ppt - Fachbereich 10

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Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Universität Bremen Fachbereich 10
Wolfgang Wildgen (Bremen)
Identitätskonstrukte und KreolGenese
(am Beispiel von Martinique)
Vortag am 29.06.2007, 11: 30 bis 13:00
im: Colloquium Linguisticum Africanum
der Universität Frankfurt
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Gliederung
1 Einleitung
2 Die Dynamik von Kreolsprachen (am Beispiel des Kreols
von Martinique)
3 Typische Eigenschaften des Kreols der Französischen
Antillen
4 Gibt es eine kreole Semantik hinter der Oberfläche des von
kreolen Autoren verwendeten Französischen?
5 Modelle der Sprachmischung
6 Der Kampf um eine kulturelle Identität: „Négritude“ und
„Créolité“
7 Kulturelle Evolution und Evolution der Sprache
2
Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Identität und Identitätskonstrukte
• Die Identität besteht im Kontext des Themas nicht zwischen
Gegenständen (die in allen Attributen übereinstimmen),
sondern zwischen Personen, sozialen Gruppen (Sprach- und
Kulturgemeinschaften) und gilt für so abstrakte Größen wie
Sprachen (langues) und Kulturen. Beginnen wir mit den
Personen. Sie können sich in der Zeit verändern (ihre Identität
verschieben), in Abhängigkeit von Situationen verschieden
handeln (so als ob sie verschiedene Personen wären).
• Eine Person, die unfrei ist und sich dem Willen anderer beugen
muss, z. B. ein Gefangener oder ein Sklave, ist in seiner
Identität bedroht oder er verliert diese. Damit verfügen wir über
ein erstes operables Merkmal: Freiheit und Eigenverantwortung
der Person.
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Kollektive Identitäten
• Wenden wir nun diese Kriterien der Identität auf Personengruppen
(z. B. Familien, Geschwister, Freundesgruppen) oder auf ethnische,
religiöse und soziale Gemeinschaften an, so muss die Identität der
Gruppe kumulativ aus den Identitäten der Personen resultieren,
wobei allerdings deren individuelle Freiheit und Verantwortung
eingeschränkt wird. Als Kompensation mag eine Gruppenidentität
entstehen, aus der wiederum die einzelnen Elemente der
Eigenbestimmung und der Stabilisierung ihres Selbstbildes gewinnen
können. Kollektive Identitäten sind so gesehen übersummativ, wie die
Gestaltpsychologen sagen würden. Dabei ist es wichtig zu wissen, ob
die Individuen die Summe aktiv bestimmen können oder ob sie
(passiv) von der kollektiven Identität bestimmt werden.
• In jedem Fall ist diese Identität eine Konstruktion (vieler oder weniger
Mitglieder). Im Gegensatz zur materiellen und personalen Identität ist
sie in weit geringerem Maße von der (materiellen bzw. psychischen)
Natur bestimmt (sie ist allerdings selten rein fiktiv).
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Identität symbolischer Formen
• Die Sprache und die Kultur (d. h. alle symbolischen
Formen und Medien der Gemeinschaft) sind einerseits
Instrumente, andererseits Produkte (Endergebnisse) der
Konstruktion „kollektive Identität“. Diese Janusköpfigkeit
macht die begriffliche Analyse von Sprache und Kultur so
schwierig.
• Im Falle kreoler Kulturen, die wir vorerst als die massive
Zusammenfügung vieler Personen, Personengruppen mit
unterschiedlichen Sprachen und Kulturen verstehen
wollen, scheint zuerst ein Verlust, eine Schwächung
personaler Identitäten (oder der Identitäten kleiner
Gruppen wie Familien) vorzuliegen.
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Karte der Karibik
Detailansicht
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Basissituation der Antillen Mitte des
17. Jahrhunderts
• Ein Rest verstreuter und bedrängter Indianer lebt auf der
Insel (viele werden getötet, sind an Krankheiten gestorben
oder auf benachbarte Inseln geflüchtet).
• Ein gemischter Haufen europäischer Seeleute (Männer)
verlässt die Schiffe, auf die sie teilweise gepresst wurden,
und siedelt auf der Insel. Später kommen Funktionsträger
(Missionare, Administratoren), Soldaten und weiße Siedler
hinzu.
• Eine Gruppe in Westafrika gefangener Sklaven, häufig
Kinder und Minderjährige, wird in die Lebens- und
Arbeitsgemeinschaft (ganz unten) eingefügt.
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1. In der indianischen Population gibt es Träger eines
kulturellen Wissens (erfahrene Erwachsene, Alte), das für
das Überleben in der neuen Ökologie wichtig ist. Sie
prägen etwa Techniken des Fischens, des Anbaus zur
Selbstversorgung, der Navigation im Inselbereich usw.
2. Die europäische Population bringt Teile ihrer Sozialstruktur (der Feudalgesellschaft des 17. Jahrhunderts)
mit, insbesondere Priester, die eine Missionierungsaufgabe verfolgen, und Administratoren, die in Europa
Bericht erstatten sollen. Diese kulturellen Muster (etwa:
die soziale Schichtung und Religion der europäischen
Bevölkerung) werden der neuen Gesellschaft willentlich
aufgeprägt. Es entsteht insofern ein Abklatsch der
ländlichen Feudalstruktur in den Westprovinzen
Frankreichs.
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• Die Sklavenpopulation hat den größten kulturellen
Verlust, insbesondere wenn Familien- und
Sippenzusammenhänge zerstört wurden, oder
wenn die jugendlichen Sklaven wegen der
fehlenden Initiation nur ein bruchstückhaftes
kulturelles Wissen mitbringen (es fehlen die Alten
als Gedächtnis der oralen Kultur). Außerdem
entsteht über den Sklavenhandel eine gewollte
oder ungewollte Zufallsmischung von Personen
aus sehr verschiedenen Sprachen und lokalen
Kulturen.
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Anteil der einzelnen Gruppen an der
Konstruktion einer kreolen Identität
1. Sehr begrenzt bleibt der Einfluss der Indianer (wegen
ihrer geringen Anzahl). Immerhin zeigt das Lexikon des
Fischfangs, des Bootsbaues und der Küche in Martinique
deutliche Spuren des Einflusses.
2. Durch den massiven Sprach- und Kulturverlust der
schwarzen Sklaven ist der kulturelle Einfluss anfangs
gering. In dem Maße, wie ihre Zahl anwächst und
schließlich dominiert (ab Ende des 17. Jahrhunderts) und
indem lokale afrikanische Gemeinschaften entstehen,
wird ihr Einfluss auf die Neukonstruktion der kollektiven
Identität immer stärker.
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3. Der Einfluss der europäischen Bevölkerung ist zuerst
dominant; er geht aber mit dem Entstehen einer kreolen,
d. h. nicht-europäischen Sprache und Kultur zurück.
Dabei bleibt zumindest den oberen Schichten die
europäische Sprache und Kultur (z. B. die Frankreichs)
als Alternative; die kreole Identität wird für diese Gruppe
eine (häufig erst in Frankreich bewusst werdende) zweite
Identität. In Martinique konnte sich etwa die Schicht der
Zuckerbarone als französischer Adel fühlen, in Frankreich
wurden sie aber als Kreole wahrgenommen (vgl.
Josephine und ihre Rolle als Frau Napoleons und
Kaiserin).
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Die Lehrmeinung zur Entstehung
von Kreolsprachen
Drei typische Entwicklungswege werden angenommen:
Typ 1: Jargon  Kreol
Typ 2: Jargon  stabiles Pidgin  Kreol
Typ 3: Jargon  stabiles Pidgin erweitertes
Pidgin  Kreol
(cf. Romaine 1988: 117)
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Drei Phasen bei der Entstehung des Kreols
1. Die Kontaktsituation Weiße – karibische Indianer.
• Die Kontakte waren häufig wenig friedlich, da die Kariben
ein wehrhaftes Volk waren, das erst einige Zeit vorher die
Urbevölkerung der Arawaken unterworfen hatte.
Immerhin ist im Zusammenhang von Missionierungsversuchen wohl eine erste Kontaktsprache entstanden.
Die Kariben wurden 1658 von den Franzosen vertrieben
und flüchteten auf die Inseln Dominica und St. Vincent. In
der Zeit nach der französischen Inbesitznahme (1635) bis
zur Vertreibung könnte dennoch eine erste
Kontaktsprache (ein Jargon) entstanden sein.
14
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2.
3.
•
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Schon seit 1635 betrieben die Franzosen den Sklavenhandel, der
hauptsächlich von Senegal nach St. Domingue verlief. 700 000
Sklaven wurden allein zwischen 1673 und 1789 verkauft; davon
600 000 nach St. Domingue, die anderen 100 000 nach Martinique,
Guadeloupe und St. Christophe.
In der ersten Phase (ab 1635) hielten sich zahlenmäßig die Weißen
und Schwarzen in etwa die Waage. In dieser Periode der
Habitation, entstand eine Ausgleichssprache, eine Koiné. Dabei
wurden die lockeren dialektalen Normen des Französischen (im
Wesentlichen Dialekte Westfrankreichs zwischen Bordeaux und
Picardie) aufgeweicht.
Im Kontext der frühen Missionierung entschied man sich, diese in
der (neuen) Mischsprache durchzuführen. Bereits missionierte und
auf den Inseln geborene Sklaven dienten als Hilfslehrer. Sie stellen
den Keim der Konsolidierung der aus heterogenen Quellen
geformten Sprache dar, die im 17. Jh. zum Kreol wurde.
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3. Mit dem Anwachsen der
Sklavenimporte und der
Ausdehnung der
Plantagenkultur wurden nicht
nur die Plantagenbesitzer sehr
reich, das Zahlenverhältnis
verschob sich auch dramatisch.
Bereits 1745 zählte Martinique
etwa 80 000 Einwohner, davon
65 000 Sklaven. Der Zuzug
weißer Arbeiter (petits blancs)
kam zum Erliegen. Die neue
Sprachsituation war die, dass
quasi jedermann das Kreol
beherrschte, die weiße
Oberschicht aber zweisprachig
Kreol-Französisch war.
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4.
Victor Schoelcher
1804-1893
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Die Abschaffung der Sklaverei (am
23.05.1848) erfolgte nach einem Aufstand
noch bevor das Dekret, das Schoelcher (18041893) eingebracht hatte, am 4.11.1848
verabschiedet war. Die Folgen waren zuerst
eine Abwanderung der Schwarzen aus den
Plantagen in die Städte und dann die
Kontraktverpflichtung von Einwanderern aus
Indien und Ostasien. Der „Code de l’indigénat“
(18.06.1887) zementierte aber den QuasiSklavenstatus aller Nicht-Franzosen auf den
Inseln (er war bis zur Départementalisation
1946 und in Algerien bis zur Unabhängigkeit
1962 in Kraft). Diese Periode änderte somit
weder die politische noch die sprachliche
Situation. Das Kreol blieb die Grundsprache
und entwickelte sich weiter.
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Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
extrait de discours : Aimé CÉSAIRE
(Assemblée Nationale Constituante, 12 mars
1946)
Mesdames, messieurs, les propositions de loi qui
vont sont soumises ont pour but de classer la
Martinique, la Guadeloupe, la Réunion et la
Guyane française proprement dite en
départements français.
Avant même d’examiner le bien fondé de ce
classement, nous ne pouvons manquer de saluer
ce qu’il y a de touchant dans une telle
revendication de vieilles colonies.
A l’heure où, ça et là, des doutes sont émis sur la
solidité de ce qu’il est convenu d’appeler
l’Empire, à l’heure où l’ étranger se fait l’écho
de rumeurs de dissidence , cette demande
d’intégration constitue un hommage rendu à la
France et à son génie et cet hommage, dans
l’actuelle conjoncture internationale, prend une
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5. Die Départementalisation
(1946) und die
Alphabetisierung (in
Französisch) erzeugte eine
Stärkung des
Französischen, das die
Schriftlichkeit und die
Medien beherrscht und
Kriterium des sozialen
Aufstiegs ist. (Die
Analphabetenrate sank
unter 10 %, d. h. fast alle
lernen Französisch.)
importance singulière.
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Das Kreol der Französischen Antillen
Bereits in den Kommentaren des 17. Jh. wird auf den Wegfall der Flexion
hingewiesen. Relativ differenziert stellt sich aber das Paradigma der
Personalpronomina dar. Wir vergleichen kurz das Haiti- und das
Guadeloupe-Kreol mit dem Französischen:
Franz. unbetont Franz. betont
Haiti Kreol
Guadeloupe Kreol
1 Pers. Sing.
je
moi
moin
moin, au
2 Pers. Sing.
tu
toi
vou
vou, ou
3 Pers. Sing.
il
lui
li
li, i
1. Pers. Plur.
nous
nous
nou
nou
2. Pers. Plur.
vous
vous
nou, zot
zo, zot
3. Pers. Plur.
ils
eux
yo
yo
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Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
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TMA-System
• Charakteristisch für viele Kreols ist die Entwicklung eines eigenständigen
Systems für Tempus, Modalität und Aspekt (TMA). Das Kreol von
Guadeloupe hat das folgende System (vgl. Hazaël-Massieux, 1996: 248):
Tempus
Aspekt
Neutrale Form
i manjé
(er hat gegessen)
i ka manjé
(er isst [gerade])
Vergangenheit
i té manjé
(er hatte gegessen)
i té ka manjé
(er aß [gerade])
Zukunft
i ké manjé
(er wird essen)
i ké ka manjé
(er wird dabei sein zu essen)
Konditional
i té ké manjé
(er würde essen)
i té ké ká manjé
(er würde dabei sein zu essen)
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Grammatikalisierung zu: té, ka, ké:
Das té (ti) wird aus frz. étais (à) abgeleitet:
• Beispiel (Mauritius): moi j’étais à danser > mo té dansé > mo ti dansé
Das ka wird kontrovers diskutiert. Chaudenson favorisiert eine Ableitung
aus être qu’à + Inf.: Il n’est qu’à venir – er soll/muss nur kommen.
• Das qu’à tritt in dieser Form noch in der Übersetzung des Passionsberichtes auf und wurde später zu ka als Morphem des Aspekts (durativ)
grammatikalisiert (Germain, 1980: 101, nennt die Funktion: continuatif).
Da ké später als ka und nur dort, wo ka im System stabilisiert ist, auftritt,
leitet Chaudenson ké aus ka ab. Die Realisierung des Futurs durch das
Hilfsverb aller ist ja auch im Französischen eine Alternative zur
futurischen Flexionsform. Es wird ähnlich im Kreol verwendet: moin a
batte: je vais te battre (va > a); im Laufe der Zeit setzt sich das Futur in
der Verbindung von ka + (all)é > ké durch. Germain (1980: 101) spricht
von prospectif futur.
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• Innerhalb des TMA-Systems gibt es klare syntaktische
Regularitäten. Die obligatorische Reihenfolge der
maximalen Realisierung ist té, ké, kà; alle anderen
Kombinationen sind ausgeschlossen (vgl. Bernabé, 1987:
123).
• In allen drei Fällen können wir die Grammatikalisierung
ursprünglich französischer Wörter und Konstruktionen und
der Organisation im präverbalen Paradigma des TMASystems beobachten. Das Kreol schafft eine grammatische
Regularität, die aber durchaus noch im Projektionsfeld der
Tendenzen im Französischen angesiedelt werden kann.
Unterschiede innerhalb der französischen Kreolsprachen
sind entweder auf Arten der Selektion (vgl. Mufwene, 2001)
oder auf Substrat-Einflüsse (westafrikanische Sprachen im
Falle des atlantischen Kreols, Einflüsse aus Madagaskar
bei den Kreols des Indischen Ozeans) zurückzuführen.
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Präpositionen mit schwachem lexikalischen Gehalt, wie: à /
de verschwinden und werden durch gehaltvollere
Präpositionen wie pour, avec, ensemble avec ersetzt.
Ortspräpositionen wie sur, sous, die häufig bereits dialektal
abgeschwächt waren, werden aus komplexeren Bildungen
abgeleitet:
• en l’air
>
Guadaloupe : anlé (sous)
• en haut
>
Guadaloupe : anho (sur)
Konjunktionen wie et (und) werden aus verstärkten
Ausdrücken abgeleitet:
• et puis > epi (und) oder durch die funktionserweiterte
Präposition avec wiedergegeben.
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Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
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• Auffällig sind Verbalkomposita, die an serielle Verbkonstruktionen in westafrikanischen Sprachen erinnern
(Chaudenson, 2003: 380 ff. ist generell skeptisch, was den
Einfluss eines afrikanischen Substrats betrifft, akzeptiert dies
aber zumindest für die karibischen Kreolsprachen). Germain
(1980: 102) geht von einem „héritage des esclaves éburnéodahoméens“ aus. Er nennt als Beispiele (ibidem): poté alé
(emporter), voyé alé (envoyer), couri alé (se précipiter), couri
caché (se cacher).
• Insgesamt ergibt sich das Bild einer massiv aus der Struktur
der Zielsprache (der französische Dialekt-Koiné des 17. Jh. auf
den Inseln) entwickelten Varietät mit Verfall der Flexionsmorphologie und Ausgleich dieses Verlustes über Grammatikalisierungsprozesse. Im Prozesses der Entstehung neuer grammatischer Systemkomponenten wirken sowohl Substrateinflüsse als auch Selbstorganisationsprinzipien allgemeiner
Art.
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Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Kreole Semantik in französischen Texten?
Interpretation eines Ausdrucks von Césaire durch Jahn (1958: 149)
• „der Baum, der die Kastanien aus dem Feuer holt“:
• Der Baum steht für die Grenze der Plantage, die der Sklave bei der Flucht
überschreitet.
• Die Kastanie (marron) steht für die geflohenen Sklaven, die im Urwald zu
überleben versuchen.
• Das Feuer steht für die Sklaverei, aus der man sich befreien will.
Ähnliches zeigt Jahn für die Zeile: „Zwei und zwei sind fünf“[1] und für Senghors
Ausdruck „schwarze Milch“. Es gibt quasi eine doppelte Lektüre dieser Poesie:
• Der Europäer kann einige Passagen nicht wirklich verstehen und sieht darin eine
(opake) poetische Metapher (wie sie im Surrealismus gang und gäbe war).
• Der Afrikaner/Inselbewohner der Karibik erschließt das Gemeinte aus seiner
Tradition
[1] Der Hintergrund ist die Konfiguration der Marassa Zwillinge im Wodu mit den beiden semantischen
Oppositionen: männlich-weiblich und sterblich-todlos. Die quadratische Konstellation hat ein Zentrum, das
als Fünftes gilt.
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Modelle der Sprachmischung
a.
b.
c.
Das Superstrat dominiert lexikalisch und syntaktisch. Dabei kommt es
einerseits zum Ausgleich dialektaler Varianten, andererseits zu
lexikalischen und grammatischen Innovationen, die durch die
Substratsprachen motiviert sind, aber noch im Rahmen lektaler
Variationen der Superstratsprache liegen (selbst bei Verlust der
Verständlichkeit),
Das Superstrat liefert lediglich das lexikalische Material, das aber
anders segmentiert und klassifiziert wird. Die Grammatik ist primär eine
Ausgleichsversion der Substratsprachen. So gesehen wäre das Kreol
eine typologische Varietät der Substratsprachen.
Durch den unvollständigen Erwerb einer Interlingua entsteht ein
(morphologisch) vereinfachtes Pidgin. Im Übergang zum Kreol (als
Muttersprache) elaboriert die Gruppe von Kindern und Jugendlichen
diese Sprache unter Nützung einer angeborenen Sprachschöpfungskompetenz (häufig auch Universalgrammatik = UG genannt).
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Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
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Modell A
• Modell A macht das Kreol zu einem Dialekt (einem „patois“
in Frankreich) der Superstratsprache. Es ist damit der
Favorit derjenigen, welche eine sprachliche und kulturelle
Assimilation anstreben. So wie die Dialekt-sprecher im Sog
der Großstädte ihre regionale Identität aufgeben, erhofft
man eine Lösung der sprachlichen und kulturellen
Andersartigkeit durch Anpassung. Die Lang-lebigkeit des
Kreols (seit dem 17. Jahrhundert) und die tiefen
Verständigungsbarrieren sprechen zwar gegen diese
Konzeption einer kreolen Identität im Übergang zur
Assimilation, aber Sprachwechsel oder -verlust sind in der
Geschichte immer wieder anzutreffen.
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Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
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Modell B
Modell B widerspricht zwar Modell C, ist aber mit Modell A verträglich. Die
zentrale empirische Frage ist bei Modell B: aus welchen SprachKulturen stammten die Sklaven. Für Haiti stellt Alleyne (1996: 21 f.)
folgende kulturellen Ausgangspunkte fest:
– 1681-1720
Dominanz der Ewe-Fon-Sprecher.
– 18. Jh.
Ein großer Anteil der Sklaven stammt aus Angola.
Arends (1995: 208) gibt für Guadeloupe und Martinique eine andere
Zusammensetzung an:
– Zuerst werden Bantu-Sprecher aus der Region Congo – Angola
eingeführt.
– Später erfolgen Importe von Sklaven von der Goldküste (Sprecher
der Kwa-Gruppe).
– Wieder später sind die Sprecher der Gbe-Gruppe (Ewe-Fon)
zahlreicher.
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Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
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Vergleich: Kreol - Franz. - Fon
Haiti-Kreol: koku ale
nã
ma´se
Fr.Struk.: Koku gehen (frz. aller) zum (Präp.) Markt (frz. marché)
Fon-Struk.: Koku Verb
Nomen Postposition (zum)
(Das “nã “ kann auch mit einem Verb im Fon in Verbindung gebrcht
werden; dann wäre „ale nã” eine serielle Verbkonstruktion.)
Haiti-Kreol: koku
ãba
tab
la
Fr.Struk.: Koku (ist) unter Tisch (frz. table) (frz. la =dem)
Fon-Struk.: Koku (Verb)
Tisch
dem Postp. (unter)
(Das nachgestellte „la“ entspricht eher dem Franz. Demonstrativ
„là“ in „cette table là“ (der Tisch dort) als dem Artikel. Insofern ist
seine Position doppelt motiviert.)
(cf. Lefebvre, 1986: 287).
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Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
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Modell C
• Modell C ist im Prinzip ein Selbstorganisationsmodell, wobei
kontrovers bleibt, ob dabei eine angeborene Fähigkeit der
Spracherzeugung (UG = universal grammar) oder lediglich
die Emergenz neuer Muster unter dem Einfluss der Mischung
sehr unterschiedlicher Systeme entscheidend ist. Unter der
ersten Hypothese, die Bickertons Bioprogramm-Konzeption
nahe legt, gäbe es universale Tendenzen der optimalen
Gestaltung von Sprache, die beim Zurücktreten
vorgegebener tradierter Muster zum Tragen kämen. Eine
Konzeption der Optimierung ohne angeborene Vorlagen hat
Hjelmslev (1967) auf der Basis seiner Studien zur
sublogischen Struktur der Kasussysteme (Hjelmslev, 1935)
vorgeschlagen. Die Optimierungshypothese ist somit von
Chomskys Sprachtheorie unabhängig.
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Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
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Optimierung nach Hjelmslev (1967)
• In Bezug auf das Mauritius-Kreol schreibt Hjelmslev, dass
das grammatische System (und dies ist für ihn der Kern
der Sprache) neu geschaffen wurde, wobei das Material
der verschiedenen Sprachen genützt wurde. Dabei erreicht
das Kreol im Gegensatz zu den historisch gewachsenen
Sprachen einen neuen Grad der Optimalität des
grammatischen Systems.
• „Es ist aber a priori sehr wahrscheinlich, dass die
besonderen Bedingungen, unter denen eine Kreolsprache
entsteht, der Sprache erlauben, die optimale Struktur zu
erreichen oder sich dieser zumindest entscheidend zu
nähern.“ (Übersetzung der Autor)
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Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
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Kritik der Bioprogramm-Hypothese Bickertons
Die Bioprogramm-Hypothese setzt eine Formung der
Grammatik durch Kinder, denen kein ausreichendes
Erwachsenenmodell verfügbar ist, voraus. Wie Untersuchungen am Tok Pisin zeigen, verstärken Jugendliche
lediglich Sprachwandelstendenzen, die bei ihren Eltern
angelegt sind. Sie sind nicht selbst der Ort ihrer Erzeugung.
Die notwendige Entstehung des Kreols aus einem Pidgin
beim Verlust der Ausgangsprachen, scheint auch nicht
allgemein zu gelten. Vielmehr sind multilinguale
Gemeinschaften in der Habitation und vermittelnde
mehrsprachige Personen der Ort der Kreolgenese.
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Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Aus dem Material vieler Sprachen kann ein neues grammatisches System entstehen, ohne dass diese Entwicklung
durch ein genetisches (Hilfs-)Programm gesteuert wird.
Sankoff und Laberge (1973) konnten Eltern und ihre Kinder in
der Entwicklung des Tok Pisin, einer nach der
Unabhängigkeit von Papua Guinea zum Kreol (schließlich
zur Nationalsprache) entwickelten Kontaktsprache,
beobachten.
Aus den Englischen „by and by“ entstanden folgende Formen:
• baimbai – temporales Adverb vor dem Verb
• bai – Futurindikator /em bai I go / = ich werde gehen
• Reduzierung /em bi-i go / = ich werde gehen
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Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Die Kinder folgen ihren Eltern in der Tendenz
und verstärken diese lediglich.
•
Korrelation der
Kinder und
Eltern bei der
Akzentreduktion der
FuturMarkierung bai
im Tok Pisin.
• vgl. Labov,
2001: 425
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Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
TMA-Systeme
•
Der kontinuierlicher Hintergrund  das berichtete Geschehen  das
Mögliche, Zukünftige
Sprache
Erzählzeit
(ANTERIOR)
Kont. Hintergrund
(NON-PUNCTUAL)
Sranan
ben aus Eng.’been’
oder Port. ‘ven’
e
Haiti-Kreol
té aus Franz. ‘été’
ap(ré)
aus Franz.
‘après’
avá aus Franz. ‘va’
g/gi/ge/ga aus Arab.
‘ga’ ad’ (sitzen)
bi aus Arab. ‘bidd’
(wollen)
Juba-Arabisch kan(a) aus Arab. ‘kana’
(sein)
aus W.Afr. ‘de’
oder Port. ‘na’
Futur/Möglichkeit
(IRREALIS)
go aus Eng. ’go’ ; sa
aus Eng. ‘shall’
Die TAM-Systeme von drei Kreol-Sprachen
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„Négritude“ als Identitätsentwurf
• Der Begriff der „Négritude“ entstand unter Afrikaner und Antillenbewohnern
in Paris; Senghor und Césaire sollen ihn geprägt haben. Für die farbige
Bevölkerung Martiniques sind aber die Bewohner Guadeloupes näher an
Afrika und somit an der „Négritude“, da sie dunkler sind als sie selbst.
• Sich selbst sehen sie auch viel näher an Frankreich als die früheren afrikanischen Kolonien Frankreichs, wie z. B. als den Senegal. Auf der Skala einer
„Négritude“ sehen sie also beide unter sich stehen und verstehen sich selbst
fast als kulturelle Weiße (die Kinder zeichnen sich als Weiße mit blonden
Haaren; vgl. Fleischmann, 1986: 229).
• Angelpunkt des Diskurses zur Négritude von Martinique ist das „Cahier d’un
retour au pays natal“ von Aimé Césaire, in dem er nicht nur die kulturelle
Destruktion der Kolonialperiode, sondern auch die enge Verbindung mit
seiner Heimat, den Antillen, und indirekt mit dem Herkunftsland Afrika
aufweist.
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Haiti als historische Vermittlung des Konstrukts
• Césaire hat als Vorbild die Befreiung von Haiti nach dem Sklavenaufstand
von 1791 und besonders die tragische Figur ihres Generals Toussaint
Louverture gewählt, der von den napoleonischen Truppen nach Frankreich
verschleppt wurde. Auf diesem Befreiungsweg, der Haiti ab 1805 zum
ersten dekolonialisierten Land mit afrikanischer Bevölkerung machte,
wurde der Bezug zu Afrika, zu afrikanischen Religionen und Mythen, als
identitätsstiftend eingesetzt und die Misch-Religion des Wodu wurde
neben dem Kreol zum Kennzeichen eines Neubeginns. An Wodu lässt sich
auch die Problematik solcher Misch-Identitäten ablesen.
• Die Vermischung von Christentum und Wodu geht auch auf die Toleranz
der meist bretonischen Geistlichen in Haiti zurück. Nach deren Vertreibung
nahmen vagabundierende prêtres savants, meist frühere ChorMinistranten, deren Aufgaben wahr und wurden somit zu den
Katalysatoren der Mischreligion, die außerdem dem Einfluss der
katholischen Kirche entzogen war.
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Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Synkretismus
Besonderheiten
Orisha/Loa
Bedeutung,
Zuordnung
Obatala
Schöpfer
Im Candomblé:
Christus (Nosso Sr.
do Bonfim)
Im Voodoo
vergleichbar
Damballah
Yemayá
Mutter der
Menschheit
Im Candomblé:
Maria (Nossa Sra.
das Conceiçaõ)
Shango
Krieg
Im Candomblé:
Hieronymus
Oshun
Fruchtbarkeit
Im Candomblé:
Maria (Nossa Sra.
da Candeias)
Ogún
Eisen, Werkzeuge,
Gefängnis
Im Candomblé:
Antonius
Im Voodoo Ogoun
Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Orisha
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Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Créolité statt Négritude
Das Pendant zur Négritude ist auf den Antillen das Konzept der Créolité. Da
sich die Insel-Kreols sowohl in Bezug auf die Kolonial- und Zielsprache
als auch in Hinblick auf die Zusammensetzung der afrikanischen
Bevölkerung unterscheiden, entspricht die Créolité zwar einem geographischen Zusammenhang, sie hat aber gegenüber der Négritude
folgende Nachteile:
1. Es gibt keine Möglichkeit, auf eine vergangene Hochkultur Bezug zu
nehmen. Die kulturelle Basis ist diejenige der Sklaven-Habitationen auf
den Plantagen, also eine Subkultur. Das bedeutet, dass das Produkt der
Mischkultur zur orientierenden Norm erhoben wird.
2. Das Kreol ist primär eine linguistische Realität. Da aber die
Schulsprache jeweils Französisch, Englisch ... ist und auch die
Oberschicht prägt, wird das Kreol kaum geschrieben/gelesen. Es kann
damit viele kulturelle Domänen nicht besetzen. In der Konsequenz ist
die Créolité einem Drift in Richtung auf die Hochkultur, in Martinique in
Richtung auf die Metropole Paris ausgesetzt.
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Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
„Antillanité“ und „Americanité“
• Die „Antillanité“ ist eine auf den Bereich der Antillen
begrenzte „Americanité“. Beispielsweise ist Kuba in erster
Linie ein Fall von Americanité, da im Norden Kubas Siedler
aus Andalusien, Galizien und den Kanaren eine sprachlich
und kulturell neue Form geschaffen haben. Kuba hat mit
Martinique nur den Faktor einer Emigration nach Amerika
gemeinsam. Was beide trennt, ist die „Créolité“.
• Die kreole Solidarität verbündet Martinique „avec tous les
peuples africains, mascarins, asiatiques et polynésiens, qui
relèvent des mêmes affinités anthropologiques que nous:
notre créolité“ (ibidem: 33).
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Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Kulturelle Evolution und Evolution der
Sprache
• Man kann sich die Frage stellen, ob diese Dynamik der
Neugestaltung von Sprachen und Kulturen nach massiven
Migrationen und Mischungen eine grundlegende Komponente in der Evolution menschlicher Sprachen und Kulturen
darstellt (vgl. Wildgen, 2004). Wie wir andeutungsweise
gesehen haben, zeigen sich Tendenzen der Grammatikbildung in der Kreol-Genese besonders deutlich; diese
bleiben aber im Rahmen dessen, was wir aus der generellen
Entwicklung von Sprachen kennen. Damit ein evolutionär
relevanter, d. h. biologisch fixierbarer Effekt entsteht,
müssten dramatischere Effekte auftreten und wir können uns
fragen, ob die Dynamik der Kreolsprachen zumindest
Hinweise auf solche Effekte liefert.
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Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Konkurrenz, Selektion und Adaptation
1.
2.
Selektion aus dem strukturellen Angebot vorhandener Sprachen.
Selektion bei der Integration der einzelnen ausgewählten
Aspekte, Elemente, Eigenschaften zur Bildung eines optimalen
Systems.
Ersteres beruht auf dem Willen und den Präferenzen der Sprecher.
Letzteres ist eher ein „hidden hand“-Effekt; wir sprechen von
Selbstorganisation. Man kann annehmen, dass auch bei der
Evolution der Sprachfähigkeit jeweils verfügbare Optionen in
Konkurrenz standen und aus ihnen ausgewählt werden musste.
Die Selbstorganisationsmöglichkeiten bei der Reorganisation der
Auswahl waren vom jeweiligen kognitiven Potential abhängig,
das sich mit dem Anwachsen des Gehirns (zwischen dem Homo
habilis and dem Homo sapiens) entscheidend verändert hat.
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Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Aspekte der (biologischen) Selektion
•
•
Gesten- versus Lautsprache,
soziale Funktionen der Lautsprache versus kognitive
Funktionen der Lautsprache,
• Integration von Handlungsplänen durch Tanzen/Musik
versus Integration durch Sprache (mit narrativen und
argumentativen Strategien).
Bei Konflikten zwischen diesbezüglich sehr unterschiedlichen
Subspezies erlaubten Vorteile in der Kommunikationsfähigkeit deren Überleben in der direkten Konkurrenz
(siehe etwa die Konkurrenz von Neandertalern und CroMagnon-Menschen in Europa um 30 000 vor heute).
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Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Evolutionäre Hyperzyklen oder der
“Ziehharmonika-”Effekt”
• Die relativ schnelle Entwicklung der Sprachfähigkeit und die noch schnellere
soziale Evolution der letzten 10.000 Jahre erfordern einen sog. “run away”Prozess (vgl. Wildgen, 2004 und 2006).
• Die räumliche Ausbreitung erzeugt eine genetische und auf das Verhalten
bezogene Divergenz, die bei längerer Dauer auch die Funktion von Sprache
und anderen symbolischen Formen verändern kann.
• Die Krisensituationen, in denen die inzwischen sehr unterschiedlichen
Populationen wieder auf engem Raum komprimiert werden und kooperieren
bzw. sich ausgleichen müssen, erzwingen eine neue Synthese der in der
Divergenz hervorgebrachten Möglichkeiten.
• Wenn der Prozess in ähnlicher Form wiederholt wird, kann es zu einer sehr
schnellen Evolution von Verhalten und Gesellschaft kommen. Die Abfolgen
von Divergenz mit Variation und Konvergenz mit der Synthese neuer
Formen nennen wir den “Ziehharmonika-Effekt”.
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Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Identitätskonstruktion und Speziesbildung
• Auch die Identitätskonstruktion kann mit der Speziesbildung
in Zusammenhang gebracht werden. Treffen lang verstreut
lebende und eventuell biologisch divergierenden Unterarten
aufeinander, stellt sich die Frage: Wer gehört zur eigenen
Spezies und wer nicht? Diese Entscheidung kann sowohl das
Fortpflanzungsverhalten steuern als auch entscheiden, ob
friedlich interagiert wird oder ob der Krieg das Medium der
Kommunikation wird. Die Entfernung der heute beobachtbaren sozialen und politischen Konflikte von denen in der
Steinzeit ist allerdings so fundamental, dass man solche
Analogien nur mit größter Vorsicht/Skepsis heranziehen
sollte. Eine Erklärungslücke bleibt jedenfalls bestehen.
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Studienschwerpunkt: Sprachtheorie und Semiotik
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