Wolfgang Wildgen Goethe als Wegbereiter einer Dynamischen Morphologie in Natur und Sprache Wenn ich Goethe als Wegbereiter einer Dynamischen Morphologie bezeichne, dann aus zwei Gründen: Erstens hat er mit seiner Typenlehre und mit seiner Suche nach idealen Urformen das Paradigma einer abstrakten Formenlehre geschaffen, die über die empirischen Klassifikationen zeitgenössischer Biologen hinaus tendierte; zweitens hat er unter dem Einfluss von Plato und Leibniz nach einfachen, letztgültigen dynamischen Prinzipien gesucht, aus denen sich Sein und Werden der Welt ganzheitlich-dynamische erklären Theorie lassen. wirkt auf Seine dem Hintergrund moderner Theorien der Entstehung von Leben und der Evolution komplexer Wesen sehr aktuell, obwohl letztlich eine direkte Beeinflussung nicht anzunehmen ist. Goethe ist somit eher in dem Sinne Wegbereiter, als er eine Problem-Sicht verfolgt hat, die sich heute wieder als fruchtbar erweist. Goethes Ideen zur Sprachmorphologie, die zwar in seinem Werk nur einen geringen Platz einnehmen, erhalten ihr Gewicht eben durch die Symbiose von Sprachkunst und Wissenschaft Auszug mit Korrekturen und Ergänzungen aus: Wildgen, Wolfgang, 1983. Goethe als Wegbereiter einer Dynamischen Morphologie (unter besonderer Berücksichtigung der Sprachform). Vortrag gehalten bei der Tagung: Goethes Beitrag zur Naturwissenschaft heute, Bayreuth, in: Jahresbericht des Präsidenten 1982, Universität Bayreuth: 235-277. Erneut abgedruckt in: L.A.U.T. Preprint, Reihe A, Papier Nr. 125, Trier, 1984. 75877021 1/21 in der Person Goethes. Sie werfen ein helles Licht auf Grundfragen der Sprachwissenschaft und deren Stellung zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften. 1 GOETHES KONZEPTION EINER ,,MORPHOLOGIE ÜBERHAUPT“ Gottfried Herder (1744-1803), dessen wissenschaftlich philosophischer Geist Goethe in seiner Straßburger Zeit tief beeindruckt hat, schrieb 1770 seine berühmte Preisschrift ,,Über den Ursprung der Sprache“. Goethe konnte deren Entstehung persönlich im Gespräch mit Herder mitverfolgen. Er war zu dieser Zeit allerdings noch dabei, seine dichterische Kraft zu entwickeln. Aus der Bewegung der Sturm- und Drangperiode Gefühlsechtheit heraus war ihm Unmittelbarkeit, wichtiger als philosophische Abstraktion. Dennoch ist Herders Grundthese, die Kontinuität vom Anorganischen zum Organischen, vom Tier zum Menschen und die Zielgerichtetheit der Entwicklung, die im menschlichen Geist (in der Sprache und besonders in der Poesie) gipfelt, eine Grundlage für Goethes dichterisches und naturwissenschaftliches Schaffen geworden. Interessanterweise ist es aber gerade die Differenz zu Herder, Goethes Vorliebe für das Sinnliche, Anschauliche, Unmittelbare und seine Abneigung gegen das Abstrakt-Allgemeine, welche seine besondere Verbindung von Dichtung und Naturwissenschaft prägen. Dabei mag seine zeichnerische Begabung eine vermittelnde Rolle gespielt haben. Die Spannung zwischen Goethes Wunsch nach Unmittelbarkeit und dem Wunsch nach globalem Verstehen ließ die spezifisch Goethesche Morphologie entstehen, die er selbst an die Spitze einer aufsteigenden Liste von Wissenschaften stellt, die da sind: Naturgeschichte: Naturlehre: Anatomie: Chemie: Zoonomie: Physiologie: Morphologie: Morphologie überhaupt: 75877021 Organische Naturen, Habitus, Gestalt Materielle Naturen, Kräfte, Ortsverhältnisse Organische Natur, innere und äußere Teile, ohne das lebendige Ganze Teile eines organischen Körpers, Stoff hervorbringend, Stoff zusammengesetzt Das Ganze insofern es lebt und wirkt, physische Kraft Das Ganze sofern es lebt und wirkt, geistige Kraft Gestalt in ihren Teilen und in ihrem Ganzen, Übereinstimmungen, Abweichungen Betrachtung des organischen Ganzen durch Vergegenwärtigung aller dieser Rücksichten und Verknüpfung derselben durch die 2/21 Kraft des Geistes. (Goethe, Johann Wolfgang v., Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 13, 122 f; aus: Nacharbeiten und Sammlungen [1820]) Die ,,Morphologie überhaupt“ fasst alle Wirkungskräfte zusammen und stellt damit die höchste und umfassendste Naturwissenschaft im Sinne Goethes dar (vgl. auch Meyer-Abich, 1949: 76 f.). Diese hierarchische Anordnung der naturwissenschaftlichen Disziplinen macht deutlich, dass die Morphologie mehr ist als die Klassifikation gesammelter Formen oder Gestalten. Sie ist eine zwar konkrete, aber die Gesamtheit der Differenzen und Übereinstimmungen sowie den anatomischen Aufbau und physiologischen Zusammenhang der Teile berücksichtigende Wissenschaft. Die ,,Morphologie überhaupt“ soll diese konkreten Teilbehandlungen zu einer universalen Darstellung der Natur durch die ,,Kraft des Geistes“ vereinen. Die zentralen Begriffe in Goethes Morphologie der klassischen Zeit (etwa 1775-1805) sind der Typus und die Urbilder (Urpflanze, Urtier, Urkörper). Einerseits wird der Typus und die Existenz von Urbildern methodisch als tertium comparationis der vergleichenden Forschung gefordert (so in: Bildung und Umbildung organischer Naturen, ibidem 21), andererseits erhalten diese Begriffe eine platonische Realität, sie sind Baupläne, Prinzipien, nach denen die Natur die Vielfalt der Formen kraft der ihr eigenen Freiheit schafft. Diese platonische Tendenz verstärkt sich in der Spätphase Goethes, in der er beeinflusst von Leibniz nach abstrakteren Prinzipien sucht. Dadurch werden die Urformen oder Archetypen nicht mehr in der Weise ,,sichtbar“ wie es Goethe bei seiner Suche nach der Urpflanze noch vorschwebte. Entgegen der Unmittelbarkeitsforderung des jungen Goethe entsteht jetzt doch eine abstraktere Vorstellung des Typus als Organisationsprinzip einer großen Vielfalt von Formen. Komplementär zum Typus konzipiert Goethe die Metamorphose, welche den Typus verändert, ihn an die Umwelt anpasst. Auf diese Weise entstehen die Arten. Eine mittlere Abstraktionsebene nehmen geometrische Formen der Dynamik ein. So spricht Goethe in dem Aufsatz: Spiraltendenz der Vegetation von: ,,Allgemeine Spiraltendenz der Vegetation, wodurch in Verbindung mit dem vertikalen Streben Bau und Bildung der Pflanzen nach dem Gesetze der Metamorphose vollbracht wird“. (Goethe, 1955: 131) Diese geometrisch-dynamischen Formen werden durch die allgemeinen Prinzipien: Polarität und Steigerung ergänzt. Goethe vollzieht dabei in seinem Lebenswerk einen Teil des Wissenschaftszyklus vom Empirischen zum Ideellen, den er anlässlich seiner Beschreibung der Geschichte der Farbenlehre aufgedeckt hatte. In dieser sehr abstrakt verbalen Endform der Morphologie ist 75877021 3/21 Goethe der damaligen Philosophie von Schelling (1775-1854) und Hegel (1770-1831) näher als den sich in der ersten Hälfte de 19. Jahrhunderts rasant entwickelnden Naturwissenschaften. 2 VERFALL UND NEUENTSTEHUNG DER DYNAMISCHEN MORPHOLOGIE Die Morphologie, wie sie Goethe programmatisch skizziert hat, wurde mitgetragen durch die naturphilosophischen Ansätze von Schelling (vgl. ,,Schellings erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie“ von 1799) und durch die parallelen Arbeiten Okens (vgl. dessen Lehrbuch der Naturphilosophie, 1809-1811). Goethe selbst sah sich außerdem in Geoffroy St. Hilaire anerkannt und nahm gegen Ende seines Lebens Stellung zum Akademiestreit zwischen Geoffroy St. Hilaire und Cuvier (vgl. Goethes ausführliche Kommentierung der ,,Principes de philosophie zoologique“ (Hamburger Ausgabe, Bd. 13, 219-250). St. Hilaires Grundgedanke ist nach Goethe: ,,die Organisation der Tiere sei einem allgemeinen, nur hier und da modifizierten Plan, woher die Unterscheidung derselben abzuleiten sei, unterworfen.“ (Goethe, W. von, Hamburger Ausgabe Bd. 13, 225) Diese Kontroverse war für Goethe deshalb so bedeutsam, weil hier ein international anerkannter Naturforscher seine Arbeit explizit gewürdigt hatte. Dessen Gegner Cuvier freilich sah in der Arbeit der Deutschen (neben Goethe werden genannt: Kielmeyer, Meckel, Oken, Spix, Tiedemann, Bojanus, Carus) den Versuch, eine längst widerlegte pantheistische Theorie zu begünstigen (ibidem, 227, 250). Das Grunddilemma der idealistischen Morphologie, wie die spätere, an Goethe anknüpfende morphologische Forschung genannt wurde, ist in Goethes Arbeiten schon vorgeprägt. In der Beobachtung einzelner Phänomene verfährt diese Morphologie zwar empirisch; bei der Festlegung allgemeiner Strukturen im Vergleich und bei der Konstruktion allgemeiner Urformen, Typen, vermischen sich aber subjektive, häufig gar sprachliche Schemata mit der Theorie, so dass die Typen und Urformen eher philosophisch-spekulativ als empirisch motiviert sind. Dies wird besonders am Urblatt deutlich, das weniger eine phylogenetische Urform als vielmehr eine Verallgemeinerung des Prototyps eines ,,Blattes“ in der deutschen und zentraleuropäischen Weitsicht darstellt. Dies bedeutet: eine sprachliche Verallgemeinerung in der Kultur des Biologen dient als Folie des Archetyps (vgl. dazu Zimmermann, 1968: 50 ff.). Es ist auf diesem Hintergrund nicht erstaunlich, dass die idealistische Morphologie etwa seit Mitte des 19. Jahrhunderts von der Mehrzahl der Biologen abgelehnt wurde. Sie hatte 75877021 4/21 international nur vereinzelte Fortführer (so die Archetypenlehre von Owen [1804–1892], Aggasiz: Essay of classification, 1859, und D'Arcy Thompson, On Growth and Form, 1917). Die Arbeit von D'Arcy Thompson, der einerseits nach Urtypen, Urplänen sucht, andererseits dabei auf geometrische Konzepte zurückgreift, führt in direkter Linie zur topologischdynamischen Archetypenlehre René Thoms (vgl. Thom 1977: 179). Dieser bezieht sich übrigens auch auf Geoffroy St. Hilaire, wobei er annimmt, dass die heutigen Biologen eher dazu neigen, für Cuvier Partei zu ergreifen, während er selbst St. Hilaires Wunsch nach einer morphologischen Fundierung für wissenschaftlich legitim hält (vgl. Thom, 1975: 36 und unter Bezugnahme auf Husserls Phänomenologie Petitot-Cocorda, 1992). Der naturphilosophische Aspekt der Goetheschen Morphologie (besonders in älteren Arbeiten) beeinflusste die Ganzheitsphilosophie von Driesch (1905) und auch die Gestaltpsychologie (Anfang des 20. Jahrhunderts). Insbesondere letztere zeigt eine Verbindung von empirischer (teilweise naturwissenschaftlicher) Strenge und großer Breite, die bis ins Philosophische und Ästhetische reicht. Die Kontinuität, insbesondere im deutschen Raum, soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Gewicht von Goethes morphologischen Arbeiten zu seinen Lebzeiten eher mäßig war und nach seinem Tode rasch abnahm. Die Biologie des 19. Jahrhunderts wurde wesentlich geprägt durch die Festigung der Evolutionstheorie, die als Idee bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts (bei Lamarck und implizit sogar bei Herder) in Arbeiten der Biologen und Naturphilosophen vorhanden war. Erst die Verbindung von empirischer Sorgfalt und einfachem Erklärungsgefüge in den Arbeiten von Darwin und Wallace führte 1859 (Publikationen der ,,Origin of Species“ durch Darwin) zu einer neuen und tiefer greifenden vergleichenden Morphologie, die heute von keinem Biologen mehr ignoriert werden kann. Aus der phylogenetischen Perspektive kann man sich beim Vergleich der Formen von Lebewesen nicht mehr auf Analogien und abstrakte Urformen beschränken, man muss die Geschichte der Formentstehung angeben und die Kräfte freilegen, welche zur Erhaltung und Veränderung von Formen im konkreten evolutionären Verlauf geführt haben. Kurz gesagt, nach Darwin ist die naive Morphologie der Goethe-Zeit nicht mehr möglich. Dies heißt jedoch keineswegs, dass der Darwinismus die in der Goetheschen Morphologie aufgeworfenen Fragen beantwortet hätte, im Gegenteil, er stellte andere Fragen und auch andere Antwortschemata in den Vordergrund und hat damit das Problemfeld systematisch vervollständigt. Gerade die schwierigen Fragen, nämlich diejenigen nach der Kontinuität von Natur, Geist und Kunst wurden jedoch von engeren naturgeschichtlichen Fragen verdrängt. Generell ergab sich ein neues Vorbild für die Wissenschaft, das auch für die Geisteswissenschaft Gültigkeit erhielt. 75877021 5/21 Die sorgfältigen und verästelten empirischen Analysen und Ergebnisse sollten durch möglichst einfache und generelle Gesetze erklärt werden. Von diesen Gesetzen wurde erwartet, dass sie vom Typ quasi-physikalischer Gleichgewichtsgesetze sind, d. h. es sollten keine höheren Pläne oder Entelechien ins Spiel kommen; aus den Wirkungen in der jeweils einzelnen Konfiguration sollten auch allgemeine Strukturen, etwa die Entstehung von Arten, erklärt werden. In diesem Sinne ist die Zielvorstellung der nach-darwinschen Biologie der von Goethe diametral entgegengesetzt. In der Physik sind zwei große Entdeckungen von fundamentaler Bedeutung für die spätere Neuentstehung der Dynamischen Morphologie. Erstens die beiden thermodynamischen Gesetze. Das erste wurde 1847 von Helmholtz mathematisch als Energieerhaltungsgesetz formuliert. Es stellt den Prototyp genereller Gleichgewichtssätze dar. Das zweite thermodynamische Gesetz, die Irreversibilität der Umwandlung von Energie in Wärme, war zwar in der Technik bekannt, es entfaltet seine theoretische (innovative) Wirkung aber besonders in der irreversiblen Thermodynamik Prigogines. Gerade die Irreversibilität ist aber für die Theorie der Strukturentstehung von großer Bedeutung. Eine weitere große Innovation waren die Feldlehre von Faraday (1791-1867) und Maxwells mathematische Formulierung der Feldgleichungen (um 1860). Die physikalische Feldlehre hat ihrerseits die Gestaltpsychologie Ende des 19. Jahrhunderts beeinflusst (besonders die ,,Vektorpsychologie“ Kurt Lewins; vgl. Wildgen, 2001). Sie ermöglichte eine dynamische, kontinuierliche Modellbildung mit Fernwirkungen und schaffte damit eine Alternative zum Mechanismus in der Tradition von Descartes. Die Mathematik hat sich im 19. Jahrhundert grundlegend verändert. Die Loslösung von der Anschaulichkeit und der direkten Dienstfunktion für die Technik (die Goethe so aufbrachte) führte in eine Grundlagenkrise, aus der eine große Fülle neuer Systeme hervorging. Es entstanden die Logikkalküle (und die Metamathematik), die nicht-euklidischen Geometrien und schließlich die Topologie und die Differentialtopologie sowie die Stochastik. Mit dieser Vielfalt mathematischer Formen war ein reiches Instrumentarium für neue Morphologien geschaffen. Die Morphologie konnte sich aus der Bevormundung durch die Sprache, die Alltagsweltsicht befreien; zumindest teilweise, denn letztlich ist die Umgangssprache die letzte Rückversicherung (im Sinne des späten Wittgenstein). Dieses Problemfeld greift jedoch schon hinüber in die Sprachmorphologie, deren weitere Entwicklung nach Humboldt wir kurz verfolgen wollen, um auf diese Weise die historische Kluft zwischen Goethes Tod und heute zumindest notdürftig zu schließen. 75877021 6/21 3 METAMORPHOSEN DER DYNAMISCHEN SPRACHMORPHOLOGIE Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie stellte eine Synthese der intensiven Auseinandersetzungen seit sprachphilosophischen Leibniz und einen vorläufigen Höhepunkt dar. Gleichzeitig war aber seine Lehre der inneren und äußeren Sprachform auf einer abstrakten Höhe angesiedelt, die von der turbulenten nachfolgenden Entwicklung nicht nur nicht erreicht, sondern auch sorgfältig umschifft wurde. Bopp (17911867) und Jacob Grimm (1785-1863) setzten teilweise die Tradition fort. Die neue Attraktion, die Rekonstruktion der germanischen und indo-europäischen Ursprachen und deren Bestärkung durch den ab Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Darwinismus führten die Sprachwissenschaften in ganz andere Gefilde. Die stark historisierende, an Quellen orientierte, vergleichende Sprachwissenschaft und der allgemeine Trend zu ausschließlich mechanistischen Erklärungen ließen bald vergessen, dass die Sprache nicht eine bloße Naturform, wie die Blüten des Botanikers oder die Arten des Biologen, ist. Man tendierte dazu, die Sprachwissenschaft auf eine Naturwissenschaft, ja auf die Naturgeschichte zu reduzieren (und stellte damit Goethes Hierarchie der Wissenschaften auf den Kopf). Nicht zuletzt das von Helmholtz formulierte Energieerhaltungsgesetz und die mechanische Gesetzlichkeit der Darwinschen Evolutionslehre führten zum Ideal eines mechanischen, von jeder bewussten Einwirkung, jeder höheren Formung unbeeinflussten Gesetzlichkeit. Diese Zielvorstellung einer geistlosen Wirkung ist den Idealen von Herder, Goethe und Humboldt, insbesondere Goethes Idee der Steigerung und der Kontinuität von Natur, Geist und Kunst so entgegengesetzt, dass das Erbe der Goethe-Zeit verloren gehen musste. Es entstand die Konzeption einer naturwissenschaftlichen Linguistik (Schleicher, 1848) und die Idee der Lautgesetze. Allerdings verlor sich die anfängliche Euphorie der Anhänger rein mechanischer und deshalb ausnahmsloser Lautgesetze bald. Die Lautgesetze wurden durch das im Wesentlichen assoziationspsychologische Analogieprinzip ergänzt oder gar zur ,,Mode“ abgewertet (s. H. Paul für die erste Tendenz, Delbrück für letztere). Wundt führte beide zusammen und verknüpfte sie in einer psychophysischen Theorie, die mit Fechners Psychophysik in Zusammenhang gebracht werden kann. 75877021 7/21 Im späten 19. Jahrhundert finden verschiedene neu entstandene Disziplinen, wie die Psychologie, die Soziologie und die Linguistik, zu einer ersten Konsolidierungsphase. Die alten Probleme der Sprach-Morphologie sind jedoch ihrer Lösung nicht näher gekommen, man hat lediglich Sprachbeobachtungen und Sprachvergleiche angehäuft. Die nächste und heutige Periode brachte eine Serie von Syntheseversuchen und führte schließlich zur Wiederaufnahme der klassischen Probleme. Dass diese Synthesephase noch andauert, hängt mit immer neuen Anpassungen der Sprachwissenschaft an wichtige Veränderungen im theoretischen Umfeld, hauptsächlich in der Psychologie und Soziologie, aber auch in der Philosophie, zusammen. Die wichtigsten Wellen waren Saussures Vorlesungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der Prager Funktionalismus, der Instrumentalismus und Distributionalismus (Kontexte des Gebrauchs bestimmen die Klassifikation) bei Harris, der eingebettet in den logischen Empirismus (Carnap, Bar Hillel) von seinem Schüler Chomsky variantenreich fortgeführt wurde. Gleichzeitig mit Chomsky und Bar Hillel kommt eine neue Entwicklung zum Tragen, die sich bald selbstständig entwickelte: die logisch-mathematische Approximation natürlicher Sprachen (durch Logik-Kalküle bei Montague und Barwise durch Computersprachen bei den technisch motivierten Theoretikern). Diese Methode besteht im Wesentlichen in einer Übersetzung der natürlichen Sprache in eine der logisch algebraischen Kunstsprachen. Das Herausfiltern einer Universalgrammatik zeigte am Ende aber meist mehr die Filter als das Phänomen. Zwei Grundfragen blieben weiterhin unbeantwortet: Ist Sprache mehr Natur oder Konvention, welches ist der Zusammenhang von Sprache – Denken bzw. Sprache und Wirklichkeit oder Kultur? Zwar gibt es interessante Folgearbeiten zu Humboldt, so die Arbeiten der NeoHumboldtianer: Weisgerber und Gipper; aber sie bleiben in dem Rahmen, den auch Humboldt nicht sprengen konnte.1 Eine Dynamische Morphologie heute kann sich nicht mehr mit den Erkenntnismitteln zu Zeiten Goethes und Humboldts bescheiden, sie muss die fundamentalen Veränderungen in der wissenschaftlichen Landschaft, seit Goethes und Humboldts Tod, akzeptieren und integrieren. Das Faszinierende dabei ist, dass eben diese neuen Entwicklungen Keime nicht nur für eine Wiederaufnahme der Problematik, sondern auch Ansätze zu deren Lösung enthalten, d. h. gerade die Negation des Idealismus von Goethe und Humboldt schuf die Voraussetzungen für eine Fortführung ihrer Arbeit. Damit erwies sich die Nicht-Fortführung der idealistischen Morphologie Goethes und der sehr schwierigen Sprachtheorie Humboldts als produktiver als die Arbeiten der Humboldt-Epigonen. 1 Cassirer hat zuerst 1923 und später in einem Aufsatz zum Strukturalismus in der Sprachwissenschaft versucht, 75877021 8/21 4 EIN NEUER ANLAUF ZU EINER DYNAMISCHEN SPRACHMORPHOLOGIE Über 150 Jahre nach Goethes Tod, über 200 Jahre nach Herders Preis-Schrift, ist das Interesse an den biologischen Grundlagen der Sprache wieder sprunghaft angestiegen. Nachdem eine Fülle von Daten über historische Sprachzustände und lebende Sprachen vorliegt, geht es nicht darum, diese in einer Theorie zu integrieren; die ,,Allgemeine Sprache“, die ,,Idee“ hinter der Verschiedenheit der Sprachen rückt wieder in den Vordergrund. Gleichzeitig ist man sich dessen bewusst, dass für die Dynamische Sprachmorphologie ein spezielles Instrumentarium notwendig ist und dass dabei das Problem der Vermittlung zwischen (kategorialer) Wahrnehmung/Gedächtnis und Sprache im Zentrum steht, d. h. die Dynamische Sprachmorphologie erhält neuerdings eine kognitive oder gar neurologische Komponente. Goethe hat das fundamentale Problem jeder menschlichen Erkenntnis klar erkannt. In den Paralipomena zur Farbenlehre spricht er es in einer Diktion aus, die schon an Wittgenstein denken lässt: ,,Alle Erscheinungen sind unaussprechlich; denn die Sprache ist auch eine Erscheinung für sich, die nur ein Verhältnis zu den übrigen hat, aber sie nicht herstellen kann (identisch ausdrücken kann).“ (Goethe, Artemis Ausgabe, Bd. 17, Aphorismen und Fragmente, Symbolik, 777) Für sich persönlich sah Goethe nur einen Ausweg aus diesem Dilemma: die poetische Sprache. ,,Im gemeinen Leben kommen wir mit der Sprache notdürftig fort, weil wir nur oberflächliche Verhältnisse bezeichnen. Sobald von tieferen Verhältnissen die Rede ist, tritt sogleich eine andere Sprache ein, die poetische.“ (Goethe, ibidem, 775) In seiner Zeichenlehre hat Goethe jedoch einen anderen Ausweg aus dem Dilemma angegeben, der für die moderne Naturwissenschaft von zentraler Bedeutung ist: Die Mathematik ist eine Sprache mit besonderen Symbolqualitäten: ,,weil ihr gleichfalls Anschauungen zugrunde liegen, die im höchsten Sinn identisch mit den Erscheinungen werden können.“ (Goethe, ibidem, 776) Gleichzeitig sieht Goethe aber auch die Gefahren der mathematischen Sprache, wenn er sagt: ,,daß aber ein Mathematiker aus dem Hexengewirre seiner Formeln heraus zur Anschauung der Natur käme und Sinn und Verstand unabhängig wie ein gesunder Mensch brauchte, werd ich wohl nicht erleben“ (An Zelter, 17. Mai 1829, zitiert in Seiler 1909, 4). Ganz so pessimistisch war Goethe allerdings nicht, immerhin hebt er den Mathematiker die Tradition von Goethe und Humboldt zumindest philosophisch fortzusetzen. Vgl. Wildgen (2003). 75877021 9/21 Lagrange hervor, indem er sagt: ,,möchten doch alle den gründlich-klaren Sinn eines Lagrange besitzen und damit Wissen und Wissenschaft behandeln“ (Goethe, Artemis Ausgabe, Bd. 17, 770). Obwohl Goethe die weitgehende Mathematisierung der Physik ablehnte, war es gerade diese, welche den Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Empirismus in Richtung auf Goethes Idealismus zurückführte (vgl. A. Groth, 1972, 167 ff.). Goethe sah wohl in groben Umrissen Gefahren und Chancen der Mathematisierung, er konnte aber deren Ausmaß und Vielfalt noch nicht ahnen. Die Allgemeine Morphologie Thoms verwendet Mathematik nicht nur für das Trennen und Vergleichen, also in der konkreten empirischen Arbeit, sondern auch bei der Suche nach Grundtypen und letzten Formprinzipien. René Thom steht damit einerseits als Mathematiker in der Tradition des von Goethe hoch gelobten Lagrange, andererseits versucht er, eine Naturphilosophie aufzubauen, in welche die heute vorhandenen Disziplinen von der Physik bis zur Psychologie und Linguistik ein Fundament und eine Perspektive erhalten. In seiner Rede anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Tübingen zum Thema „Für eine Wiederbelebung der Naturphilosophie“ zeigt der Mathematiker Thom einige Konfliktfelder der heutigen Wissenschaft auf. Er fasst das Problem des Wissenschaftlers als ein zweifaches auf. Erstens muss dieser einen empirischen Tatbestand sichern, d. h. eine Morphologie in Raum und Zeit feststellen. Zweitens muss er aus der Flut solcher Feststellungen eine einfache Theorie bauen. Die Theorie soll dabei die Willkür bei der Beschreibung einzelner verstreuter Morphologien verringern, indem eine generelle Morphologie, in der Regel mithilfe verdeckter Größen und Parameter, konstruiert wird. Thom vergleicht diese Situation mit dem Sinnbild Platons vom Menschen, der in einer Höhle aus Schatten das Geschehen draußen zu erschließen versucht. Die Annäherung der Theorie an die Erfahrungstatsachen ist nur in wenigen Fällen so gut und so lückenlos (kompakt, analytisch), dass quantitative Vorhersagen möglich sind. Dies gelingt zwar in der klassischen Mechanik, aber bereits in der Physik der Flüssigkeiten, in der Chemie und erst recht in der Biologie sind exakte mathematische Modelle, die gleichzeitig eine breite empirische Deckung haben, nur in besonderen Fällen möglich. Meist geht es um praktische Approximationen und im Falle der Biologie fehlen teilweise sogar mathematische Einfachheits- (Eleganz-) kriterien, um alternative Theorien bewerten zu können. Die Situation ist dagegen wieder günstiger in Bereichen, welche selbst eine sehr ausgeprägte und niedrigdimensionale Morphologie besitzen, z. B. in der Sprache, die deutlich wahrnehmbare und abgrenzbare Muster (Phoneme, Morpheme, Syntagmen, Sätze) erkennen lässt; diese sind annähernd 75877021 eindimensional (zumindest suggeriert die Alphabetschrift eine lineare 10/21 Reihenbildung). Aus dieser sehr kritischen Sicht der Morphologie erweist sich die intuitive Suche Goethes nach einfachsten Organisationsprinzipien und Archetypen als eine vernünftige Heuristik. Außerdem spricht eine solche Sichtweise, die auf der einen Seite die analytischen und quantitativen Modelle der Physik, auf der anderen Seite die sehr geordnete Morphologie der Sprache als Extrema hat, gegen den seit dem 19. Jahrhundert dominierenden Reduktionismus. Es scheint eben zwei grundsätzlich verschiedene Modi wissenschaftlicher Modellbildung als Rekonstruktion sichtbarer und greifbarer Morphologien durch einfache, invariante, verborgene Morphologien zu geben. Der Dichter und Zeichner Goethe hatte nicht zufällig einen privilegierten Zugriff zur sprachlich-konzeptuellen Morphologie und zur psychologischen Farb- und Formenlehre (in seiner Farbenlehre und Botanik), denn er stand der Sprache und der figürlichen Anschauung sehr nahe. Der scheinbare Irrtum der idealistischen Morphologen, ihr Rückgriff auf die eigene subjektive Vorstellungskraft, auf sprachliche Prototypen war zumindest als Findungsstrategie kein Irrtum, sondern geschicktes Vorgehen. In dieser Hinsicht steht Thom, ohne es explizit reflektiert zu haben, auch in der Kontinuität Humboldts. Die Sprache ist eine Zwischenwelt, sie ist dies aber in der Form der Tätigkeit des denkenden Menschen. Die Sprache ist eine Hülse, die wir zuerst ausfüllen und dann sprengen müssen (um eine weitere Hülse gleichzeitig zu schaffen). Diese Botschaft Humboldts hat Cassirer in seinem Begriff der genetischen Betrachtung gut erfasst, wenn er sagt: ,,Jede Betrachtung der Sprache muß ,,genetisch“ verfahren: nicht in dem Sinne, daß sie sie in ihrer zeitlichen Entstehung verfolgt, und daß sie ihr Werden aus bestimmten empirisch-psychologischen ,,Ursachen“ zu erklären versucht, sondern in dem Sinne, dass sie das fertige Gefüge der Sprachbildung als ein Abgeleitetes, Vermitteltes erkennt, das erst verstanden wird, wenn es uns gelingt, es aus seinen Faktoren aufzubauen und die Art und Richtung dieser Faktoren zu bestimmen. Das Zerschlagen der Sprache in Wörter und Regeln bleibt immer nur ein totes Machwerk wissenschaftlicher Zergliederung - denn das Wesen der Sprache beruht niemals auf diesen Elementen, die die Abstraktion und Analyse an ihr herausstellen, sondern ausschließlich auf der sich ewig wiederholenden Arbeit des Geistes, den artikulierten Laut zum Ausdruck des Gedankens fertig zu machen.“ (Cassirer, 1953: 104) Wie will Thom nun diese Problemstellung einen Schritt weiterbringen? Er setzt dort an, wo Humboldt in neukantianischer Tradition aufhört: bei den Invarianten der Anschauung. In Thoms topologischer 75877021 11/21 Semantik wird auch noch die Struktur des Anschauungsraumes theoretisch angegangen. Die Instabilitäten, Brüche, Katastrophen raumzeitlicher Strukturen sind das Grundinventar, aus dem prägnante Gestalten in Wahrnehmung und Gedächtnis aufgebaut werden. Sie sind das Alphabet der Symbolwerdung. Das Symbol selbst ist die Stabilisierung einer hochdimensionalen Anregungsstruktur unserer Wahrnehmungs- und Verarbeitungsorgane; wir schaffen eine statische Morphologie als Produkt einer inneren Anregung durch äußere Morphologien. Zumindest ansatzweise berührt sich hier die Thomsche Symboltheorie mit Piagets Theorie der kognitiven Äquilibration; mit dem Unterschied gewiss, dass Thom ein Alphabet irreduzibler Gestalten, semantischer Archetypen, angibt und diese mathematisch fundieren kann. Piaget dagegen versucht die axiomatische Fundierung der Mengenlehre als Blaupause des menschlichen Denkens zu nützen. Freilich, selbst wenn Thoms gewagter Lösungsversuch Erfolg hätte, wäre damit erst ein Zipfel des Vorhanges gelüpft; nur ein kleiner Strahl wäre auf die Wand der platonischen Höhe gefallen. Die Thomsche Morphologie wird aber sicher neue Relevanz-Kriterien für linguistische und psycholinguistische Arbeiten setzen, so dass man zumindest weiß, welche Erfahrungsmorphologie uns erstaunt, welche Erscheinung zu uns spricht.1 ,,Die Ordnung, in welche wir die Dinge stellen, liegt nicht in den Dingen; die Hauptsache ist, daß der Mensch sich das Anschauen, zu dem er einmal genöthigt ist, bequem mache und das thut er durch den Begriff, und durch die dem Begriffe correspondierende Ordnung.“ (Goethe in der Farbenlehre, zitiert bei K.-H. Menzen, 1980, 50) Nun ist die gefundene Ordnung sicher keine zwingende, da sie wesentlich von den (begrenzten) Einsichten des Beobachtenden, Forschenden abhängt. Eine solche Wissenschaftsauffassung kann leicht als elitär missverstanden werden, trägt sie doch den Stempel des Genie-Kults (und dies schien für Goethe wie für Thom natürlich zu sein). Letztlich fehlt beiden, Goethe und Thom, das, was Thom als Erfolgs-Geheimnis der Physiker ansieht, die stabile Verständigungsbasis, der kompakte Bezugsrahmen, der die Transformation von Beobachtungen, Erfahrungen eines Forschers in diejenigen des anderen erlaubt. Sicher hat Thoms Theorie durch das mathematische Fundament und durch die Integration seiner Dynamischen Morphologie in die naturwissenschaftliche Forschung gegenüber Goethe und Humboldt ein neues Plateau erreicht. Dennoch unterliegt sie der Instabilität aller Archetypenkonstrukte ohne ausreichende empirische Fundierung. Letztlich ist diese Instabilität jedoch auch eine Chance, denn so wie Goethes Morphologie in der 1 Vgl. die Prägnanztheorie Thoms und Wildgen (2006).. 75877021 12/21 Gestaltpsychologie eine Steigerung erfuhr, wird wohl auch Thoms Theorie, ohne Bestand zu haben, sich zu höheren Formen verwandeln können. 5 ANDERE TYPEN DYNAMISCHER MORPHOLOGIE UND DIE SPRACHE In der Verfolgung des Schicksals der Goetheschen Morphologie im 19. Jahrhundert hatte ich bereits auf zwei weitere Ansätze hingewiesen, die Thermodynamik und die fraktale Geometrie. Ich möchte nur kurz auf deren Bedeutung für eine Sprachmorphologie hinweisen, um das im vorherigen Abschnitt entworfene Bild zu ergänzen. Goethe hatte als Dichter einen hoch entwickelten Sinn für die Labilität, den schnellen Strukturverlust in der Sprache. Ich möchte dies anhand einiger Zitate belegen: ,,Das ausgesprochene Wort ist sogleich tot, wenn es nicht durch ein folgendes, dem Hörer gemäßes am Leben erhalten wird. Man merke nur auf ein geselliges Gespräch: gelangt es nicht schon tot zu dem Hörer, so ermordet er es also gleich durch Widerspruch, Bestimmen, Bedingen, Ablenken, Abspringen und wie die tausendfältigen Unarten des Unterhaltens auch heißen mögen. Mit dem Geschriebenen ist es noch schlimmer. Doch hat das Geschriebene den Vorteil, daß es dauert und die Zeit abwarten kann, wo ihm zu wirken gegönnt ist.“ (Goethe, Maximen und Reflexionen, zit. nach dem Goethe-Lexikon, 158) ,,Daß niemand den anderen versteht, daßs keiner bei denselben Worten dasselbe, was der andere denkt, daß ein Gespräch, eine Lektüre bei verschiedenen Personen verschiedene Gedankenfolgen aufregt, hatte ich schon allzu deutlich eingesehen.“ (Goethe, Dichtung und Wahrheit, 16. Buch, 1903: 659f)1 Die einzelnen Sprachhandlungen sind somit im Gegensatz zum biologisch kanalisierten Spracherbe unstabil, ungenau. Die Übertragung klappt nur ungefähr, das Wort löst sich auf wie Schall und Rauch. ,,Name ist Schall und Rauch“ (Faust 1, Vers 3457) Nicht nur der Kommunikationsprozess ist eine Quelle ständiger Verluste, schon die Verbalisierung ist durch den Verlust an Kraft und Ausdruck gekennzeichnet. Schiller hat dies ebenso stark wie Goethe empfunden, wenn er schreibt: ,,Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen? Spricht die Seele, so spricht, ach! schon die Seele nicht mehr.“ (Schiller zit. bei Vossler, 1904, 89) Diesem beständigen und schmerzlichen Verlust entspricht die ständige Sprachschöpfung, wobei sprachschöpferisch nicht nur jene Individuen sind, welche neue Wörter, Satzgefüge oder rhetorische Formen prägen; sprachschöpferisch ist jeder, der die vorfindlichen Sprachhülsen mit ,,Seele“ (im Sinne Schillers), also mit aktiver, ansteckender Bedeutung, 1 Diese Bemerkung Goethes steht allerdings im Kontext zeitgenössischer Kontroversen zum Werk und zur 75877021 13/21 Bedeutsamkeit füllt, so dass der Verlust der Kommunikation kompensiert, ja übertroffen wird. Diese Gesichtspunkte sind in Vosslers idealistischer und ästhetischer Sprachwissenschaft (vgl. Vossler, 1905, Kap. IV) zu einer neuen Reife gelangt. In der heutigen Sprachwissenschaft gibt es ähnliche Regungen, ohne direkten Zusammenhang mit der damaligen Bewegung in der Pragmatik (etwa bei Givon, 1979), der die höhere (d. h. textuelle und konversationelle) Sprachebene nicht mehr reduktionistisch auf die Syntax aufbaut. Letztere wird eher als eine Ablagerung lebendiger Text- und Gesprächs-Prozesse angesehen. Die Formungsdynamik lebt vom Diskurs; später verfestigen, kristallisieren sich einige dieser Strukturen in der statischen Syntax und Wortstruktur. Die Dynamische Morphologie kennt als Analoga dieser Prozesse die dissipativen Strukturen, d. h. Systeme, welche ständig arbeiten und Energie umsetzen. Charakteristisch für solche Systeme ist die ständige Selbsterneuerung, die auch ,,Autopoiesis“, d. h. Selbsterschaffung, genannt wird. Autopoietische Systeme sind zwar nicht global stabil, da sie sich fern des thermodynamischen Gleichgewichtes befinden, sie erhalten sich aber in einer Art Fließgleichgewicht. Ebenfalls charakteristisch für lebende Systeme ist, dass sie einen Kern herausbilden, der eher konservativ und damit stabil ist. Der genetische Kode der DNA ist eine solche relativ konservative Struktur (auf der Zeitskala von Jahrmillionen). Die Syntax und das Lexikon bilden auf einer historischen Zeitskala (von Jahrhunderten) den konservativen Kern einer insgesamt dissipativen und sich ständig erneuernden Sprachstruktur. Die Archetypen, die Thom vorschlägt, werden als das Grundinventar eines solchen konservativen Kerns der Sprachfähigkeit aufgefasst. Damit wird gleichzeitig deutlich, wie wenig mit der Archetypensemantik über das Gesamtsystem Sprache ausgesagt ist. Die Archetypensemantik muss durch eine im Wesentlichen ,,thermodynamische Sprachmorphologie“ ergänzt werden. Erst wenn dieser Bereich systematisch eingefangen ist, kann von einer zumindest approximativen Rekonstruktion der Goethe-Humboldtschen Sprachtheorie die Rede sein. Eine solche Dynamische Morphologie, welche die Sprachmorphologie umfasst, könnte Goethes Vorstellungen einer ,,Morphologie überhaupt“ als ,,Betrachtung des organischen Ganzen durch Vergegenwärtigung aller dieser Rücksichten und Verknüpfung derselben durch die Kraft des Geistes“ (vgl. Abschnitt 1) Wirklichkeit werden lassen. Bereits zu Goethes Lebzeiten entdeckte Robert Brown (1828) die nach ihm benannten Brownschen Bewegungen von erhitzten Molekülen (vgl. Mandelbrot, 1977: 255; letzterer bringt Brown in Verbindung mit Alexander von Humboldt). Die volle Bedeutung seiner Person Spinozas. 75877021 14/21 Entdeckung ist erst um 1905-1909 in der Quantenphysik gewürdigt worden. Diese Morphologien, wenn man von Form überhaupt noch sprechen kann, eröffnen einen weiten Bereich, den man komplementär zur Ordnung Chaos nennen kann. Im Bereich der sog. Chaostheorie sind in den letzten Jahrzehnten eine ganze Reihe wichtiger Arbeiten entstanden. Es scheint so, als gäbe es viele Übergänge zwischen geordneten und chaotischen Systemen. Anhand der zu diesem Bereich gehörenden Fraktale (Bruchfunktionen) von Mandelbrot wollen wir skizzenhaft die Bedeutung dieses neu erschlossenen Bereiches der Morphologie für die Sprachwissenschaft beleuchten. Fraktale oder „Bruchstrukturen“ sind mathematische Funktionen, welche eine Dimensionalität haben, die nicht durch eine ganze natürliche Zahl darstellbar ist. So ist z. B. eine Linie, welche eine Fläche nicht teilt oder Teilflächen abgrenzt, sondern sie fast ausfüllt, eine solche „Bruchstruktur“. Der Zusammenhang mit der Brownschen Bewegung ist deutlich; andere natürliche Strukturen sind Flugbahnen von Mücken, Flussverläufe, Küstenlinien usw. Wesentlich ist dabei, dass im Prinzip eine vergrößernde Betrachtung der Bewegung nur neue Zickzackmuster zum Vorschein kommen lässt, anstatt zu einfacheren Gebilden zu führen. Berry (1982) zeigt sogar, dass in der Optik die mikroskopische Betrachtung der Fraktale globale und einfache Strukturen verschwinden lässt. 6 SCHLUSSBEMERKUNG Von heute aus gesehen hat Goethe eine erstaunlich selbständige Einstellung zur damaligen Naturwissenschaft entwickelt, ohne deren Siegeszug in der von Newton vorbestimmten Richtung beeinflussen zu können. Erst heute, wo einerseits das klassische Paradigma der Physik von innen heraus aufgebrochen wird und andererseits das Bedürfnis nach einer weniger bruchstückhaften, reduzierten Weitsicht wieder Gewicht erhält, wird uns die grundsätzliche Bedeutung von Goethes naturwissenschaftlichen Arbeiten bewusst. Deren Wert liegt weniger in den Detailbeobachtungen zur Botanik oder zur Farbenlehre, als im Bemühen um eine Wissenschaft, welche die Totalität unserer Lebenswelt erklärend strukturieren kann. Wissenschaft wird damit von ihrer Teilfunktion als Vorbereitung zur technischen Beherrschung der Natur wieder auf das globale Erkenntnisbedürfnis des Menschen zurückgeführt, an diesem gemessen. Für die Sprachwissenschaft, welche nahe am Kreuzungspunkt zwischen Natur- und Sozialwissenschaften steht, ist dieser Brückenschlag von besonderer Bedeutung. In Goethes Sprachintuition, die teilweise von W. v. Humboldt ausformuliert wurde, ist eine zukünftige 75877021 15/21 Sprachwissenschaft als Gerüst erkennbar. In ihr sollen die grundlegenden, bis jetzt gewonnenen Einsichten in die Sprache, die Sprachen, den Verständigungsprozess zu einer neuen Synthese zusammengefaßt werden. Goethes Beitrag zur Wissenschaft heute besteht gerade darin, dass er eine lohnende Perspektive für morgen anzugeben vermag. 75877021 16/21 BIBLIOGRAPHIE (von 1983 mit wenigen Ergänzungen 2007) Anderson, J. M. (1971). The Grammar of Case. Towards a Localistic Theory, C.U.P, Cambridge. Beneš, B. (1958). Wilhelm v. 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