Grundkurs, WS 15/16 Sprachtheorie und Sprachtheorien 1. Geschichte der Sprachtheorie — Vom Zeitalter der Griechen und Romanen über das Mittelalter bis zur der Aufklärung gab es Denker, die sich mit dem Thema ‘Sprache’ beschäftigt haben. Platon hat sogar einen Dialog über die Natur der Sprache geschrieben. — Das moderne Denken über die Sprache hat im 19. Jahrhundert mit der Entdeckung angefangen, dass die Sprachen Europas mit Sprachen aus Indien verwandt sind. Das Thema des 19. Jahrhunderts war Sprachgeschichte, d.h., die diachronische Linguistik. — Im 20. Jahrhundert sind die modernen Sprachtheorien entwickelt worden. Sie beziehen sich in erster Linie auf die Beschreibung der existierenden Sprachen, nicht Sprachgeschichte; die Analyse ist daher synchronisch statt diachronisch. — Der erste Ansatz ist aus der Schweiz gekommen, in der Arbeit von Ferdinand de Saussure, der die Grundlagen der modernen Sprachtheorie geschaffen hat. — Er schlug vor, dass es einen grundsätzlichen Gegensatz zwischen der Sprache (langue auf Französisch), die ein System von linguistischen Zeichen (signes) ist, und dem Sprechen (parole), dem Gebrauch des Systems von Sprechern zur Kommunikation, gibt. In der allgemeinen Sprachwissenschaft handelt es sich um die Sprache, nicht das Sprechen. — Er behauptete weiter, dass die Sprache ein strukturelles System ist. Das heißt, die sprachliche Einheiten wie Nomen und Verb werden durch ihre Funktion in der Grammatik statt durch ihre Bedeutung definiert, z.B. ein Nomen ist eine Einheit, die mit Adjektiven und Artikeln, als Subjekt eines Verbs, als Objekt eines Verbs oder einer Präposition, usw. vorkommt. — Zur gleichen Zeit hat der in Deutschland geborene und in Nordamerika forschende Linguist und Anthropologe Franz Boas auch viel beigetragen, weil er die analytischen Methoden für die Beschreibung von typologisch verschiedenen Sprachen entwickelt hat, insbesondere von den amerikanischen Indianersprachen. — Der amerikanische Linguist Noam Chomsky hat eine Unterscheidung vorgenommen, die dem von Saussure vorgeschlagen Gegensatz ähnlich ist. Er unterscheidet zwischen linguistischer Kompetenz, d.h. dem sprachlichen Wissen eines Muttersprachlers, und linguistischer Performanz, d.h. dem Gebrauch dieses sprachlichen Wissens zur Kommunikation. Laut Chomsky ist die Sprachtheorie auf die Untersuchung der Sprachkompetenz gerichtet, nicht auf die Performanz, und daher ist die Linguistik ein wichtiger Teil der Kognitionswissenschaft. 2. Was nützt eine Theorie? — Am wichtigsten definiert die Theorie den Gegenstand der Untersuchung. Sprachwissenschaftler untersuchen sprachliche Phänomene, aber welche? Laut Saussure erforschen sie das abstrakte System der Zeichen, das die Sprache ausmacht, nicht das Sprechen. Laut Boas ist das Ziel die voraussetzungslose, aufschlussreiche Beschreibung von Sprachen. Laut Chomsky untersuchen sie das linguistische Wissen von Sprechern, nicht ihr linguistisches Verhalten. — Im Zusammenhang mit der jeweiligen Theorie gibt es spezifische Fragen oder Themen, die untersucht werden. — Was ist die Natur der sprachlichen Zeichen? Was sind ihre wesentliche Eigenschaften? [Saussure] — Was für Beziehungen existieren unter Zeichen? [Saussure] — Was ist die beste Methodologie der Sprachbeschreibung? [Boas] 2 — Was ist die Natur der menschlichen Sprachkompetenz? [Chomsky] — Wie erwirbt ein Mensch diese Kompetenz? [Chomsky] — Was sind die universelle Eigenschaften der Grammatiken der menschlichen Sprachen? [Chomsky] — Die Theorie liefert auch die theoretischen Begriffe und analytischen “Werkzeuge”, die in der Untersuchung benutzt werden. — Trotz des verbreiteten Gebrauchs sind ‘Phonem’ und ‘Morphem’ theoretische Begriffe. Es gibt phonologische Theorien, die den Begriff ‘Phonem’ gebrauchen, andere nicht, und das Gleiche gilt für den Begriff ‘Morphem’ in morphologischen Theorien. — Konstituentenstrukturanalyse ist ebenso theoretisch gebunden. Es gibt Theorien, in der sie eine zentrale und wichtige Rolle spielt, und in anderen hat sie keinen Stellenwert. Darüber hinaus bekommt Konstituentenstrukturanalyse anders artige Charakterisierungen in verschiedenen Theorien. 2. Die Hauptentwicklungslinien der moderne Syntaxtheorie — Seit den letzten fünfzig Jahren ist der theoretischen Ansatz Chomskys in der Syntaxtheorie vorherrschend. — Seine wichtigste Ideen sind folgende. — Konstituentenstruktur ist die sachgerechte Ausführung der Struktur der Sätzen. — Es gibt Regeln (die transformationelle Regeln), die die Bedeutungsgleiche aber strukturelle verschiedene Sätze miteinander in Beziehung bringen, z.B. ein aktiver Satz wie Die Frau hat den Apfel aufgegessen mit dem entsprechenden passiven Satz Der Apfel ist von der Frau aufgegessen worden. — Er schlägt vor, dass jeder Satz eine abstrakte zugrunde liegende Form hat; diese abstrakte Form wird durch die transformationelle Regeln in die tatsächliche auftretende Form überführt. Die abstrakte Form heißt ‘die Tiefenstruktur des Satzes’, und die offenkundige Form heißt ‘die Oberflächenstruktur’. — Eine Grammatik dieser Art heißt ‘eine generative Grammatik’. — Die generative Grammatik enthält drei Hauptkomponenten: die Syntax, die Phonologie, und die Semantik. Der Kern ist die Syntax; die andere zwei sind abhängig von der Syntax, aber die Syntax ist unabhängig von ihnen. Solch eine Theorie nennt man ‘syntaktozentrisch’. — Die generative Grammatik einer Sprache soll das sprachliche Wissen eines Muttersprachlers darstellen; sie repräsentiert die Sprachkompetenz eines Sprechers. Zudem behauptet Chomsky, dass diese Kompetenz ein unabhängiges und eigenständiges kognitives System bildet. — Aufgrund dieser Darstellung der Kompetenz erfolgt die Erklärung des Spracherwerbs: die Menschen sind mit der Struktur einer generativen Grammatik (ohne den sprachspezifischen Inhalt) geboren, d.h., wichtige Aspekte der Sprachkompetenz sind angeboren. — Diese abstrakte Skizze einer generativen Grammatik ist nicht Sprachspezifisch, sondern bildet die Grundlage einer Universalgrammatik. Das endgültige Ziel dieser Theorie ist die Charakterisierung diese Universalgrammatik und daher die Erklärung des Spracherwerbs. — Viele Syntaktiker nehmen die Theorie Chomskys nicht an. Sie lehnen die syntaktozentrische Auffassung der Sprache ab. Es gibt eine Auswahl solcher Theorien, aber sie haben einige Begriffe gemeinsam. 3 PHONOLOGY S Y N T A X SEMANTICS —In der Beschreibung und Darstellung syntaktischer Struktur spielen grammatische Relationen wie Subjekt und Objekt oft eine entscheidende Rolle. Insbesondere ist die Konstituentenstruktur weder die einzige noch, für einige Theorien, die primäre Repräsentationsmittel der Syntax. — Die Semantik ist eben so wichtig wie die Syntax in der Analyse und Erklärung grammatischer Phänomenen. — Die Pragmatik darf auch eine Rolle in der grammatischen Analyse spielen. Dies ist besonderes bei den Funktionalisten der Fall. — Alle weisen die Ideen von der Tiefenstruktur und von den transformationellen Regeln zurück. — Die Theorien, die die Syntax, die Semantik und die Pragmatik als gleichermaßen wichtige Aspekte der Sprache betrachten, heißen ‘Parallelarchitekturtheorien’. Der Unterschied zwischen syntaktozentrischen und parallelarchitektonishen Theorien kann wie in der folgenden Abbildung vereinfacht dargestellt werden. SEMANTICS PRAGMATICS SYNTAX Syntaktozentrizität Parallelarchitektur —In Bezug auf die Frage der Sprachkompetenz behaupten die Anhänger dieser Theorien, dass das theoretische Modell die Sprachkompetenz repräsentiert. —Laut vieler dieser Theoretiker ist der Spracherwerb nicht durch eine vorausgesetzte, angeborene Universalgrammatik zu erklären; sondern die Erklärung läßt sich auf die reichhaltige kognitive Begabung des Menschens zurückzuführen, eine Begabung, die nicht auf die Sprache beschrankt ist. Darüber hinaus sind die Semantik und die Pragmatik unabdingbar für den Spracherwerb.