Sprachtheorie und Semiotik Fachbereich Sprach

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Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwiss.
Von Goethes "Morphologie
überhaupt" zum Konzept der
Selbstorganisation in Natur und
Sprache
Wolfgang Wildgen
Festkolloquium anlässlich des 65. Geburtstages von Prof. Dr. Peter Jörg Plath am
27. März 2007
Universität Bremen 134:40-15:10 25.3.- 31.3.2006
Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwiss.
Biographische Vorbemerkung
Gespräch in Galtür (2006): Vernetzte
Wissenschaften. In der Mitte Peter, links Prof.
Rössler, rechts der Autor.
Wolfgang Wildgen
Mit Peter Plath verbindet
mich nicht nur eine lange
Freundschaft; seit fast
zwanzig Jahren unterhalten
wir uns über Fragen der
Wissenschaftskultur, der
Mathematisierung jenseits
der Physik und der Dynamik
in Natur und Kultur. Auch
über Goethe haben wir in
gemeinsamen Lehrveranstaltungen mit Studierenden
gearbeitet.
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Sprachtheorie und Semiotik
Johann Wolfgang Goethe,
(1749-1832) gemalt: 1822
Fachbereich Sprach- und Literaturwiss.
• Wenn ich Goethe als Wegbereiter einer
Dynamischen Morphologie bezeichne, dann
aus zwei Gründen: Erstens hat er mit seiner
Typenlehre und mit seiner Suche nach
idealen Urformen das Paradigma einer
abstrakten Formenlehre geschaffen, die über
die empirischen Klassifikationen zeitgenössischer Biologen hinaus tendierte; zweitens
hat er unter dem Einfluss von Plato und
Leibniz nach einfachen, letztgültigen
dynamischen Prinzipien gesucht, aus denen
sich Sein und Werden der Welt erklären
lassen.
• Seine ganzheitlich-dynamische Theorie wirkt
auf dem Hintergrund moderner Theorien der
Entstehung von Leben und der Evolution
komplexer Wesen sehr aktuell.
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Sprachtheorie und Semiotik
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GOETHES KONZEPTION EINER
,,MORPHOLOGIE ÜBERHAUPT"
Gottfried Herder (1744 - 1803), dessen wissenschaftlich
philosophischer Geist Goethe in seiner Straßburger Zeit
tief beeindruckt, schrieb 1770 seine berühmte Preisschrift
,,Über den Ursprung der Sprache". Goethe konnte deren
Entstehung persönlich im Gespräch mit Herder
mitverfolgen.
Gottfried Herder
(1744-1803)
Herders Grundthese, die Kontinuität vom Anorganischen
zum Organischen, vom Tier zum Menschen und die
Zielgerichtetheit der Entwicklung, die im menschlichen
Geist (in der Sprache und besonders in der Poesie) gipfelt,
ist eine Grundlage für Goethes dichterisches und naturwissenschaftliches Schaffen geworden.
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Sprachtheorie und Semiotik
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• Naturgeschichte:
• Naturlehre:
• Anatomie:
•
•
•
•
•
•
Organische Naturen nach Habitus und Gestalt,
Materielle Naturen als Kräfte und ihren Orten
Organische Naturen nach ihren innere und äußere
Teilen, ohne Rücksicht auf das lebendige Ganze
Chemie:
Teile eines organischen Körpers als Stoff-hervorbringend, als Stoff-zusammengesetzt
Zoonomie
Das Ganze in so fern es lebt und wirkt und eine
besondere physische Kraft unterlegt ist
Physiologie
Das Ganze sofern es lebt und wirkt, geistige Kraft
Morphologie:
Gestalt in ihren Teilen und in ihrem Ganzen, in ihren
Übereinstimmungen und Abweichungen
Morphologie
Betrachtung des organischen Ganzen durch
überhaupt
Vergegenwärtigung aller dieser Rücksichten und
Verknüpfung derselben durch die Kraft des
Geistes.
Aus: Physiologie und ihre Hilfswissenschaften, um 1795
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Sprachtheorie und Semiotik
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Nachfolge und Krise
• Der naturphilosophische Aspekt der Goetheschen Morphologie beeinflusste die Ganzheitsphilosophie von Driesch (1905) und die Gestaltpsychologie (etwa seit 1896). Insbesondere letztere zeigt eine Verbindung
von empirischer Strenge und großer Breite, die ins Philosophische und
Ästhetische reicht. Die Kontinuität, insbesondere im deutschen Raum, soll
jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Gewicht von Goethes
morphologischen Arbeiten zu seinen Lebzeiten eher mäßig war und nach
seinem Tode rasch abnahm.
• Die Biologie des 19. Jahrhunderts wurde wesentlich geprägt durch die
Festigung der Evolutionstheorie, die als Idee bereits seit Ende des 19.
Jahrhunderts (implizit bei Herder) in Arbeiten der Biologen und Naturphilosophen (Buffon und Lamarck) vorhanden war.
• Erst die Verbindung von empirischer Sorgfalt und einfachem Erklärungsgefüge in den Arbeiten von Darwin führte 1859 (Publikationen der ,,Origin
of Species" durch Darwin) zu einer neuen und tiefer greifenden
vergleichenden Morphologie, die heute von keinem Biologen mehr
ignoriert werden kann.
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METAMORPHOSEN DER DYNAMISCHEN
SPRACHMORPHOLOGIE
Wilhelm von Humboldt
(1767-1835)
• Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie
stellte eine Synthese der intensiven sprachphilosophischen Auseinandersetzungen seit
Leibniz und einen vorläufigen Höhepunkt dar.
• Gleichzeitig war aber seine Lehre der inneren
und äußeren Sprachform auf einer abstrakten
Höhe angesiedelt, die von der turbulenten
nachfolgenden Entwicklung nicht nur nicht
erreicht, sondern auch sorgfältig umschifft
wurde. Bopp (1791 - 1867) und Jacob Grimm
(1785 - 1863) setzten die Tradition nur teilweise
fort.
• Die neue Attraktion, die Rekonstruktion der
germanischen und indo-europäischen
Ursprachen.
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Sprachtheorie und Semiotik
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• Zwar gibt es interessante Folgearbeiten zu Humboldt, so
die Arbeiten der Neo-Humboldtianer: Weisgerber und
Gipper (in Amerika: Sapir und Whorf). Sie sprengen aber
den Rahmen, den Humboldt bereits vorgezeichnet hatte,
nicht.
• Cassirer hat seit 1923 versucht, die Tradition von Goethe
und Humboldt in seiner „Philosophie der Symbolischen
Formen“ (1923-1929) fortzusetzen.
• Eine Dynamische Morphologie heute kann sich nicht mehr
mit den Erkenntnismitteln zu Zeiten Goethes und
Humboldts bescheiden, sie muss die fundamentalen
Veränderungen In der wissenschaftlichen Landschaft seit
Goethes und Humboldts Tod akzeptieren.
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Goethe und die Mathematisierung
Die Mathematik ist eine Sprache mit besonderen Symbolqualitäten:
• ,,weil ihr gleichfalls Anschauungen zugrunde liegen, die im höchsten
Sinn identisch mit den Erscheinungen werden können (Goethe,
Artemis-Ausgabe, S.776).
Gleichzeitig sieht Goethe aber auch die Gefahren der mathematischen
Sprache, wenn er sagt:
• ,,dass aber ein Mathematiker aus dem Hexengewirre seiner Formeln
heraus zur Anschauung der Natur käme und Sinn und Verstand
unabhängig wie ein gesunder Mensch brauchte, werd ich wohl nicht
erleben" (An Zelter, 17. Mai 1829, zitiert in Seiler 1909, S.4)
Ganz so pessimistisch war Goethe allerdings nicht, immerhin hebt er den
Mathematiker Lagrange hervor, indem er sagt:
• ,,möchten doch allen den gründlich-klaren Sinn eines Lagrange
besitzen und damit Wissen und Wissenschaft behandeln" (Goethe,
Artemis Ausgabe, Bd. 17, 5.770).
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Ein neuer Anlauf: Selbstorganisation
• Heute ist das Interesse an den biologischen Grundlagen
der Sprache wieder sprunghaft angestiegen.
• Nachdem eine Fülle von Daten über historische
Sprachzustände und lebende Sprachen vorliegt, geht es
jetzt darum, diese in einer Theorie zu integrieren; die
,,Allgemeine Sprache„, die ,,Idee" hinter der
Verschiedenheit der Sprachen rückt wieder in den
Vordergrund.
• Gleichzeitig ist man sich dessen bewusst, dass für eine
Dynamische Morphologie von Natur und Sprache ein
neuartiges Instrumentarium notwendig ist. Die
Selbstorganisationstheorien scheinen die besten
Voraussetzungen dazu mit zu bringen.
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Morphogenese bei René Thom
René Thom (1923-2002)
• René Thom steht als Differentialtopologe
(Fields Medaille 1957) in der Tradition des
von Goethe hoch gelobten Lagrange.
• Er hat versucht, eine Naturphilosophie
aufzubauen, in welche die heute vorhandenen
Disziplinen von der Physik bis zur
Psychologie und Linguistik ein Fundament
und eine Perspektive erhalten.
• Das Problem des Wissenschaftlers ist es, aus
der Flut empirischer Feststellungen eine
einfache Theorie bauen.
• Die Theorie soll dabei die Willkür bei der
Beschreibung einzelner verstreuter
Morphologien verringern, d.h. sie muss eine
allgemeine Morphologie vorstellen.
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Sprachtheorie und Semiotik
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Wie will Thom diese Problemstellung einen
Schritt weiterbringen?
Die Hierarchie der Attraktorengebilde, die typisch für die
kompakten Katastrophen
“Kuspe” (A3), “Schmetterling”
(A5) und “Stern” (A7) sind.
• Thoms topologische Semantik
setzt bei den Invarianten der
Anschauung an.
• Die Instabilitäten, Brüche,
Katastrophen raumzeitlicher
Strukturen sind das Grundinventar,
aus dem prägnante Gestalten in
Wahrnehmung und Gedächtnis
aufgebaut werden.
• Sie sind auch das Alphabet der
Symbolwerdung.
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Goethe zur Instabilität der Sprache
• ,,Das ausgesprochene Wort ist sogleich tot, wenn es nicht durch ein
folgendes, dem Hörer gemäßes am Leben erhalten wird. Man merke
nur auf ein geselliges Gespräch: gelangt es nicht schon tot zu dem
Hörer, so ermordet er es alsogleich durch Widerspruch, Bestimmen,
Bedingen, Ablenken, Abspringen und wie die tausendfältigen Unarten
des Unterhaltens auch heißen mögen. Mit dem Geschriebenen ist es
noch schlimmer. Doch hat das Geschriebene den Vorteil, dass es
dauert und die Zeit abwarten kann, wo ihm zu wirken gegönnt ist."
(Goethe, Maximen und Reflexionen, zit. nach dem Goethe-Lexikon,
S.158)
• ,,Dass niemand den anderen versteht, dass keiner bei denselben
Worten dasselbe, was der andere denkt, dass ein Gespräch, eine
Lektüre bei verschiedenen Personen verschiedene Gedankenfolgen
aufregt, hatte ich schon allzu deutlich eingesehen.„ (Goethe, Dichtung
und Wahrheit, 16. Buch, S.11)
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Die Übertragung in der Sprache klappt nur ungefähr, das
Wort löst sich auf wie Schall und Rauch.
• ,,Name ist Schall und Rauch" (Faust 1, Vers 3457)
Nicht nur der Kommunikationsprozess ist eine Quelle
ständiger Verluste, schon die Verbalisierung ist durch den
Verlust an Kraft und Ausdruck gekennzeichnet. Schiller hat
dies ebenso stark wie Goethe empfunden, wenn er
schreibt:
• ,,Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht
erscheinen? Spricht die Seele, so spricht, ach! schon die
Seele nicht mehr." (Schiller zit. bei Vossler, 1904, S.89)
Dem beständigen Verlust entspricht die ständige
Sprachschöpfung, wobei sprachschöpferisch jeder ist, der
die Sprachhülsen mit ,,Seele" (im Sinne Schillers), also mit
aktiver, ansteckender Bedeutung füllt, so dass der Verlust
der Kommunikation kompensiert, ja übertroffen wird.
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• Analoga dieser Prozesse sind die dissipativen Strukturen, d.
h. Systeme, welche ständig arbeiten und Energie umsetzen.
• Charakteristisch für solche Systeme ist die,,Autopoiese", d.h.
die Selbsterschaffung. Autopoietische Systeme sind zwar
nicht global stabil, da sie sich fern des thermodynamischen
Gleichgewichtes befinden, sie erhalten sich aber in einer Art
Fließgleichgewicht.
• Ebenfalls charakteristisch für lebende Systeme ist, dass sie
einen Kern herausbilden, der eher konservativ ist. Der
genetische Kode der DNA ist eine solche Struktur (auf der
Zeitskala von Jahrmillionen).
• Die Syntax und das Lexikon sind auf der Zeitskala von
Jahrhunderten der Kern einer sich ständig erneuernden
Sprachstruktur.
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• Bereits zu Goethes Lebzeiten entdeckte Robert Brown
(1828) die nach ihm benannten Brownschen Bewegungen
von erhitzten Molekülen (vgl. Mandelbrot, 1977:255; er
bringt Brown in Verbindung mit Alexander von Humboldt).
• Die volle Bedeutung seiner Entdeckung ist erst um 1905 1909 in der Quantenphysik gewürdigt worden. Diese
Morphologien, wenn man von Form überhaupt noch
sprechen kann, eröffnen einen weiten Bereich, den man
komplementär zur Ordnung Chaos nennen kann. In
diesem Bereich sind in den letzten Jahrzehnten eine ganze
Reihe wichtiger Arbeiten entstanden.
• Insgesamt kann man die Dynamik, welche diese vielfältigen Strukturformen erzeugt, als Selbstorganisation
bezeichnen.
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Selbstorganisationsprozesse in der Sprache
1. Evolutionäre Prozesse.
2. Bei der Reifung des Gehirns spielen sich
komplizierte Selbstorganisationsprozesse ab.
3. Diese Struktur des Gehirns ist die Basis für eine
interaktive, soziale Formung des Denkens und der
Sprache in den Prägungsphasen.
4. Der Spracherwerb wurde schon von Piaget als
Selbstorganisationsprozess verstanden (er spricht
von „Formen kognitiver Selbstregulationen, die
flexibel und konstruktiv sind“ .
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Sprachtheorie und Semiotik
5.
6.
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In der Lautproduktion und -rezeption spielen sich
komplexe, hochkooperative Prozesse ab. In diesem
Bereich können gut entwickelte Modelle der Selbstorganisation angewandt werden.
Die romantische Sprachwissenschaft versuchte,
Sprachen wie Organismen zu behandeln und sogar die
Evolutionstheorie Darwins zur Beschreibung der
Ausdifferenzierung von Sprachfamilien heranzuziehen
(siehe die Stammbäume von Sprachen und Spezies bei
Schleicher 1863). Die Selbstorganisationstheorie kann
die Gründerintuition der Philologen des frühen 19. Jh.s in
einem geeigneten Rahmen realisieren.
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Sprachtheorie und Semiotik
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5. In der neueren komparatistischen Forschung stehen
Grammatikalisierungsprozesse im Vordergrund,
Untersuchungen zum Sprachwandel wählen die
„hidden hand“-Metapher an, die ein historischer
Vorläufer der Selbstorganisationstheorien ist.
6. Ziemlich direkt lässt sich der Selbstorganisationscharakter bei der spontanen Erzeugung („Aktualgenese“) sprachlicher Strukturen beobachten. Dazu
gehören sowohl Innovationen im Lexikon als auch
Makroformen wie die Erzählung und der Diskurs.
Für weitere Materialen siehe:
http://www.fb10.uni-bremen.de/homepages/wildgen.htm
Rubrik: Dynamische Modelle
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Dem Jubilar wünsche ich alles Gute zum 65.
Geburtstag und ich hoffe, dass er Bremen in guter
Erinnerung behält.
Martini-Anleger in
Bremen; Zeichnung:
W.Wildgen
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