Einführung in die Literaturwissenschaft

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Einführung in die
Literaturwissenschaft
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www.uni-erfurt.de/literaturwissenschaft/
Themenübersicht
1
Literarizität
2
Zeichen und Referenz
3
Rhetorik
4
Narration
5
Autorschaft und sprachliches Handeln
6
Intertextualität und Intermedialität
1
»Literarizität«
Was unterscheidet literarische Texte von anderen
sprachlichen Äußerungen?
Die Differenz zwischen literarischer Sprache und
nichtliterarischer Sprache ist von Epoche zu Epoche und
von Kultur zu Kultur verschieden.
Unser heutiges Verständnis von der Besonderheit der
Literatur unterscheidet sich etwa von dem, was noch im
18. Jahrhundert als eigentümliche Beschaffenheit literarischer Texte verstanden wurde.
»Poetische Mahlerey«: Die Aufgabe der Fabel ist es, »eine
Lehre ganz durchsichtig zu machen«. (Breitinger 1740)
Der Fuchs liest seine Geschichte UND sieht sein Bild.
Šklovskij: »Die Kunst als Verfahren« (1916)
In Abgrenzung zu einem Verständnis von Kunst als
»Denken in Bildern« (z.B. Breitingers »poetische
Mahlerey«) und in Abgrenzung von der Alltagssprache
betrachtet Viktor Šklovskij Literatur als Verfahren der
Verfremdung.
Besonders deutlich wird für Šklovskij dieses Verfahren,
wenn in Tolstojs »Leinwandmesser« aus der Sicht eines
Pferdes erzählt wird.
Konsequenzen aus dem Verfahrensbegriff
• Tolstojs Pferd macht seine Beobachtungen, daß
»Menschen über verschiedene Gegenstände die
zwischen ihnen ausgemachten Wörter reden«, weil er
diese Wörter nicht versteht.
• Nichtverstehen wird damit zur entscheidenden
Herausforderung des literarischen Textes.
• Es geht darum, nicht länger von dem auszugehen, was
sich von selbst versteht.
• Anstatt zu fragen: »WAS will der Autor damit sagen?« ist
zu fragen: »WIE verfährt der literarische Text?«
Tolstoj, »Leinwandmesser«: Tod des Pferdes
»Die Herde kam am Abend auf der Anhöhe vorüber, und
die Pferde, die am linken Rand gingen, sahen unten
etwas Rotes, an dem sich die Hunde eifrig zu schaffen
machten; darüber flogen Raben und Geier. Der eine
Hund hatte die Vorderbeine gegen den Kadaver
gestemmt, schlenkerte den Kopf hin und her und riß das
Stück, das er gerade gepackt hatte, mit einem
krachenden Geräusch ab. […]
Eine Woche später lagen bei dem Ziegelschuppen nur
noch der große Schädel und zwei Schenkelknochen,
alles andere war weggeschleppt worden. Im Sommer
nahm ein Bauer, der Knochen sammelte, auch den
Schenkelknochen und den Schädel mit und verkaufte
sie.«
Tolstoj, »Leinwandmesser«: Tod des Menschen
»Serpuchowskojs toter Leib, der in dieser Welt
umhergewandert war und gegessen und getrunken hatte,
wurde erst viel später der Erde übergeben. Weder seine Haut
noch sein Fleisch noch seine Knochen waren zu irgend etwas
nütze. […] Schon längst hatte ihn niemand mehr gebraucht,
schon längst war er allen zur Last geworden, aber die Toten,
die die Toten begraben, fanden es trotzdem nötig, diesem
sogleich in Verwesung übergehenden, aufgedunsenen Leib
eine schöne Uniform und schöne Stiefel anzuziehen, ihn in
einen schönen Sarg […] zu legen, […] ihn nach Moskau zu
bringen, dort vor langer Zeit bestattete menschliche Gebeine
wieder auszugraben, an just dieser Stelle diesen faulenden,
von Würmern wimmelnden Leib […] zu verbergen und alles
mit Erde zuzuschütten.«
Tolstoj, »Leinwandmesser«
Das Tier wird zu Lebzeiten gequält und erniedrigt, aber es ist
noch über seinen Tod hinaus nützlich.
Der Mensch wird schon zu Lebzeiten nicht gebraucht und
verursacht noch nach seinem Tod Kosten und Mühe.
Es geht hier nicht darum, WAS Tolstoj sagen will (etwa: »Der
Mensch ist zuweilen weniger wert als das Tier« oder
dergleichen), sondern darum, WIE sein Text verfährt: Er
verfremdet die gewöhnlich geltende Hierarchie von Mensch und
Tier. Anders als in der Tierfabel des 18. Jahrhunderts kann sich
der Leser nicht mehr in einer beispielhaften Gestalt, etwa dem
schlauen Fuchs, erkennen.
Zur Differenz von »poetischer Mahlerey« (z.B.
Tierfabel) und literarischer Verfremdung (z.B. Tolstoj)
unterschiedlicher Umgang mit kulturellen Konventionen:
Bei der Tierfabel geht es darum, bestehende Vorstellungen
von tierischen Charakteren heranzuziehen, um eine
moralische Wahrheit zu veranschaulichen.
Bei Tolstoj geht es darum, kulturelle Konventionen zu
unterbrechen, etwa die Sicht eines Tiers an die Stelle einer
menschlichen Perspektive zu setzen oder beides
miteinander zu vermengen. So werden Denk- und
Ausdrucksweisen kenntlich gemacht und in Zweifel
gezogen. Es geht um das Wie (»Kunst als Verfahren«).
Herta Müller: Niederungen (1984)
Die Straßenkehrer
Die Straßenkehrer haben Dienst.
Sie kehren die Glühbirnen weg, kehren die Straßen aus der
Stadt, kehren das Wohnen aus den Häusern, kehren mir
die Gedanken aus dem Kopf, kehren mich von einem Bein
aufs andere, kehren mir die Schritte aus dem Gehen.
Die Straßenkehrer schicken mir ihre Besen nach, ihre hüpfenden mageren Besen. Die Schuhe klappern mir vom Leib.
Ich gehe hinter mir her, falle aus mir heraus, über den Rand
meiner Vorstellungen.
»Die Straßenkehrer« nach Šklovskij
Vertraute Wörter und sprachliche Wendungen werden hier
so eingesetzt, daß sie sich auf ungewöhnliche, irritierende
Weise aufeinander beziehen.
Das »Ich«, von dem bei H. Müller die Rede ist, gerät an
»den Rand meiner Vorstellungen«.
Verschiedene Wirklichkeitsebenen scheinen durcheinander
zu geraten – wie das Tafelbild eines Mannes mit einem
Schwamm, der das Tafelbild auswischt.
Mit Šklovskij könnte man hier von Verfahren der
Verfremdung sprechen.
Russischer Formalismus
Absage an den unmittelbaren Sinnbezug des
dichterischen Wortes
Entblößung literarischer Verfahren
Hauptvertreter u.a.:
Viktor Šklovskij (1893-1984)
Boris Ėjchenbaum (1886-1959)
Jurij Tynjanov (1894-1943)
Roman Jakobson (1896-1982)
Roman Jakobson: »Linguistik und Poetik«
(1960)
»Die Sprache muß in bezug auf die ganze Vielfalt ihrer
Funktionen untersucht werden.«
»Der SENDER macht dem EMPFÄNGER eine MITTEILUNG.
Um wirksam zu sein, bedarf die Mitteilung eines KONTEXTS,
auf den sie sich bezieht [...]; erforderlich ist ferner ein KODE,
der ganz oder zumindest teilweise dem Sender und dem
Empfänger [...] gemeinsam ist; schließlich bedarf es auch noch
eines KONTAKTS, [...] der es den beiden ermöglicht, in
Kommunikation zu treten und zu bleiben.« (S. 88)
Jakobson: »Linguistik und Poetik«
Kontext
Mitteilung
Sender -----------------------------------------------------Empfänger
Kontakt
Kode
Jakobson: »Linguistik und Poetik«
Jeder sprachlichen Äußerung liegen nach Jakobson diese
sechs Komponenten zugrunde. Sie gehen mit bestimmten
sprachlichen Funktionen einher. Die Verschiedenheit von
Äußerungen ergibt sich daraus, daß sie diese
Funktionen jeweils anders gewichten.
Literatur ist für Jakobson gekennzeichnet durch ein
besonderes Gewichtungsverhältnis der sechs
verschiedenen sprachlichen Funktionen.
Sprachliche Funktionen nach Jakobson
Kontext (referentielle Funktion)
Mitteilung (poetische Funktion)
Sender ----------------------------------------------------Empfänger
(emotive Funktion)
(konative Funktion)
Kontakt (phatische Funktion)
Kode (metasprachliche Funktion)
Sprachliche Funktionen nach Jakobson
• referentielle Funktion: Bezugnahme auf einen Kontext
• emotive Funktion: bringt die Haltung des Sprechers zum
Gesprochenen zum Ausdruck (zum Beispiel in
Interjektionen)
• konative Funktion: Appell an den Empfänger; läßt sich
nicht in den Kategorien wahr/falsch erfassen
• phatische Funktion: zielt auf die Gewährleistung des
Kontakts mit dem Empfänger (»Hallo, hören Sie mich?«)
• metasprachliche Funktion: Thematisierungen des Kodes
(»Ich verstehe nicht was Sie meinen.«)
• poetische Funktion: Ausrichtung auf die Botschaft
Die poetische Funktion nach Jakobson
Vergleich der poetischen Funktion mit der referentiellen
Funktion:
Während die referentielle Funktion sich auf Kontexte einer
Mitteilung bezieht, gilt die poetische Funktion der Art der
Mitteilung selbst.
Im einen Fall geht es um das Was, im anderen Fall um das
Wie einer Botschaft (»Dichotomie der Zeichen und Objekte«).
Jede Mitteilung hat diese Dimensionen. Ihre Gewichtungen
sind aber jeweils verschieden.
Die poetische Funktion nach Jakobson
»Jeder Versuch, die Sphäre der poetischen Funktion auf
Dichtung zu reduzieren oder Dichtung auf die poetische
Funktion einzuschränken, wäre eine trügerische Vereinfachung. Die poetische Funktion stellt nicht die einzige
Funktion der Wortkunst dar, sondern nur eine vorherrschende und strukturbestimmende und spielt in allen
anderen sprachlichen Tätigkeiten eine untergeordnete,
zusätzliche, konstitutive Rolle. Indem sie das Augenmerk
auf die Spürbarkeit der Zeichen richtet, vertieft diese
Funktion die fundamentale Dichotomie der Zeichen und
Objekte.« (S. 92-93) (Hervorhebung von mir)
Die poetische Funktion nach Jakobson
Die Zweiteilung von Zeichen und Objekten wird durch die
poetische Funktion vertieft, indem sie zwei grundsätzliche
sprachliche Operationen hervorkehrt, die jeder verbalen
Äußerung zugrundeliegen.
1.
2.
Selektion: Aus einer Vielzahl von Zeichen, die einander
ähnlich sind (Prinzip der Äquivalenz), muß ausgewählt
werden (z.B. Kind oder Baby oder Knirps)
Kombination: Die ausgewählten Zeichen müssen in eine
Reihenfolge gebracht werden. Daraus ergibt sich eine
Sequenz (z.B. ein Satz).
Die poetische Funktion nach Jakobson
»Die poetische Funktion projiziert das Prinzip der
Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der
Kombination. Die Äquivalenz wird zum konstitutiven
Verfahren der Sequenz erhoben.« (S. 94)
Das heißt: Wenn man generell einen Satz dadurch bildet,
daß man aus Gruppen von einander ähnlichen/äquivalenten
Worten jeweils eins auswählt und dann die ausgewählten
Worte zu einem Satz kombiniert, so führt die poetische
Funktion dazu, daß sich in der Abfolge des Satzes selbst
Ähnlichkeiten ergeben.
Beispiel für die poetische Funktion:
der Reim
Das zu Sagende zu sagen
ist dem Künstler aufgetragen.
Wahre Größe freilich zeigen
jene, die selbst dies ver
(Robert Gernhardt)
Die poetische Funktion nach Jakobson
Die poetische Funktion beschränkt sich nicht auf Literatur,
sondern sie liegt jeder sprachlichen Äußerung zugrunde,
auch den nicht literarischen – allerdings in geringerem
Maße.
Literatur zeichnet sich dadurch aus, daß die poetische
Funktion deutlich akzentuiert ist. Dies geschieht, indem
›Resonanzen‹ in der Abfolge von Worten oder Zeichen
hervorgebracht werden, etwa in der Weise des Reims.
Dadurch wird der Abstand zwischen Zeichen und Objekten,
die Kluft zwischen Worten und Dingen betont.
Texte und Folien im Netz unter:
www.uni-erfurt.de/literaturwissenschaft/
(jeweils ab Dienstag nach der Vorlesung)
Paßwort für die Texte:
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