Einführung in die Literaturwissenschaft

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Einführung in die
Literaturwissenschaft
Was sind ›sprachliche Mittel‹?
Rhetorik ist traditionell die Lehre von der Beredsamkeit. Sie
unterweist in die Techniken und Mittel, mit deren Hilfe bestimmte
Gedanken (res) mit geeigneten Worten (verba) einem jeweiligen
Publikum (bei Gericht, bei einer politischen Versammlung, bei
einem feierlichen Anlaß) zu Gehör gebracht werden.
Aus dieser Perspektive betrachtet, sind Tropen (›Wendungen‹) und
Figuren (griech. ›schemata‹, ›Haltungen‹) sprachliche Mittel. Sie
dienen einem Zweck, den der Redner verfolgt.
Schmuck (ornatus) (vgl. Göttert, S. 44-64)
in Einzelwörtern
in Wortverbindungen
TROPEN
(»Wendungen«)
FIGUREN
(griech. schemata, »Haltungen«)
Wortfiguren
Ersetzung
Hinzufügung
Auslassung
Metapher
Katachrese
Metonymie
Synekdoche
Ironie
Emphase
Hyperbel
Periphrase
Antonomasie
Litotes
Anapher
Ellipse
Epipher
Zeugma
Paronomasie
Polyptoton
Synonymie
Polysyndeton
Asyndeton
Sinnfiguren
Umstellung
Hyperbaton
Parallelismus
Antithese
Chiasmus
Lizenz
Apostrophe
rhetor. Fragen
Konzession
Anheimstellung
Evidenz
Hypotypose
Personifikation
Prosopopoiia
Allegorie
Die Figürlichkeit der Sprache
Bei Quintilian hat sich allerdings gezeigt, daß ›Rhetorik‹, sofern sie
von Tropen und Figuren handelt, mit mehr zu tun hat als nur mit
dem Bereich der Eloquenz, der besonders kunstvollen Rede.
Wollte man Tropen und Figuren in dieser Weise einschränken,
dann müßte es so etwas geben wie ›schmucklose‹ Rede.
Es gibt jedoch keine Rede ohne Tropen und Figuren. Die Sprache
selber ist figürlich.
Das zeigt sich insbesondere bei der Funktionsweise der Metapher
als einer Katachrese. Sie bezeichnet durch einen übertragenen
Ausdruck etwas, für das es keinen eigentlichen Ausdruck gibt
(Beispiel: »Tischbein«).
Die absolute Metapher ist kein Mittel
Metaphern, die komplexe Vorstellungen zum Ausdruck zu bringen
vermögen, welche nicht in ›eigentliche‹ Begriffe überführt werden
können, nennt Blumenberg ›absolute Metaphern‹ (Beispiel: »das
Buch der Natur«).
Solche Metaphern müssen nicht explizit zur Sprache kommen,
sondern können latent, im ›Hintergrund‹, Vorstellungszusammenhänge strukturieren.
Kleists Anekdote »Der Griffel Gottes« führt eine solche
Hintergrundmetaphorik vor.
Eine absolute Metapher ist kein ›sprachliches Mittel‹, sondern geht
dem Denken voraus.
Genau in diesem Sinne ist auch die Figürlichkeit der Sprache
generell eine Voraussetzung des Denkens. Gedanke (›res‹) und
Wort (›verbum‹) sind nicht zu trennen.
Themenübersicht
• Literarizität: Was unterscheidet literarische Texte
von anderen sprachlichen Äußerungen?
• Zeichen und Referenz: Wie stellen literarische Texte
den Bezug sprachlicher Äußerungen auf
›Wirklichkeit‹ dar?
• Rhetorik: Was sind ›sprachliche Mittel‹?
• Narration: Wie entstehen Geschichten?
• Autorschaft und sprachliches Handeln: Wie greift
Schreiben in Wirklichkeit ein?
• Intertextualität und Intermedialität: Wie beziehen
sich literarische Texte auf andere Texte / andere
Medien?
Wie entstehen Geschichten?
1. Grundformen des Erzählens
Die Metapher erscheint bei Quintilian als eine elementare Funktion
der Sprache, mit der Bezeichnungsmöglichkeiten hergestellt werden.
Die Sprache ist ›poetisch‹, oder genauer: ›poietisch‹ (von griech.
poiesis = das Machen, Hervorbringen).
Eine solche ›produktive‹ Dimension sprachlicher Äußerungen ist
auch auf anderer Ebene gegeben: beim Erzählen.
Es lassen sich Grundformen des Erzählens unterscheiden, die es
ermöglichen, Zusammenhänge von Ereignissen, das heißt
Geschichten herzustellen.
In einem ersten Schritt führt die Frage nach dem Entstehen von
Geschichten insofern auf das Thema der Gattungen.
André Jolles: »Einfache Formen« (1930)
Grundformen des Erzählens, die nicht weiter zurückführbar, nicht
weiter zerlegbar sind, nennt der Literaturwissenschaftler André
Jolles ›Einfache Formen‹. Dazu zählen:
Legende
Sage
Mythe
Rätsel
Spruch
Kasus
Memorabile
Märchen
Witz
Jolles, »Einfache Formen«: Sprache als Arbeit
Für Jolles sind Einfache Formen »jene[] Formen [...], die sich,
sozusagen ohne Zutun eines Dichters, in der Sprache selbst ereignen,
aus der Sprache selbst erarbeiten« (S. 10).
›Sprache‹ wird von Jolles als ›Arbeit‹ begriffen. Dabei ist die Tätigkeit
des Dichters, die poetische Werke hervorbringt, nur die letzte von
mehreren produktiven Instanzen.
Die erste Instanz ist die »benennende Arbeit« der Sprache. Sie erzeugt
Sachverhalte.
Die zweite Instanz schafft eigenständige Gestalten, Fiktionen. Dies ist
die Ebene der Einfachen Formen.
Die dritte Instanz gibt Deutungen dieser Fiktionen. Dies ist die Arbeit
der literarischen Werke, die einem Autor zugeschrieben werden
können (Beispiele: Verarbeitung des Mythos bei Homer, der FaustLegende bei Goethe etc.).
Legende
Als erste Einfache Form nennt Jolles die mittelalterliche
Heiligenlegende. Sie ist der deutlichste Fall einer ›schöpferischen‹
elementarliterarischen Form:
»Was uns zunächst an der Weise auffällt, wie ein Heiliger – wir
wollen sagen – zustande kommt, ist, daß er – ich muß mich wieder
vorsichtig ausdrücken – selbst so wenig dabei beteiligt ist.« (S. 34)
Ein Heiliger ist jemand, der nach seinem Tode in einem komplizierten
rechtlich Verfahren der Kanonisation von der Kirche zunächst selig
und dann heilig gesprochen wird. Anlaß für die Kanonisation sind die
Geschichten, die, ebenfalls nach seinem Tode, über jemanden
kursieren, und die besagen, daß er ein vorbildlich tugendhaftes
Leben geführt hat, daß er Wunder bewirkt hat und daß er auch nach
seinem Tode Wunder bewirken kann.
Die Heiligenlegende ermöglicht es, den Heiligen anzurufen und ihn
nachzuahmen. Sie erschafft den Heiligen.
Legende
»Der Heilige, in dem als Person die Tugend sich vergegenständlicht, ist
eine Figur, in der seine engere und seine weitere Umgebung die imitatio
erfährt. Er stellt tatsächlich denjenigen dar, dem wir nacheifern können,
und er liefert zugleich den Beweis, daß sich, indem wir ihn nachahmen,
die Tätigkeit der Tugend tatsächlich vollzieht.« (S. 36)
»Die abendländisch-katholische Legende [...] gibt das Leben des
Heiligen, oberflächlich gesagt seine Geschichte – sie ist eine Vita. Diese
Vita als eine sprachliche Form hat aber so zu verlaufen, [...] daß sich in
ihr dieses Leben noch einmal vollzieht. Es ist nicht damit getan, daß sie
Ereignisse, Handlungen unparteiisch protokolliert, sondern sie muß
diese in sich zu der Form werden lassen, die sie von sich aus noch
einmal verwirklicht.« (S. 39)
»Die Vita, die Legende überhaupt zerbricht das ›Historische‹ in seine
Bestandteile, sie erfüllt diese Bestandteile von sich aus mit dem Werte
der Imitabilität und baut sie in einer von dieser bedingten Reihenfolge
wieder auf. Die Legende kennt das ›Historische‹ in diesem Sinne
überhaupt nicht, sie kennt und erkennt nur Tugend und Wunder.« (S. 40)
Legende
Die Legende erzählt das Leben einer Person so, daß sie streng
nach Beispielhaftigkeit – den Kriterien des Wunders und der
Tugendhaftigkeit – selektiert. Dabei verwirklicht sie narrativ das
Prinzip der Wiederholung: indem sie Tugendhaftigkeit nachahmbar
macht und indem sie Wunder so darstellt, daß sie als jederzeit
wieder möglich erscheinen.
Im Weitererzählen der Legende werden die Beispiele von
Tugendhaftigkeit und von Wundern vermehrt.
So kann etwa ein Märtyrer aus dem 3. Jahrhundert schließlich zum
Heiligen Georg werden, der die Jungfrau vor dem Drachen errettet
etc.
Sage
Die Sage ist für Jolles diejenige einfache Erzählform, in der sich eine
Geschichte nach dem Selektionskriterium der Genealogie, des
Familenzusammen-hanges konstituiert.
»Nirgends sind die Leidenschaften und die Schicksale einer Familie so
unentwirrbar und so sprechend, wie im Nibelungenliede. Hier ist alles
Familie. Gibichungen, Walisungen, Nibelungen, Burgunden sind Familien.
Aber auch die Hunnen sind es, sie bilden kein feindliches Volk, sie bilden
Etzels Stamm. [...] [Etzel] ist Ehemann, er ist Familienhaupt, er ist durch
sein Eheweib an den Zwist einer anderen Familie gebunden, oder er ist
lüstern nach dem Schatz, in dem sich Familienbesitz vergegenständlicht. –
[...] [H]ier trifft [...] alles zusammen, was zur Familie gehört: Besitz und
Fehde, Blutrache, Verwandtenmord, Brudertreue, Eifersucht, Frauenzank,
Beischlaf«. (S. 85f)
Sage
Das Nibelungenlied ist für Jolles nicht selbst Sage, aber es sind
Sagen in das Nibelungenlied eingegangen.
Jolles betont immer wieder, daß Einfache Formen wie die Sage an
das Weitererzählen, die mündliche Tradierungen gebunden sind
und daß man sie als Text immer nur in verarbeiteter, reflektierter, in
größere Zusammenhänge eingebundener Gestalt finden kann.
Jolles verfolgt die Sage bis hin zu modernen Ausprägungen der
sogenannten ›Familiensaga‹ (eigentlich eine Doppelung), etwa bis
hin zu Emile Zolas vielbändigem Romanzyklus Les RougonMacquart (18-18). Für das 20. Jh. könnte man auch an
entsprechende Filmformate denken.
Auch in den Aussagen des Darwinismus (»Der Mensch stammt
vom Affen ab«) erkennt Jolles Auswirkungen der Sage wieder.
Mythe
Beispiel: Genesis 1, 14-18
»Da sprach Gott: Es soll Leuchten entstehen an der Veste des
Himmels, um den Tag und die Nacht voneinander zu trennen, und
sie sollen dienen zu Merkzeichen und (zur Bestimmung von)
Zeiträumen und Tagen und Jahren. Und sie sollen dienen als
Leuchten an der Veste des Himmels, um die Erde zu beleuchten.
Und es geschah so. Da machte Gott die beiden großen Leuchten:
die große Leuchte, damit sie bei Tag die Herrschaft führe, und die
kleine Leuchte, damit sie bei Nacht die Herrschaft führe, dazu die
Sterne. Und Gott setzte sie an die Veste des Himmels, damit sie
die Erde beleuchteten und über den Tag und über die Nacht
herrschten und das Licht und die Finsternis voneinander trennten.
Und Gott sah, daß es gut war.«
Mythe
Jolles’ Kommentar zu Genesis 1, 14-18:
»Was haben wir hier vor uns? Schon in der Übersetzung hören wir,
daß hier keine reine Aussage, keine Erzählung oder einfache
Schilderung vorliegt. [...] Es ist etwas vorangegangen, und dieses
Etwas war eine Frage, waren viele Fragen. [...] Was heißen diese
Lichter des Tages und der Nacht? Was bedeuten sie uns [...]? Wer
hat sie dahin gestellt ? [...] Und nun geht dem Fragenden eine
Antwort zu. Diese Antwort ist so, daß keine weitere Frage gestellt
werden kann, so, daß im Augenblicke, da sie gegeben wird, die
Frage erlischt: Diese Antwort ist entscheidend, sie ist bündig. [...]
Wo sich nun in dieser Weise aus Frage und Antwort die Welt dem
Menschen erschafft – da setzt die Form ein, die wir Mythe nennen
wollen.« (S. 96-97)
»Mythe und Orakel gehören zusammen, sie gehören zur gleichen
Geistesbeschäftigung. Beide sagen wahr.« (S. 98)
Einfache Form und ›Geschichte‹
Legende
Narrativ
des Heiligen
Sage
Narrativ
der Familie
Mythe
Narrativ
des Ursprungs
Narrativ
der Historie
Memorabile
Memorabile
»Der Freitod des Kommerzienrats S.
Das Motiv für den Selbstmord des Kommerzienrates Heinrich S.,
der sich gestern abend in seiner Wohnung, Kaiserallee 203,
erschoß, ist in pekuniären Schwierigkeiten zu suchen. S., der aus
Turkestan stammt, besaß früher eine Wodka-Fabrik, die er jedoch
bereits vor längerer Zeit verkauft hatte. Der 62jährige hatte schon
vor längerer Zeit Selbstmordabsichten geäußert und den gestrigen
Abend, an dem seine Frau sich im Konzert befand, zur Ausführung
benutzt. Der Knall des Revolvers wurde von Asta Nielsen gehört,
die die daneben gelegene Wohnung innehat. Frau Nielsen
benachrichtigte dann als Erste Arzt und Polizei.« (S. 200)
Memorabile
Warum wird in diesem Beispiel erzählt, daß die Frau im Konzert
war? Für den Ablauf der Ereignisse ist dies nicht wichtig.
 Der Kontrast ›Verzweiflung‹ und ›Kunstgenuß‹ ist geeignet, die
Sache, um die es geht, hervorzuheben: den Selbstmord.
Warum wird der Filmstar Asta Nielsen erwähnt? Auch dies ist für
den Ablauf der Ereignisse nicht wichtig.
 Es ergibt sich aber daraus eine Kontrastierung von ›Spiel‹ und
›Realität‹,
»[A]us freien Tatsachen verwirklicht[] sich eine gebundene
Tatsächlichkeit. […] In diesem Sinne können wir sagen, daß das
Memorabile die Form ist, in der sich für uns allerseits das Konkrete
ergibt.« (S. 211)
Jolles spricht von »Dokumenten des Geschehens […] wo es zu
äußerster Tatsächlichkeit zusammengewachsen ist« (S. 212).
Einfache Form (Jolles) und
›Realitätseffekt‹ (Barthes)
Jolles‘ Überlegungen zum Memorabile erinnern an Barthes‘ Theorie
des Realitätseffekts. In beiden Fällen geht es um die Frage der
Referenz. Dennoch gibt es Unterschiede.
Jolles zeigt, daß selbst das ›Tatsächliche‹ einer einfachen narrativen
Form bedarf, durch die es geschaffen wird: durch Herstellung eines
Zusammenhangs zwischen Einzelheiten. Jolles orientiert sich an der
Kategorie des Sinns.
Barthes hingegen zeigt, wie sich Erzählungen den Anschein des
›Realen‹ verleihen, indem sie im Gegenteil Unzusammenhängendes
sprachlich exponieren. Barthes orientiert sich dabei eher an
Schreibweisen der Irritation des Sinns.
Texte und Folien im Netz unter:
www.uni-erfurt.de/literaturwissenschaft/
Paßwort für die Texte:
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