 und in Algerien bis zur Unabhängigkeit 1962
in Kraft). Diese Periode änderte somit weder die politische noch die
sprachliche Situation. Das Kreol blieb die Grundsprache und entwickelte
sich weiter.
28
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Victor Schoelcher
1804-1893
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Schoelcher: Pétition pour l’émancipation immédiate, 1847
« Nous demandons, Messieurs, l’abolition immédiate et
complète de l’esclavage dans les colonies françaises ;
Parce que la propriété de l’homme sur l’homme est un
crime ;
Parce que l’épreuve des lois des 18 et 19 juillet 1845 a
rendu plus manifestes que jamais l’insuffisance et le
danger des moyens prétendus préparatoires ;
Parce qu’aujourd’hui même ces lois ne sont pas encore
appliquées dans leur entier ;
Parce qu’on ne peut détruire les vices de la servitude
qu’en abolissant la servitude elle-même ;
Parce que toutes les notions de justice et d’humanité se
perdent dans une société à esclaves ;
Parce que l’homme est encore vendu à l’encan, comme
du bétail, dans nos colonies ; (...)
Parce que la prolongation de l’esclavage porte atteinte
aux véritables intérêts des colonies et à la sécurité de
leurs habitants ;
Parce que l’abolition, en réhabilitant le travail agricole,
y rattachera toute la population libre ; (...)
Parce que l’affranchissement des nèges français
entraînera l’émancipation de toute la race noire ;
Parce qu’en vertu de la solidarité qui lie tous les
membres de la nation entre eux, chacun de nous a une
part de responsabilité dans les crimes qu’engendre la
servitude ».
29
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Die Abschaffung der Sklaverei
aus französischer Sicht
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
5. Die Departementalisation
(1946) und die
Alphabetisierung (in
Französisch) erzeugte eine
Stärkung des
Französischen, das die
Schriftlichkeit und die
Medien beherrscht und
Kriterium des sozialen
Aufstiegs ist. (Die
Analphabetenrate sank
unter 10 %, d. h. fast alle
lernen Französisch.)
30
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Ein Satz in acht verschiedenen französischen Kreolsprachen
Créole haïtien (CH); créole guadeloupéen (CG) ; créole martiniquais (CMa) ; créole
guyanais (CGu) ; mauricien (CM) ; créole rodriguais (CRo) ; créole réunionnais
(CR) ; créole seychellois (CS)
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
(CH) An nou tout pèp kreyòl sou latè bay lamen.
(CG) Tout pep kréyol ki asi latè an nou ban nou lanmen.
(CMa) Tout pep kréyol ki asou latè annou ba kò-nou lanmen.
(CGu) Pèp kréyòl-yab ki asou latè annou rédé nou konpannyen.
(CM) Tou dimoune ki koz langaz kreol anou mars ansam.
(CRo) Tou kreol lor la ter anou marye pyke.
(CR) Anou pèp kréol dan lo Monn antyé anon mèt ansanm.
(CS) Tou pep Kreol dan lemonn, annou atrap lanmen.
(Fre) Peuples créoles du monde entier donnons-nous la main.
(Deu) Kreolische Völker der ganzen Welt, reichen wir uns die Hand!
Auszug aus : http://membres.lycos.fr/campuscreole/claroline/link/link.php
31
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Die Unterdrückung des Kreol
• In der Kultur- und Schulpolitik wird das Kreol in den DOM-Ländern, wie die
(allerdings schon weitgehend verschwundenen) Dialekte in Frankreich
behandelt.
• Bebel-Gisler (1976) beschreibt die Situation in Guadeloupe. Generell ist an
allen Orten der Kultur (Maison des Jeunes et de la Culture), in den Schulen,
in der Administration das Kreol verboten.[1] Teilweise bis 1962 wurde
Schulkindern im Pausenhof, wenn sie beim Kreol-Sprechen ertappt wurden,
noch die „planchette“, ein Brett, auf dem stand: „Il est interdit de parler
créole“, umgehängt. Am Donnerstag hieß es dann Nachsitzen. Nur wer
perfekt Französisch gelernt hat, darf danach beliebig anders sprechen, auch
Kreol. Damit wird aber nur die Zweisprachigkeit der Oberschicht (der béké)
sanktioniert. Das Kreol erhält den Status „de langue interdite, infériorisée,
vulgaire, folklorique, asociale, etc.“ (Bebel-Gisler, 1976: 125).
•
[1] Seit 2000 erlaubt die europäische Charta den Gebrauch, sofern die Funktionen der
Institution nicht darunter leiden.
32
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Das Kreol der Französischen Antillen
• Bereits in den Kommentaren des 17. Jh. wird auf den Wegfall der
Flexion hingewiesen. Relativ differenziert stellt sich aber das Paradigma
der Personalpronomina dar. Wir vergleichen kurz das Haiti- und das
Guadeloupe-Kreol:
Haiti
Kreol Guadeloupe
1 Pers. Sing.
moin
moin, au
2 Pers. Sing.
vou
vou, ou
3 Pers. Sing.
li
li, i
1. Pers. Plural
nou
nou
2. Pers. Plural
nou, zot
zo, zot
3. Pers. Plural
yo
yo
33
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
TMA-System
• Charakteristisch für viele Kreols ist die Entwicklung eines eigenständigen
Systems für Tempus, Modalität und Aspekt (TMA). Das Kreol von
Guadeloupe hat das folgende System (vgl. Hazaël-Massieux, 1996: 248):
Tempus
Aspekt
Neutrale Form
i manjé
(er hat gegessen)
i ka manjé
(er isst [gerade])
Vergangenheit
i té manjé
(er hatte gegessen)
i té ka manjé
(er aß [gerade])
Zukunft
i ké manjé
(er wird essen)
i ké ka manjé
(er wird dabei sein zu essen)
34
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Hier treten drei Morpheme auf, deren Herkunft und Grammatikalisierung zu
klären ist: té, ka, ké:
• Das té (ti) wird aus frz. étais (à) abgeleitet:
• Beispiel (Mauritius): moi j’étais à danser > mo té dansé > mo ti dansé
• Das ka wird kontrovers diskutiert (vgl. Hazaël-Massieux, 1996: 185-205).
Chaudenson favorisiert eine Ableitung aus être qu’à + Inf.: Il n’est qu’à
venir – er soll/muss nur kommen.
• Das qu’à tritt in dieser Form noch in der Übersetzung des
Passionsberichtes auf und wurde später zu ka als Morphem des Aspekts
(durativ) grammatikalisiert (Germain, 1980: 101, nennt die Funktion:
continuatif).
• Da ké später als ka und nur dort, wo ka im System stabilisiert ist, auftritt,
leitet Chaudenson ké aus ka ab. Die Realisierung des Futurs durch das
Hilfsverb aller ist ja auch im Französischen eine Alternative zur
futurischen Flexionsform. Es wird ähnlich im Kreol verwendet: moin a
batte: je vais te battre (va > a); im Laufe der Zeit setzt sich das Futur in
der Verbindung von ka + (all)é > ké durch. Germain (1980: 101) spricht
von prospectif futur.
35
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
• Innerhalb des TMA-Systems gibt es klare syntaktische
Regularitäten. Die obligatorische Reihenfolge der
maximalen Realisierung ist té, kó, kà; alle anderen
Kombinationen sind ausgeschlossen (vgl. Bernabé, 1987:
123).
• In allen drei Fällen können wir die Grammatikalisierung
ursprünglich französischer Wörter und Konstruktionen und
der Organisation im präverbalen Paradigma des TMASystems beobachten. Das Kreol schafft eine grammatische
Regularität, die aber durchaus noch im Projektionsfeld der
Tendenzen im Französischen angesiedelt werden kann.
Unterschiede innerhalb der französischen Kreolsprachen
sind entweder auf Arten der Selektion (vgl. Mufwene, 2001)
oder auf Substrat-Einflüsse (westafrikanische Sprachen im
Falle des atlantischen Kreols, Einflüsse aus Madagaskar
bei den Kreols des Indischen Ozeans) zurückzuführen.
36
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Präpositionen mit schwachem lexikalischen Gehalt, wie: à /
de verschwinden und werden durch gehaltvollere
Präpositionen wie pour, avec, ensemble avec ersetzt.
Ortspräpositionen wie sur, sous, die häufig bereits dialektal
abgeschwächt waren, werden aus komplexeren Bildungen
abgeleitet:
• en l’air
>
Guadaloupe : anlé (sous)
• en haut
>
Guadaloupe : anho (sur)
Konjunktionen wie et (und) werden aus verstärkten
Ausdrücken abgeleitet:
• et puis > epi (und) oder durch die funktionserweiterte
Präposition avec wiedergegeben.
37
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
• Auffällig sind Verbalkomposita, die an serielle Verbkonstruktionen in westafrikanischen Sprachen erinnern
(Chaudenson, 2003: 380 ff. ist generell skeptisch, was den
Einfluss eines afrikanischen Substrats betrifft, akzeptiert dies
aber zumindest für die karibischen Kreolsprachen). Germain
(1980: 102) geht von einem „héritage des esclaves éburnéodahoméens“ aus. Er nennt als Beispiele (ibidem): poté alé
(emporter), voyé alé (envoyer), couri alé (se précipiter), couri
caché (se cacher).
• Insgesamt ergibt sich das Bild einer massiv aus der Struktur
der Zielsprache (der französische Dialekt-Koiné des 17. Jh. auf
den Inseln) entwickelten Varietät mit Verfall der
Flexionsmorphologie und Ausgleich dieses Verlustes über
Grammatikalisierungsprozesse. Diese Sprachentwicklung
unterscheidet sich von solchen innerhalb Frankreichs durch die
Ungehindertheit und Schnelligkeit des Prozesses.
38
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Die „Créolité“ als literarisches Phänomen
•
Die zentrale, um nicht zu sagen die Vaterfigur der
Literatur in Martinique (und den Französischen
Antillen) ist Aimé Césaire (1913 bis heute). Er geht
1935 als zweiter „normalien nègre“ nach Paris, wo
er Léopold Senghor und andere Afrikaner kennen
lernt. Er sagt selbst zu Afrika: „je l’ai découverte à
Paris, à travers les Africains“, d. h. erst in Paris, wo
er (diskriminierend) als Schwarzer wahrgenommen
wird, entdeckt er seine „Négritude“. 1935-1938
schreibt er das Cahier d’un retour en pays natal[1].
Die Erstpublikation 1939 in der Zeitschrift „Volontés“
bleibt weitgehend unbemerkt; 1947 erscheint der
Text zweisprachig in New York (mit einem Vorwort
von André Breton). Breton hatte sich nach der
deutschen Besetzung von Paris nach Martinique
begeben und dort Césaire als Vertreter seiner
Kunstrichtung, des Surrealismus, entdeckt.
•
[1] 1935 besuchte Césaire einen Studienfreund in Slowenien. Der
Anblick der Insel „Martinska“ ließ ihn das Heft beginnen, dass dann
zu dem Cahier d’un retour en pays natal wurde.
Aimé Césaire (*1913)
Fort-de-France, novembre 2001
photo © 2001, Susan Wilcox www.fullduck.com
39
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Kulturelle Organisationen
SERMAC (Service
municipal d‘action
culturelle) mit parc floral
ATRIUM in Fort de France
40
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Der kulturelle Einfluss Césaires
• Die kulturelle Orientierung nach Frankreich ist eine Konstante in
Césaires Leben; politisch hat er sich aber seit seinem Studium in Paris
nach Afrika und seit 1944 nach Haiti (bzw. hier am Schicksal der Karibik)
orientiert. Die französische Orientierung prägte schon seinen Vater, der
einen Louis d’or darauf setzte: „(…) puisse-t-il un jour parler le français
aussi bien qu’ Aimé Barthou.“
• Vorbilder sind in Bezug auf die Karibik Saint-John Perse (1887-1975),
der bis zum 12. Lebensjahr in Guadeloupe lebte und Nobelpreisträger
wurde und in Bezug auf Europa die Dichter Hugo, Rimbaud, Baudelaire,
Lautréamont, Mallarmé, Péguy, Apollinaire und Claudel.
• Sein Lehrer war Gilbert Gratiant (1895-1985), ein Schüler des
Philosophen Alain in Paris; sein Schüler am Lycée Schoelcher wiederum
war Edouard Glissant (1928 bis heute), der an der Sorbonne Philosophie
studierte und Ethnologe am Musée de l’Homme in Paris war. Er erregte
1958 mit seinem ersten Roman La Lézarde Aufsehen.
41
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Ecriture créole oder weshalb die kreole
Literatur nicht in Kreol geschrieben wird
• Mit Césaire entsteht der Versuch, eine kreole Literatur in Französisch zu
schreiben, d. h. die Sprache Französisch (alternativ Englisch, Spanisch,
Portugiesisch, Niederländisch) als quasi neutrales Kulturmedium zu
benützen, um darin Inhalte, Anschauungsformen, Gefühlswelten, historische
Wurzeln einer kreolen, d. h. einer gemischten und aus der Unterdrückung
heraustretenden Kultur zu formulieren.
• Césaire sieht die französische Literatursprache das Produkt literarischer
Anstrengungen seit dem 16. Jh., seit Ronsard und Rabelais. Nur durch
Jahrhunderte der literarischen Arbeit an der Sprache sei die Sprache eines
Victor Hugo oder eines Paul Claudel möglich geworden. In einer
Unterhaltung mit Jacqueline Steiner (vgl. Louis, 2003) sieht Césaire das
Kreol aber im Zustand einer oralen, situationsbezogenen Sprache, also auf
der Ebene des Französischen vor dessen literarischer Ausgestaltung oder
auf derjenigen der französischen Dialekte: „Ce créole n’est qu’au stade de
l’immédiaté, incapable de s’élever, d’exprimer des idées abstraites.“
42
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Créolité und surrealistischer Schreibstil
• In Césaires Sprache gibt es einen offensichtlichen Niederchlag
der Créolité in einzelnen Lexemen, die annotiert werden. Dies
bleibt aber oberflächlich und geht nicht weiter als die Überahme
von Argot-Wörtern (z. B. bei Balzac). Die eigentliche Créolité
der Literatursprache ist eine intertextuelle.
• Bei Césaire werden manche Stellen seiner Poesie, die surrealistisch opak (unergründlich) zu sein scheinen, bei der Einbeziehung afrikanischer Bezüge, plötzlich durchsichtig. Die
Négritude und Créolité ist also ein Phänomen der intertextuellen Semantik. Für den französischen Leser bleiben solche
Stellen undurchsichtig, der Leser jedoch, welcher die afrikanischen Mythen und Traditionen kennt, kann sie wortwörtlich
verstehen.
43
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Jahn (1958: 149) analysiert einige Zeilen Césaires aus der Perspektive
eines Afrikanisten. Beispiel: de fremdartigen Ausdruck (übersetzt) „der
Baum, der die Kastanien aus dem Feuer holt“:
• Der Baum steht für die Grenze der Plantage, die der Sklave bei der
Flucht überschreitet.
• Die Kastanie (marron) steht für die geflohenen Sklaven, die im Urwald
zu überleben versuchen.
• Das Feuer steht für die Sklaverei, aus der man sich befreien will.
Ähnliches zeigt Jahn für die Zeile: „Zwei und zwei sind fünf“ (Verweis auf
Wodu-Zwillinge) und für Senghors Ausdruck „schwarze Milch“. Es gibt
quasi eine doppelte Lektüre dieser Poesie:
• Der Europäer kann einige Passagen nicht wirklich verstehen und sieht
darin eine (opake) poetische Metapher (wie sie im Surrealismus gang
und gäbe war).
• Der Afrikaner/Inselbewohner der Karibik erschließt das Gemeinte aus
seiner Tradition.
44
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Patrick Chamoiseau (* 1953)
Il me semble qu'actuellement les générations
d'enfants contemporains ont relativisé la question de
la langue et que la langue a pris des distances quant à
la notion d'identité, c'est-à-dire que la langue ne sert
plus à définir une culture, une identité. Pour ces
générations, la francophonie ne ressemble pas à une
communauté culturelle. On peut, sous une même
langue, avoir des réalités culturelles et anthropologiques différentes. Je suis plus proche d'un SaintLucien anglophone ou d'un Cubain hispanophone
que n'importe quel Africain francophone ou Québécois francophone. Vous voyez, les langues,
aujourd'hui, ont perdu leur pouvoir de pénétration, de
structuration profonde d'une identité, d'une culture,
d'une conception du monde.
Photo prise à l'occasion du Grand Balan à la
Maison de L'Amérique latine (Paris)
3 février 2002 © Kathleen Gyssels
45
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Das „Éloge de la créolité“
Die Créolité betont eine kaleidoskopartige Gesamtheit, ein Mosaik aus
Verschiedenartigem, ein Synkretismus ohne gewaltsame Synthese.
• „La Créolité est une annihilation de la fausse universalité, du monolinguisme
et de la pureté. … La Créolité est notre soupe primitive et notre
prolongement, notre chaos originel et notre mangrove de virtualités. … Car
le principe même de notre identité est la complexité.“ (Bernabé,
Chamoiseau, Confiant, 2002: 28)
Die Créolité wird gegen die „Americanité“ abgegrenzt, die im Wesentlichen auf
Immigration in Anpassung und Abgrenzung zu anderen Immigranten beruht.
Die Créolité existiert natürlich in den unterschiedlichsten Formen auf den
Antillen, in Guyana, in Brasilien, in Afrika, in Asien, in Polynesien, usw.. Als
Hauptkriterium der Créolité dient ein doppelter Prozess (ibidem: 31):
„ –
d’adaptation des Européens, des Africains et des Asiatiques au
Nouveau Monde;
–
de confrontation culturelle entre ces peuples au sein d’un même
espace, aboutissant à la création d’une culture syncrétique dite créole.“
46
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Die „Antillanité“
• Die „Antillanité“ ist eine auf den Bereich der Antillen
begrenzte „Americanité“. Beispielsweise ist Kuba in erster
Linie ein Fall von Americanité, da im Norden Kubas Siedler
aus Andalusien, Galizien und den Kanaren eine sprachlich
und kulturell neue Form geschaffen haben. Kuba hat mit
Martinique nur den Faktor einer Emigration nach Amerika
gemeinsam. Was beide trennt, ist die „Créolité“.
• Die kreole Solidarität verbündet Martinique „avec tous les
peuples africains, mascarins, asiatiques et polynésiens, qui
relèvent des mêmes affinités anthropologiques que nous:
notre créolité“ (ibidem: 33).
47
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
•Edouard Glissant war Schüler
von Césaire am Lycée Schoelcher
in Martinique. Er gründete 1959
(mit Paul Niger) den „Front
antillo-guyanais“ und wurde
wegen seiner Unterstützung
algerischer Intellektueller aus
Guadeloupe nach Frankreich
ausgewiesen. Zurück in
Martinique (1965) gründete er die
Zeitschrift „Acona: Revue de
sciences humaines“.
Portrait von Edouard Glissant.
http://motspluriels.arts.uwa.edu.au/MP898glissant.html
48
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Die kreole Poetik von Edouard Glissant
• Glissant unterscheidet in einem Interview (1998) zwischen atomistischen
und kompositen Kulturen. Erstere (typischerweise die europäischen
Nationalstaaten) leiten ihre Legitimation aus einem Mythos des Weltursprungs ab, für letztere ist ihre eigene Entstehung noch so nahe, dass ein
solcher Mythos überflüssig ist.
• Zu den kompositen Kulturen gehören nicht nur die kreolen Kulturen, sondern
auch Regionen, die sich im vereinten Europa neu formieren. Diese bilden
quasi Archipele der Identität, die lose miteinander verknüpft sind. Die
Créolité wäre demnach der Normalzustand, den eine globalisierte Kultur
anstrebt, die nationale Identität dagegen ein kurioses Moment einer
speziellen Geschichtsepoche.
• Im Band I seiner Poétique (Soleil de la conscience) spricht Glissant von der
Notwendigkeit des chaotischen Schreibens, „la quasi-nécessité d’un chaos
d’écriture“ (Glissant, 1997: 20), dem eine Welt im Chaos entspricht. Gerade
die Antillen seien in einem Prozess der Selbst-Konstruktion, bei dem sie
tausend Wege versuchen müssen, bevor sie die ihnen eigene Ordnung
finden:
49
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
• Der Dichter ist Teil dieses Prozesses. Er ist gleichzeitig dessen
Objekt und Subjekt, da er den Prozess beobachtet. Seine Prosa,
sein Rhythmus, seine Irrwege, seine Ahnung einer Geschichte,
sein Kauen von Wörtern („mâchage furieux des mots“, ibidem:
21), der schwindelerregende Zugriff auf Wahrheiten sind der
Modus seiner Existenz. Dabei stößt der Dichter der Antillen auf
die ihm konträre „vérité française“, die er in einer Verbindung der
Gegensätze zur dialektischen Synthese bringen will.
• Die „kreole Poetik“ ebenso wie das „Lob des Kreols“ sind
Programm und Poesie zugleich, d. h. Ausdruck einer individuellen Empfindung (als Poesie) und Programm, als deren
geschichtliche Ausdeutung. Welche Rolle sie für die Bewusstseinsentwicklung der Mitglieder der Kreolkultur, insbesondere da
ihre Leser entweder die Europäer, die Elite der béké und die
Mittelschichtbürger der Antillen (nicht aber die Masse der KreolSprecher) sind, bleibt weitgehend offen.
50
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
En „drive“
• Die früheren Sklaven gingen in die Städte und bildeten eine Gesellschaft „en
drive“ (in Fluss), ständig auf der Suche nach Gelegenheiten des
Fortkommens, sie füllen in den Slums die Lücken aus oder besiedeln die
Randgebiete. Da in der Stadt gewissermaßen die Reichtümer der
Plantagenbesitzer sichtbar, greifbar werden, bilden sie ein magnetisches
Anziehungsfeld für alle Heimatlosen, Vagabunden, alle die nicht
festgehalten werden, die auf der „drive“ sind. Die Gefahr, in die Drive
abzurutschen, droht jedem. Mit dem Zusammenbruch der Zuckerindustrie
wird das „En-ville“ zum großen Sammelbecken. Die Stadt Fort-de-France
zieht auch Personen der Nachbarinseln (bis nach Haiti) an. Mit den
Bevölkerungen im Fluss (ohne Heimstatt) wird auch die Kultur und die
Sprache von jenem Zufallsfluss erfasst, der ein schnell wechselndes
kulturelles Mosaik erzeugt.
• „Ces peuples précipités dans la coupelle des Caribes … ne connurent pas
de synthèse mais une sorte d’incertaine mosaïque, toujours conflictuelle,
toujours chaotique, toujours évolutive et organisant elle-même ses équilibres
dans des créolités.“ (ibidem: 222)
51
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Die Zukunft der kreolen Kultur?
• Sieht man sich die politische Landschaft der Karibik an, so merkt man, dass
von den großen Inseln (mit Ausnahme Kubas) die meisten entweder schon
zu den USA gehören (Puerto Rico) oder unter ihrem Einfluss stehen bzw.
englischsprachig sind und damit kulturell den USA offen stehen. Fällt Kuba
in den Einflussbereich der USA, so verstärkt sich deren Dominanz in der
Karibik.
• Geographisch liegen die Kleinen Antillen zwar relativ weit von den USA
entfernt (diese haben aber selbst in Grenada eingegriffen, das noch näher
an Venezuela liegt), politisch und kulturell können sich diese Inseln aber
dem angloamerikanischen Sog nur durch eine Allianz mit Kontinentaleuropa
entziehen. Die Hilfe, die aus Afrika oder Südamerika kommt, ist zu
vernachlässigen.
• Selbst eine karibische Union (die für die früher englischen Inseln versucht
wurde und scheiterte) ist chancenlos. Sich als kulturelle Transitzone
zwischen Europa und den USA (später Lateinamerika) zu positionieren, ist
allem Anschein nach die einzig Erfolg versprechende Option.
52
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Foto
©W.Wildgen
Kreole
Schlager
Video
Typische Jollen am Strand in Martinique (Marin)
53
Herunterladen