Einführung in die Literaturwissenschaft Themenübersicht • Literarizität: Was unterscheidet literarische Texte von anderen sprachlichen Äußerungen? • Zeichen und Referenz: Wie stellen literarische Texte den Bezug sprachlicher Äußerungen auf ›Wirklichkeit‹ dar? • Rhetorik: Was sind ›sprachliche Mittel‹? • Narration: Wie entstehen Geschichten? • Autorschaft und sprachliches Handeln: Wie greift Schreiben in Wirklichkeit ein? • Intertextualität und Intermedialität: Wie beziehen sich literarische Texte auf andere Texte / andere Medien? Prüfungsleistung Klausur, eineinhalbstündig bestehend aus: 4 Fragen, von denen 3 beantwortet werden müssen (Ort, Zeit: 7.2.2010, 16-18h, Audimax) Voraussetzung: regelmäßige Teilnahme Tutorien (Beginn: zweite Vorlesungswoche) • Mona Jasmin Auth & Wiebke Meeder Di 18:00-20:00 • Katrin Becker & Steffen Blum Do 10:00-12:00 • Marlen Freimuth & Florian Stolle Di 16:00-18:00 • Juliane Heucke & Josephine Seyfahrt Mi 12:00-14:00 Themenübersicht 1 Literarizität 2 Zeichen und Referenz 3 Rhetorik 4 Narration 5 Autorschaft und sprachliches Handeln 6 Intertextualität und Intermedialität 1 »Literarizität« Was unterscheidet literarische Texte von anderen sprachlichen Äußerungen? 1 »Literarizität« Was unterscheidet literarische Texte von anderen sprachlichen Äußerungen? Diese Frage läßt sich nicht allgemein beantworten. Die Differenz zwischen literarischer Sprache und nichtliterarischer Sprache ist von Epoche zu Epoche und von Kultur zu Kultur verschieden. Unser heutiges Verständnis von der Besonderheit der Literatur unterscheidet sich etwa von dem, was noch im 18. Jahrhundert als eigentümliche Beschaffenheit literarischer Texte verstanden wurde. »Zeitalter der Aufklärung« (18. Jh.) Im 18. Jahrhundert sind die Ansprüche an die Literatur andere als die, die wir heute an sie stellen. Literatur sollte die Sinne ansprechen und erfreuen und zugleich eine Wahrheit vermitteln, die dem Leser zu moralischer Einsicht und zur Selbsterkenntnis verhilft. »Zeitalter der Aufklärung« (18. Jh.) Beispiel: Die Fabel Die Aufgabe der Fabel ist es, »eine Lehre ganz durchsichtig zu machen«. (Johann Jacob Breitinger: Critische Dichtkunst. Worinnen die Poetische Mahlerey in Absicht auf die Erfindung im Grunde untersuchet und mit Beyspielen aus den berühmtesten Alten und Neuern erläutert wird. Zürich 1740, S. 169f.) Johann Rudolf Schellenberg: Kupferstich zu Magnus Gottfried Lichtwers Fabel 'Der Fuchs' (1777) »Poetische Mahlerey«: Der Fuchs liest seine Geschichte UND sieht sein Bild. »Zeitalter der Aufklärung« (18. Jh.) Beispiel: Die Fabel »Wenn es der menschlichen Seele eine eigene, fortwährende Beschäftigung ist, sich Bilder zu schaffen, sie aus dem Chaos der Naturgestalten zu sondern, ihre Wirkungsart zu bemerken und solche mit einem Namen, den ihr der anschauende Sinn gab, zu bezeichnen: so konnte es unmöglich fehlen, daß nicht bald auch die äsopische Fabel entstehen mußte.« (Johann Gottfried Herder: Über Bild, Dichtung und Fabel. In: Sämtliche Werke XV. Berlin 1888, S. 539) Die Rolle der Dichtung im 18. Jh. Im 18. Jahrhundert war Literatur in besonderer Weise auf das menschliche Erkenntnisvermögen bezogen. Es galt als die Funktion der poetischen Sprache, alle unzulänglichen Abstraktionen zu vermeiden und uns die Wahrheit anschaulich, klar, einleuchtend und einprägsam vor Augen zu führen. Dichtung wurde verstanden als »poetische Mahlerey«, als ein Denken in Bildern. So ist auch einleuchtend, warum die Fabel bei den Aufklärern so beliebt war. Sie veranschaulichte eine Moral, die zugleich auch als Klartext ausgesprochen und der Erzählung hinzugefügt werden konnte. Viktor Šklovskij (1893-1984) • russischer Literatur- und Kunstwissenschaftler, Schriftsteller • Mitbegründer des russischen Formalismus Aufsatz: »Die Kunst als Verfahren« (1916) Ausgangsfrage: Ist Kunst Denken in Bildern? Šklovskij: »Die Kunst als Verfahren« (1916) zwei Grundannahmen, die nach Šklovskij FALSCH sind: 1. daß Literatur etwas durch Bilder unserem Verständnis nahebringen will 2. daß es Literatur darum geht, das Denken auf dem leichtesten Wege zu einem gewünschten Begriff zu bringen Šklovskij behauptet, daß Literatur WEDER Anschaulichkeit NOCH Eingängigkeit anstrebt – im Gegenteil! Šklovskij: »Die Kunst als Verfahren« (1916) Grundirrtum 1: Bildlichkeit »Viele meinen also immer noch, das Denken in Bildern [...] sei das Hauptmerkmal der Dichtung. Folglich müßten diese Leute erwarten, die Geschichte dieser, wie sie sagen, ›bildlichen‹ Kunst werde aus der Geschichte der Abwandlung des Bildes bestehen. Es erweist sich aber, daß die Bilder fast unbeweglich sind; unverändert wandern sie von Jahrhundert zu Jahrhundert, von Land zu Land, von Dichter zu Dichter. [...] Die Bilder sind vorgegeben, und in der Dichtung gibt es weit mehr Erinnerung an Bilder als ein Denken in ihnen.« (S. 5) Šklovskij: »Die Kunst als Verfahren« (1916) Grundirrtum 2: Eingängigkeit »Das Gesetz von der Ökonomie der schöpferischen Kräfte gehört ebenfalls zur Gruppe der allseits anerkannten Gesetze.« Es besagt: »›Der Wert eines Stils besteht namentlich darin, eine möglichst große Anzahl von Gedanken in eine möglichst kleine Anzahl von Worten zu fassen.‹« (S. 9, 11) Šklovskij: »Die Kunst als Verfahren« (1916) Grundirrtum 2: Eingängigkeit »Der Gedanke von der Ökonomie der Kräfte [...] ist möglicherweise richtig in einem Sonderfall der Sprache, nämlich bei der Anwendung auf die ›praktische‹ Sprache. Weil man sich über den Unterschied zwischen den Gesetzen der praktischen und der dichterischen Sprache nicht klar war, hat man diesen Gedanken auch auf letztere ausgedehnt.« (S. 11) Nach Šklovskij sind also Alltagssprache und Literatursprache voneinander zu unterscheiden! Šklovskij: »Die Kunst als Verfahren« (1916) ›praktische‹ Sprache ist wie alle Alltagshandlungen gekennzeichnet durch: - Routine Automatisierung Unaufmerksamkeit Unbewußtheit Tagebucheintrag von Tolstoj vom 29. Februar 1897 »Ich war dabei, in meinem Zimmer aufzuräumen, und als ich bei meinem Rundgang zum Sofa kam, konnte ich mich nicht mehr erinnern, ob ich es saubergemacht hatte oder nicht. Weil diese Bewegungen gewohnt und unbewußt sind, kam ich nicht darauf und fühlte, daß es unmöglich war, sich noch daran zu erinnern. Also, wenn ich es schon saubergemacht hätte und hätte es vergessen, d.h. wenn ich unbewußt gehandelt hätte, dann wäre es ganz genau so, als wäre es nicht gewesen. Wenn [...] das ganze komplizierte Leben bei vielen unbewußt verläuft, dann hat es dieses Leben gleichsam nicht gegeben.« Šklovskij: »Die Kunst als Verfahren« (1916) »So kommt das Leben abhanden und verwandelt sich in nichts. [...] Und gerade, um das Empfinden des Lebens wiederherzustellen, um die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen, existiert das, was man Kunst nennt. Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der ›Verfremdung‹ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert, denn der Wahrnehmungsprozeß ist in der Kunst Selbstzweck und muß verlängert werden; die Kunst ist ein Mittel, das Machen einer Sache zu erleben; das Gemachte hingegen ist in der Kunst unwichtig.« (S. 15) Tolstoj, »Leinwandmesser« »Die Worte ›mein Pferd‹ bezogen sich auf mich, ein lebendiges Pferd, und erschienen mir so seltsam wie die Worte ›meine Erde‹, ›meine Luft‹, ›mein Wasser‹. Aber diese Worte hatten auf mich einen ungeheuren Einfluß. Ich dachte unaufhörlich daran, und erst lange nach den allerverschiedensten Beziehungen zu Menschen verstand ich endlich die Bedeutung, die von den Menschen diesen seltsamen Worten zugeschrieben wird. Sie bedeuten folgendes: Die Menschen lassen sich im Leben nicht von Handlungen, sondern von Worten leiten. Sie lieben nicht so sehr die Möglichkeit, etwas zu tun oder nicht zu tun, wie die Möglichkeit, über verschiedene Gegenstände die zwischen ihnen ausgemachten Wörter zu reden.« Tolstoj, »Leinwandmesser« »Zum Beispiel die Wörter: meiner, meine, meines, die sie von verschiedenen Dingen sagen, von Wesen und Gegenständen, sogar von Erde, von Menschen und von Pferden. Für ein und dieselbe Sache vereinbaren sie, daß nur einer sagt: mein. Und wer von der größten Anzahl von Dingen nach diesem unter ihnen ausgemachten Spiel sagt: mein, der wird von ihnen für den Glücklichsten gehalten; weshalb es so ist, weiß ich nicht, aber es ist so.« Konsequenzen aus dem Verfahrensbegriff • Tolstojs Pferd macht seine Beobachtungen, daß »Menschen über verschiedene Gegenstände die zwischen ihnen ausgemachten Wörter reden«, weil er diese Wörter nicht versteht. • Nichtverstehen wird damit zur entscheidenden Herausforderung des literarischen Textes. • Es geht darum, nicht länger von dem auszugehen, was sich von selbst versteht. • Anstatt zu fragen: »WAS will der Autor damit sagen?« ist zu fragen: »WIE verfährt der literarische Text?« Texte und Folien im Netz unter: www.uni-erfurt.de/literaturwissenschaft/ (jeweils ab Dienstag nach der Vorlesung) Paßwort für die Texte: