Sprachtheorie 1 Was ist Sprache? - Kommunikation mit lautlichen Äusserungen. ___________________ - Code von Lautsequenzen zum Informationsaus- ___________________ tausch innerhalb einer sozialen Gruppe. - Zeichensystem mit kommunikativen Zwecken. ___________________ ___________________ vorsichtigere Definitionen Besonders leistungsfähige Entwicklungsstufe der innerartlichen Kommunikation innerhalb der Evolution von Denkvorgängen oder besser gesagt von KOGNITION. Verständigungsprozesse bei Lebewesen (Organismen und Zellen) sind zeichenbasiert, also auf Wahrnehmung aufbauende Zeichenprosesse = SEMIOSEN Beispiele für Semiosen: Ultraschall-Orientierung der Fledermäuse Schwänzeltanz der Bienen: Zeichenträger: Drehrichtung,-Geschwindigkeit, Körpervibrationen, Geräusche, mitgebrachte Pollenproben (Duft) Zeicheninhalte: Art der Futterquelle, deren Ergiebigkeit, Entfernung, Flugrichtung, nötige FlugAnstrengung Die Semiotik als Wissenschaft der Zeichenprozesse liefert u.a. verschiedene Zeichenmodelle 1) Dyadisches Modell Nach diesem Modell des Schweizers Ferdinand de Saussure (1857-1913) ist der signifié (Signifikat) kein konkretes Möbel, sondern die abstrakte Idee eines Konzeptes. Es passt zu allem, was lexikalisch als Stuhl bezeichnet werden kann. Der signifiant (Signifikant) ist seinerseits nicht das Laut- oder Schriftbild, sondern die abstrakte Idee dieser Vokabel, die sich schriftlich oder mündlich realisieren lässt. SPRACHTHEORIE 1 2) Triadisches Modell nach Morris Semiotik = Theorie der Zeichenprozesse zwischen Lebewesen und der Umwelt Semiose vs. Sprache Semiose: feste, oft genetisch vorprogrammierte Informationsverarbeitungsschritte, Vorkommen in Zellen (Proteinbiosynthese) oder bei Delphinen, Seelöwen, Bienen... Sprache: offenes System, verändert sich ständig, muss sozial erworben werden, lediglich Kompetenz angeboren. Wilhelm von Humboldt (1767-1835) gilt als Begründer der Allgemeinen Sprachwissenschaft "einen unendlichen Gebrauch von endlichen Mitteln" Sprache ≠ érgon, sondern = enérgeia Sprachtheorie 3 Diese enérgeia erreicht die Sprache durch rekursive Variablenverwendung: In der Natur entwickelte Informationsverarbeitungen beruhen auf Stellvertretern für reale Objekte. Die Sprache verschachtelt dieses Prinzip mehrfach hintereinander: d.h. Stellvertreter können für Stellvertreter (... für Stellvertreter...) stehen. Ebenen der Stellvertreter: 1. Aus der Menge der theoretisch artikulierbaren Laute wird eine vergleichsweise geringe Anzahl von Lauten benutzt, um das Phoneminventar einer Sprache zu etablieren. 2. Mit diesem bedeutungsunterscheidenden Phoneminventar wird eine grössere Anzahl von Phonemkombinationen etablier, die als Morpheme die bedeutungstragenden Wortbausteine einer Sprache ausmachen. 3. Mit dieser grossen Anzahl von Morphemen kann die riesige Anzahl von bedeutungstragenden Wörtern einer Sprache realisiert werden. 4. Basierend auf einer Anzahl von Wortstellungs- und Satzerzeugungsregeln kann aus der sehr grossen Zahl von Wörtern eine unvorstellbar grosse Anzahl von möglichen Satzäusserungen erzeugt werden. Diese sind ausserdem kontext- und situationsabhängig, so dass das Potential an Bedeutungen unzählbar wird. Syntaktisches Beispiel der Rekursivität: Ein Satz S besteht aus einer Nominalphrase (NP) und einer Verbalphrase (VP). Eine Nominalphrase kann aber wiederum aus einem Nomen (N) und einem Satz (S) bestehen. Damit wird die Regel rekursiv und es entstehen unendliche Reihungsund Schachtelungsmöglichkeiten. Siehe unten: SPRACHTHEORIE 3 Klassische Domänen der Sprachwissenschaft Domäne Gegenstand Fragestellung Phonetik Akustische Merkmale Welche Organe sind von Sprachlauten und beim Sprechen be- ihre Produktion teiligt? Wie beeinflussen Prozesse beim Hören sich Laute gegenseitig? von Sprache in Gehör und Gehirn Bei Sprache handelt es sich um ein komplexes amplituden- und frequenzmoduliertes Signal. Darstellung eines deutschen Satzes (in phonetischer Transskription A): Sprachtheorie 5 B: Amplitudenverlauf der Intensitätsdomäne C: Verlauf der Grundfrequenzkontur (Fo) D: Frequenzdomäne Es schwingen pro Zeiteinheit mehrere Frequenzdomänen. Sprachliche Laute sind also keine einfachen Wellen, sondern mehrfach überlagerte Wellen, mit Grundund mehreren Obertönen. Diese kommen zustande, weil die schwingende Luftröhre oberhalb des Kehlkopfes im Rachen-, Mund-, und Nasenraum durch die Sprechwerkzeuge beeinflusst wird. Entsprechend dem Ort der Artikulation werden die Laute einer Sprache klassifiziert: Daneben wird auch die Art der Artikulation beschrieben: Vokal (oral, nasal) und Konsonant (Verschlusslaut (p,t,b), Liquide (r,.l), Frikative (ch, s, f), Affrikaten (tsch, z)), sowie die Stimmbeteiligung (stimmhaft, stimmlos): t = stimmloser alveolarer apikaler Verschlusslaut m = ___________________________________________________________ ____ = stimmhafter velarer Verschlusslaut SPRACHTHEORIE 5 Bedeutung für die Sprachentwicklung: *pater > engl. father Laute verändern sich oft, indem sie nur 1 Eigenschaft ändern und die übrigen beibehalten: p = bilabialer stimmloser Verschlusslaut > labiodentaler stimmloser Frikativ Klassische Domänen der Sprachwissenschaft Domäne Gegenstand Fragestellung Phonologie Funktion der Laute in Warum gibt es im Deutschen einem gegebenen Silben wie -palt-, -lapt-, aber Sprachsystem nicht -ltpa- oder -tlpa- Anhand von Minimalpaaren lässt sich erschliessen, welche Laute in einer Sprache bedeutungsunterscheidend sind. Solche Laute werden PHONEME genannt. z.B. Bier - wir (b, w), Keim - Reim (k -r) nicht jedoch die unterschiedlichen /ch/ in "ich" und "ach". Hier unterscheiden sich zwar die beiden Laute (palatal - velar). Jedoch ist genau definiert, wann die eine und wann die andere Variante zu stehen hat. Ein Minimalpaar existiert nicht. Solche Laute nennt man ALLOPHONE ein und desselben Phonems. Entsprechend unterschiedlich fallen die Phonem-Inventare von Sprachen aus: Phonem-Inventar des Deutschen Sprachtheorie 7 Phonem-Inventar des Französischen Klassische Domänen der Sprachwissenschaft Domäne Gegenstand Fragestellung Morphologie Lehre der kleinsten Wie entstehen und vergehen bedeutungstragenden Kasusendungen oder Verb- Einheiten und ihr Bau formen? zu Wörtern Morphem = kleinste bedeutungstragende Einheit /alt/ - /kalt/ T = Phonem, ohne Bedeutung /lacht/ - /lache/ T = Morphem, Bedeutung 3. Sg. Indikativ Präsens Aktiv Aufgabe: Führen Sie eine Morphemanalyse durch in folgendem aztekischen Dialekt: SPRACHTHEORIE 7 a) ikalwewe = sein grosses Haus b) ikalsosol = sein altes Haus c) ikalcin = sein kleines Haus d) komitwewe = grosser Kochtopf e) komitsosol = alter Kochtopf f) komitcin = kleiner Kochtopf g) petatwewe = grosse Matte h) petatsosol = alte Matte i) petatcin = kleine Matte j) ikalmeh = seine Häuser k) komitmeh = Kochtöpfe l) petatmeh = Matten m) koyamecin = kleines Schwein n) koyamemeh = Schweine Morpheme ikal = ____________ komit = ____________ koyame =____________ wewe = ____________ cin = ____________ petat = ____________ sosol = ____________ meh = ____________ Klassische Domänen der Sprachwissenschaft Domäne Gegenstand Fragestellung Syntax Regeln, nach welchen Wo liegt das Problem? aus Wörtern Sätze ge- "Pressekonferenz Kanzlerin baut werden die in eine Minute diesen hält" Grösste Einheit der Morphologie: das Wort Kleinste Einheit der Syntax: das Wort Die Syntax ist die Lehre der Satzbaupläne und setzt an jener Stelle an, wo die Morphologie aufhört. Wichtigstes Ziel: Die Analyse von Satzgliedern und ihrer gegenseitigen Abhängigkeit. Der Satz : "Der Läufer erreichte das Ziel nach zwei Stunden" Sprachtheorie 9 a) Dependenzgrammatik: Grundfrage: welches Satzglied wird von welchem anderen Satzglied regiert? Dies führt zu folgender Struktur-Darstellung: b) Konstituentenstrukturgrammatik: Grundfrage: welche Satzglieder sind die zentralen im Satz, welche die peripheren? Diese Betrachtungsweise führt hingegen zu folgendem Strukturschema des Satzes: Trotz ihrer Probleme ist die Variante b) Grundlage für viele modernen formalen Syntaxtheorien geworden. (Problem: was geschieht mit dem Baum bei: "Das Ziel hat der Läufer in zwei Stunden erreicht") SPRACHTHEORIE 9 Semantik Was ist Bedeutung und Wo liegt das Problem? wie wird diese im Lexikon Die Kanzlerin schreit schwei- organisiert? gend ihren ledigen Gatten an. Lexem = sprachliche Struktur (Wort, Phrase) mit einem eigenen Lexikoneintrag. Bedeutung strukturalistisch erfasst (Komponentenanalyse): Jedoch sind bei vielen Begriffen die Umrisse der Bedeutung nicht scharf: Was ist eine Tasse, ein Glas, ein Becher ? Die Theorie der Prototypensemantik geht davon aus, dass Bedeutung im Gehirn als Prototyp gespeichert wird. Je weiter sich ein Gegenstand vom Prototyp entfernt, desto weniger wird er mit dem Begriff bezeichnet. Sprachtheorie 11 Denotation und Referenz a) das ganze Stadion war wütend auf den Schiedsrichter b) (Kollege C erscheint im Büro:) Kollege A zu Kollege B: "Diese Schnecke ist schon wieder zu spät!" Lexeme wie Stadion können Dinge bezeichnen, die in ihrer Bedeutung nicht enthalten sind. Hier "die Menschenmenge" im Stadion. Referenten: Menge der Dinge, die mit einem Lexem bezeichnet werden können. Denotata: Teilmenge der Dinge, die (auch ohne Kontext) von der Bedeutung her bezeichnet werden können. Warum ist Grammatik so, wie sie ist? 2 universelle Mechanismen, die in der Sprache und der Sprachentwicklung am Werk sind: Ökonomie und Deutlichkeit. häufigere Kategorie 3. Person seltenere Kategorie 1.-2. Person Sprache oft null-kodiert nie null-kodiert Komparativ Negativ deutsch spanisch lateinisch spanisch deutsch türkisch deutsch türkisch (er) sang canta laudat canta Affe ev (Haus) schön gel-di (er kam) Feminin deutsch Müller (du) sang-st canta-s laudabit cantará Affe-n ev-i schön-er gel-me-di (er kam nicht) Müller-in Präsens Futur Nominativ Akkukativ Positiv Affirmativ Maskulin Das Verschwinden der Verbendungen im Englischen oder der starken Verben (fragte statt "frug") im Deutschen sind Beispiele für Vereinfachung und somit für die Ökonomie in der Sprachentwicklung. Dieses Prinzip herrscht aber nie uneingeschränkt. Der Abbau der Kasusendungen vom Lateinischen zu den Romanischen Sprachen wird kompensiert durch Wortstellungsregeln (SVO) gemäss dem Prinzip der Deutlichkeit. Viele sprachliche Prozesse erklären sich aus dem Zusammenspiel von Ökonomie und Deutlichkeit. SPRACHTHEORIE 1 1 Beispiel für eine ökonomiebedingtes Universalie: Wenn eine Sprache Präpositionen hat, hat sie fast immer auch die Reihenfolge Nomen - Possessor, und wenn eine Sprache Postpositionen hat, hat sie fast immer auch die Reihenfolge Possessor - Nomen (Greenberg, 1963) Die Klammern geben die Distanz an zwischen der Präposition und dem Kopf der abhängigen Präpositionalphrase. Alles dazwischenstehende muss überbrückt (sog. geparst) werden, was nicht ökonomisch ist. Welche Sprache ist eine Ausnahme zu Greenbergs Universalie? Arabisch Litauisch Japanisch Russisch fii l-bayti l-'abi in ART-Haus ART-Vater.GEN prie tev-o namo bei Vater-Gen Haus sensei no ie Vater Gen Haus in v dome oct-a in Haus Vater-GEN ni Sprachen können also durchaus auch typologisch ungünstige Merkmale besitzen. Diese sind allerdings anfälliger, von Sprachwandelprozessen erfasst zu werden. Sprachtheorie 13 Einen Spezialfall stellen die Kreolsprachen dar. Die neugeschaffene Grammatik dieser Sprachen ist besonders stark auf typologisch verständliche und einheitlich unmarkierte Strukturen angewiesen. Inkonsequenzen wie die französische Wortstellung: son histoire, aber: l'histoire de sa mère werden in Kreolsprachen bewusst umgangen: Haitianisch: li raconte papa-li istwa sa-a 3SG raconter père-3SG histoire cette ausserdem typisch ist die multifunktionale Verwendung von einfachen grammatischen Wörtern. Z.B. pou (< fr. pour) für Präposition, Modus-Markierung, Konjunktion: Haitianisch: Pote sa pou mwen. porter ça pour Nou pa te pou wè sa. 1PL NEG ANT MD voir ça Li pa-jam tro ta pou chen enraje. 3SG NEG-jamais trop tard pour chien s'enrager/devenir moi méchant SPRACHTHEORIE 1 3