Von der biologischen zur kulturellen Evolution

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Sprache und Selbstorganisation :
Von der biologischen zur kulturellen
Evolution der Sprache
Wolfgang Wildgen (Universität
Bremen)
Linguistisches Kolloquium im Rahmen des „Festivals der Sprachen“,
Teerhof, Bremen, 18.09.2009
1
Inhalte

1
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
3

4

5

6
7


Was heißt „Selbstorganisation“?
Inwieweit ist die Sprache, zumindest in einigen
Bereichen ein selbstorganisiertes System?
Szenarien einer biologischen Selbstorganisation
der menschlichen Sprachfähigkeit
Exkurs: Die mögliche Struktur einer
Protosprache
Kulturelle Sprachevolution und
Selbstorganisation
Modelle der „Selbstorganisation“
Schlussbemerkungen
2
Was heißt „Selbstorganisation“?
Das Gegenteil von Selbstorganisation ist eine simple kausale Kette, die
von einem Erstbeweger ausgehend das Endergebnis (das
beobachtbar ist) erzeugt.
Etwas metaphysischer, aber nach dem gleichen Schema: Gott bewegt
den äußersten Himmel, dieser den nächsten usw.; in der sublunaren
Welt wird der Mensch bewegt.
Wenn man sich auf einige zentrale Merkmale konzentriert, dann heißt
„Selbstorganisation“:
 Das Ganze zeigt eine einfache Dynamik trotz der unüberschaubaren
Vielfalt einzelner Teile und Prozesse.
 Die kausalen Wirkungen erfolgen in viele Richtungen gleichzeitig
und ihre Effekte überlagern sich, wobei neue Strukturen
hervortreten (Emergenz).
 Es gibt Kreisprozesse, d. h. die Wirkungen werden mit den Ursachen
zurückgekoppelt; dabei können neutrale Vermittler (so genannte
Katalysatoren) auftreten.
3
Selbstorganisationsprozesse in der
Sprache: Ein Überblick
1.
2.
Evolutionäre Prozesse. Sieht man von der Hypothese
einer göttlichen Detailsteuerung ab, so kommen
eigentlich nur Selbstorganisationsprozesse in Frage.
Dabei herrschen allerdings komplizierte Randbedingungen, die im Rahmen einer modernen
Evolutionstheorie zu beschreiben sind.
Die romantische Sprachwissenschaft versuchte, Sprachen
wie Organismen zu behandeln und sogar die Evolutionstheorie Darwins zur Beschreibung der Ausdifferenzierung
von Sprachfamilien heranzuziehen (siehe die Stammbäume
von Sprachen und Spezies bei Schleicher 1863). Die
Selbstorganisationstheorie kann die Gründerintuition der
Philologen des frühen 19. Jh.s in einem geeigneten Rahmen
realisieren.
4
3.
4.
Der Spracherwerb wurde schon seit den Arbeiten von
Piaget als Selbstorganisationsprozess verstanden (er
spricht von „Formen kognitiver Selbstregulationen, die
flexibel und konstruktiv sind“ (Furth, 1972: 275).
In der neueren komparatistischen Forschung stehen
Grammatikalisierungsprozesse im Vordergrund,
Untersuchungen zum Sprachwandel „in progress“
behandeln das Zusammenwirken von inneren und
äußeren Kräften beim Sprachwandel oder wählen die
„hidden hand“-Metapher, die ein historischer Vorläufer
der Selbstorganisationstheorien ist. Die Anwendung
von Modellen der Selbstorganisation in diesem Bereich
ist aber noch kaum entwickelt.
5
In diesem Vortrag nicht behandelt:
5.
6.
In der Lautproduktion und -rezeption spielen sich komplexe,
hochkooperative Prozesse ab. In diesem Bereich können gut
entwickelte Modelle der Selbstorganisation angewandt werden
(vgl. Kelso, 1997 und Oudeyer 2006).
Ziemlich einfach lässt sich der Selbstorganisationscharakter bei
der spontanen Erzeugung („Aktualgenese“) sprachlicher
Strukturen beobachten. Dazu gehören sowohl Innovationen im
Lexikon als auch Makroformen wie die Erzählung und der
Diskurs. Bei der Reifung des Gehirns spielen sich komplizierte
Selbstorganisationsprozesse ab. Es ist keineswegs so, dass das
Wachstum direkt durch den genetischen Code gesteuert ist,
vielmehr werden Neuronen "im Überschuss" produziert, deren
Überleben dann durch lokal sehr unterschiedliche Mechanismen
reguliert wird, wodurch eine plastische und funktional
adaptierte Struktur entsteht. Diese Struktur des Gehirns ist die
Basis für eine interaktive, soziale Formung des Denkens und der
Sprache in den Prägungsphasen.
6
Szenarien einer biologischen
Selbstorganisation der menschlichen
Sprachfähigkeit
Während die Abtrennung der zum Menschen
führenden Evolutionslinie von derjenigen der
heutigen Primaten (Schimpansen, Orang-Utan,
Gorilla) fast 10 Millionen Jahre (MJ) zurückliegt,
sind menschenähnliche Formen mit dem Typ des
Homo erectus ab 2 MJ belegt; genetische
Berechnungen an heute lebenden menschlichen
Populationen lassen einen gemeinsamen
Ausgangspunkt der genetischen Differenzierung
vor etwa 400.000-200.000 J.v.h. vermuten.
7
Drei große Phasen der Migration und
biologischen/kulturellen Evolution
Zeitraum
Biologische Migration
Steinzeit
ab 2 MJ
v.h.
Entwicklung des Homo habilis aus den
Australopithicinen, Migration des
Homo erectus nach Eurasien.
nach 60.000
bis zum
Ende der
Eiszeit
12.000 v.h.
Neolithikum
ab 10.000;
Metallzeit
Symbolische Migration
Homo habilis stellt
Steinwerkzeuge her;
Verbreitung der
Protosprache und der
Steinindustrien.
Der moderne Menschen
Ausbreitung der rezenten
(Speziesbildung um 300.000 v.h.)
Sprache und von
verlässt Afrika; er verdrängt die
Kultur/Kunst/Technik/Myth
Neandertaler (bis 25.000 v.h.).
os; Entstehung
großräumiger Kulturen;
Besiedlung Amerikas.
Migration von größeren Populationen;
Entwicklung von Ackerbau und
Konzentration und Vermischung in
Viehzucht; Übergang zur
Metallherstellung, Sprachgünstigen Regionen (z.B. im Niltal).
und Kulturmischungen.
8

Szenario A: Das Szenario einer Evolution der Sprache
als Nebeneffekt (spandrel) anderer evolutionärer
Prozesse. Die Evolution betrifft zuerst kognitive
Fähigkeiten (im Wesentlichen Motorik und
Wahrnehmung) im Zusammenhang der Entwicklung des
aufrechten Ganges, des frontal orientierten Gesichtes
und der Mobilität und verfeinerten Kontrolle der Hände.
Diese Entwicklungen wurden von einem Gehirnwachstum
begleitet, das seinerseits eine Vergrößerung des Beckens
(besonders bei Frauen) und eine Art regulärer
„Frühgeburt“ des Menschen als notwendige
Anpassungen voraussetzte. Als Nebeneffekt dieser wohl
unter Selektionsdruck entstandenen Veränderungen
entstand ein Sprachpotential (das bei der Selektion nicht
selbst eine Rolle gespielt haben muss).
9

Szenario B: Sprache als Ergebnis von Isolation und
genetischem Drift, das Bottle-Neck-Szenario. Auf der Basis
des bereits in der Tierkommunikation verfügbaren
Verhaltensrepertoires und einer großen Variation dieses
Repertoires konnten sich isolierte Teilgruppen auf eine sehr
spezielle Variante der Lautkommunikation konzentrieren.
Dieser Prozess könnte sich wiederholt haben, wobei nach
der Isolation jeweils eine „sprachstarke“ Variante überlebt
und sich ausgebreitet hätte. Wenn die anderen isolierten
Gruppen aussterben, kann eine iterierte Bottle-NeckSituation relativ schnell die „sprachstarke“ Variante
durchsetzen. Ist das Merkmal der Sprachkapazität einmal
ausreichend ausgeprägt, kann es als Fitness-Vorteil im
normalen darwinistischen Mutation-/Selektions-Mechanismus
konsolidiert bzw. optimiert werden. Als Koevolution müssen
Gehirnwachstum und lange Prägungs- bzw. Lernphasen
parallel entstehen, da sonst die zerebralen und sozialen
Mindestbedingungen für den Spracherwerb nicht gegeben
sind.
10

Szenario C: Sprache als Ergebnis einer schnellen
sexuellen Selektion, das „runaway“-Szenario. Eine
schnelle, auch „run-away“-Evolution genannt, könnte
durch eine innerartliche Koevolution weiblicher
Präferenzen (auch männlicher) und der Förderung
passender Merkmale durch sexuelle Selektion erfolgt
sein. Es kann zu einem „Wettrüsten“ – etwa zwischen
Männchen – kommen. Die sexuelle Selektion geht aber
nicht nur vom (passiven) Weibchen aus. Wird etwa die
Sozialstruktur derart verändert, dass das Männchen
mehr in die Brutpflege investieren muss, wird die
Auswahl geeigneter Männchen reduziert, d.h. die
Weibchen müssen „aufrüsten“ und um die „besten“
Männchen konkurrieren, so dass deren Präferenzen als
Kriterien der sexuellen Selektion zum Tragen kommen.
11

Szenario D: Die Explosion der Nachahmung wird als
Basis eines schnellen Anstiegs der Repräsentationsformen angenommen, die durch die Entfaltung der
Sprachfähigkeit stabilisiert und vermehrt werden. Dieses
Szenario geht davon aus, dass eine bestimmte neuronale
Ausstattung charakterisiert durch die Existenz von
„Spiegel-Neuronen“ das Beobachten fremden Verhaltens,
die Übertragung auf den eigenen Körper und damit das
Fremdverstehen und Verhaltenslernen potenziert. Die
Anlage dazu existiert bereits bei Primaten, ermöglicht in
der weiteren Entwicklung jedoch eine neue Dimension
sozialen Lernens und damit die Herausbildung von
„Traditionen“. Die Sprache wäre das Medium, welches
zur besseren Organisation dieser Traditionen benötigt
wird.
12

Szenario E: Die Lautsprache als Folge der Evolution
menschlicher Werkzeuge und als Konkurrenz zu einer
„Hand-Sprache“. Dieses funktionalistische Szenario
wurde bereits von Condillac (1746) unter der Überschrift
„Le langage d’action et celui des sons articulés
considérés dans leur origine“ skizziert. Durch die
neueren Forschungen zur Sprachähnlichkeit der
Taubstummensprachen bekam diese vielfach kritisierte
Theorie neue Nahrung. Armstrong, Stokol und Wilkox
(1995) sprechen von einer Ablösung des „hand-talk“
durch einen “speech-alone-talk“. Die „Hand-Sprache“
kann man außerdem mit der Entwicklung von
Steinwerkzeugen seit etwa 2 MJ und deren
Differenzierung bis zum Aufkommen der
Metallbearbeitung in Zusammenhang bringen. Sie ist
zeitlich zumindest koextensiv mit dem möglichen
Zeitraum der Sprachevolution.
13

Szenario F: Sprache als Medium kultureller Symbole. Unter
der Annahme, dass die kognitive Evolution im Wesentlichen
sprachunabhängig erfolgt sei, wäre eine relativ späte
Ausbildung der lautsprachlichen Kommunikation vorstellbar.
In diesem Fall könnte man anstelle der Kommunikation und
Sozialstruktur von Primaten (etwa von Schimpansen) die
Sozialstruktur traditioneller Stammeskulturen, z.B. in
Südafrika, Nordsibirien oder Australien, als Ausgangsbasis
nehmen. Livingstone (1983) geht davon aus, dass der Vorteil
für die Entwicklung einer hochspezialisierten menschlichen
Laut-Sprache nicht ausreichend gewesen wäre. Dagegen sei
die Raumaufteilung konkurrierender Gruppen, wenn sie ohne
ausgedehnte Pufferzonen und ständige Aggression
auskommen wollen, auf ein symbolisches Medium
angewiesen. Livingstone verdeutlicht das Prinzip an der
Kariera-Population in Nordaustralien. Es herrscht ein
exogames Prinzip, d.h. die Frauen werden mit benachbarten
(klar definierten) Gebieten ausgetauscht. Die Territorien
selbst sind durch den Besitz von Totem-Orten symbolisch
besetzt und werden durch eine sakrale Instanz stabilisiert.
14
Exkurs: Die mögliche Struktur
einer Protosprache



Proto-Phonetik (Phonologie), wobei die auditive von
der produktiven Phonetik/Phonologie zu unterscheiden
ist,
Protopragmatik und Protosemantik (Umsetzung des
erweiterten ökologischen und sozialen Wissens in eine
Form der sozialen Kommunikation).
Protosyntax (sowohl von Wörtern als auch von
Sätzen); der Ausgangspunkt ist die Entstehung von
Morphemfolgen bzw. das Anwachsen des Lexikons
(z.B. jenseits von 30-50 Wörtern). Die Protosemantik
und Protosyntax bilden eventuell eine noch nicht
differenzierte Protosemantax.
15
Protophonetik (auditiv und produktiv)
MacNeillage und Davis (2000) gehen von einfachen
Bewegungen der Backenmuskulatur und der Lippen aus,
wie sie für das Kauen, Beißen, für Lippenbewegungen
(Saugen; bei Schimpansen auch Lippengestik) vor der
Sprache verfügbar waren.
Silben einer Protosprache




CV – koronaler Konsonant + frontaler Vokal, z.B. te–te–te
CV – labialer Konsonant + zentraler Vokal , z.B. ba–ba–
ba
CV – dorsaler Konsonant + hinterer Vokal , z.B. go–go–
go
CVC – labialer Konsonant – Vokal – koronaler Konsonant: ,
z.B. bat, bod, pet, …
16
Protosemantik
Hierarchie der Situationsdistanz
1.
2.
Das indexikalische Zeichen (z.B. Rauch für Feuer; Donner
für Blitzschlag) beinhaltet zwar eine zeitliche und räumliche
Distanz (Blitz und Donner werden zeitlich oft viele Sekunden
getrennt wahrgenommen, da das Licht schneller ist als der
Schall). Im Prinzip sind kausale Verbindungen aber schon
auf der Stufe der höheren Primaten einsehbar.
Das ikonische Zeichen bezieht sich auf eine dem Benützer
interne Ähnlichkeitsmatrix, löst sich also vom raumzeitlichen
Kontext; außerdem können die Ähnlichkeitsdimensionen aus
einer großen Vielfalt an Möglichkeiten ausgewählt werden.
In Bereichen wie der Form- und Prozesswahrnehmung
können die Raster allerdings so spezies-typisch einheitlich
sein, dass auch die ikonische Beziehung stark motiviert ist.
17
Das Symbol schließlich maximiert die
Unabhängigkeit von Situation und Individuum,
ist minimal oder gar nicht motiviert und
entspricht dem Prototyp des arbiträren
Zeichens bei Ferdinand de Saussure.
Die jeweiligen Auswahlchancen, die sich vom
Index über das Ikon zum Symbol in ihrem
Informationsgehalt steigern, haben als Preis,
dass sie im Gedächtnis verstetigt werden
müssen, und dass dieses Gedächtnis sozial
geteilt werden muss, damit die Verständigung
zuverlässig ist.
3.
18
Protopragmatik und kulturelle
Techniken

Für die Protopragmatik ist die kognitive Planung
und Ausführung komplexer Handlungen wichtig.
Diese motorischen Programme sind die mögliche
Basis der Beherrschung komplexer symbolischer
Gestalten, z.B. in der „Sprache“ komplexe Wörter,
Sätze, Texte. Aus der Pragmatik komplexer zeitlich
geordneter Gestalten könnten sich semantischsyntaktische Muster, wie sie auch morphologisch
komplexe Wörter, Sätze und Texte aufweisen,
entwickelt haben.
19
Die präziseren Abschlagtechniken des Homo
erectus (in seiner weiteren Evolution) sind
gegliedert und beinhalten bis zu 50 einzelne
Schritte. Diese Technik wurde neben der
Verarbeitung von Holz und Knochen zur Grundlage
von sog. „Industrien“, d.h. es wurde große Serien
gleichartiger Objekte hergestellt.
 Beim Cro-Magnon-Menschen kommen sehr kleine
Instrumente (etwa Pfeilspitzen, Nadeln) hinzu; die
Technik des Abdrückens der Kanten erlaubt
außerdem schärfere Instrumente bzw. deren
Nachschärfung.
Erst im Neolithikum kommen das Schleifen von Stein
(nicht in Tasmanien) und dann natürlich die
Metalltechniken (Gold, Silber, Kupfer, Bronze, Eisen
usw.) hinzu.

20
Protosyntax
In vielen (minimalistischen) Sprachverwendungen sind
verzichtbar :
 Rekursivität (wie Mehrfachattribute und wiederholte
Subordinationen).
 Positionelle Flexibilität im Sinne der Transformationsgrammatik.
Als zentrale Eigenschaften einer Protosyntax bleiben:
 Struktur: Der Satz ist keine zufällige Abfolge von
Elementen; es gibt Regeln der Satzordnung (die
Techniken können verschieden sein).
 Hierarchie: Es gibt mehr als eine Ebene, auf der solche
Strukturen (siehe oben) existieren.
21
Von der biologischen zur
kulturellen Selbstorganisation

Die Sprachfähigkeit als solche wurde nicht mehr modifiziert,
da jede Sprache von allen heutigen Menschen im Kindesalter
erlernbar ist. Die weitere „Evolution“ betrifft in erster Linie die
kulturelle Organisation und die weiteren bzw. abgeleiteten
symbolischen Formen: Religion (Mythos),
Wissenschaft/Technik, Kunst und spezielle Sprachformen, wie
Schriftsprachen, neue Medien usw. In diesem Kontext stellt
sich die Frage: Sind Veränderungen der sozialen
Organisation, wie sie etwa die paläolithische Höhlenmalerei
(37-16.000 J. BP) oder die neolithische Revolution mit
Ackerbau und Viehzucht mit sich brachten, oder auch die
Organisation der frühen Reiche in Mesopotamien und
Ägypten (ab 5000 BP) wirklich „Evolutionen“, welche im
Kulturellen die biologische Evolution fortsetzen?
Wendet man diese Fragestellung auf jetzt stattfindende und
beobachtbare Prozesse an, stößt man auf die negative Antwort, das
von Labov diskutierte Darwin-Paradox:
 „The evolution of species and the evolution of language are identical
in form, although the fundamental mechanism of the former is
absent in the latter“ (Labov, 2001: 15)
Gemäß einer bereits kurz nach Darwins Schrift (1859) von August
Schleicher (1863) formulierten These verhalten sich Sprachen
scheinbar wie Spezies, d.h. sie erzeugen „genetische Stammbäume“.
Wörter und sprachliche Konstruktionen werden verdrängt, ersetzt
(ausgelesen). Es ist aber die fast einhellige Meinung moderner
Typologen (Humboldt sprach wie Herder noch von einer
Höherentwicklung der flektierenden Sprachen), dass sich Sprachen
insgesamt in ihrer Leistungsfähigkeit nicht unterscheiden, also nicht
direkt oder nachweisbar einem Adaptations- oder Selektionsdruck
unterliegen. Greenberg (1959: 69) sagt:
 „Taking linguistic change as a whole, there seems to be no discernible
movement toward greater efficiency such as might be expected if in
fact there were a continuous struggle in which superior linguistic
innovations won out as a general rule.“
23

Spätestens in den Hochkulturen Ägyptens und Mesopotamiens
gab es eine Schicht von Priestern, Schriftkundigen und
Gelehrten, durch die symbolische Formen, wie der Mythos, die
Schriftsprache und die Kunst, gezielt gestaltet wurden, d.h. es
gab Pläne und Absichten. Allerdings sind deren Akteure
wiederum viele und sie handeln insgesamt als Teilsystem
eines größeren kulturellen Systems. Die Summe ihrer
Entscheidungen muss deshalb jeweils in ein Gleichgewicht mit
vielen Kräften gebracht werden und die Bedingungen
verändern sich in historischer Zeit. So kam es z.B. beim
Wechsel der Dynastien (und der Hauptstädte) in Ägypten
jeweils zu religiösen und künstlerischen Umbrüchen. Echnaton
versuchte eine religiöse Revolution in Richtung eines
Monotheismus (als Sonnekult) und scheiterte, während
vergleichbare monotheistische Tendenzen von Moses nach
dem Auszug aus Ägypten in Palästina verwirklicht werden
konnten. Die Schriftsysteme der mesopotamischen und
ägyptischen Kulturen wurden von den Seevölkern (z.B. den
Phöniziern, später den Griechen) adaptiert und schließlich zur
Alphabetschrift umgeformt, die sich dann in vielen Varianten
über die Welt ausbreitete.
24
Selbstorganisation in der
Kreolgenese

In der Kreolgenese einer Sklavenhalter- oder
Plantagengesellschaft steht einer Mehrheit nicht organisierter (da
aus vielen Ethnien und Sprachen stammender), meist sehr jungen
und deshalb kulturell schwachen Sklaven eine Minderheit von
Europäern gegenüber, von denen außerdem nur wenige mit den
Sklaven in intensive Kommunikation treten (so etwa Missionare
oder Mitglieder von staatlichen Kommissionen zur Kontrolle der
Kolonisation). In dieser Situation kann eine kleine Gruppe
halbwegs zweisprachiger Sklaven, die zwischen Kolonisatoren und
Sklaven und zwischen Neuankömmlingen und bereits in der
Kolonie sozialisierten Sklaven vermitteln, eine Schlüsselrolle
einnehmen. Sie sind quasi der Kristallisationspunkt, an dem sich
eine Vielfalt unstabiler Behelfssprachen (auf beiden Seiten) zu
einem brauchbaren Kommunikationsinstrument formt, das dann
als Sprachangebot von den folgenden Generationen weiter
ausgebaut und konsolidiert wird.
25

In einer anderen ebenfalls typischen Kolonialsituation
findet der Kontakt nur in begrenzten Situationen (z.B.
am Arbeitsplatz, etwa im Hafen) statt (siehe das ChinaCoast Pidgin). Die Muttersprachen der Arbeiter und ihre
Ursprungskultur werden von dem Erwerb der
Zweisprache (des Pidgin) nur unwesentlich beeinflusst
(etwa über Entlehnungen). In vielen Fällen entstehen die
Städte aber erst dadurch, dass eine Handelszone (ein
Hafen) geschaffen wird. Die aus dem Hinterland
einströmenden Bewohner etwas in Papua Neuguinea
haben keine gemeinsame Sprache und eines (oder
mehrere bei eine Konkurrenz von Städten) der
vorübergehend entstandenen Pidgins wird zum Kreol
ausgebaut. Dies ist die Situation, welche von der
Standardhypothese: Pidgin > erweitertes Pidgin > Kreol
abgedeckt wird.
26
Die Entstehung von Kreolsprachen als
Muster der Organisation von
Sprachsystemen
Aus den Englischen „by and by“ entstanden folgende
Formen:
 baimbai – temporales Adverb vor dem Verb
 bai – Futurindikator /em bai I go / = ich werde
gehen
 Reduzierung /em bi-i go / = ich werde gehen
Sankoff und Laberge (1973) konnten Eltern und ihre
Kinder in der Entwicklung des Tok Pisin, einer nach
der Unabhängigkeit von Papua Guinea zum Kreol
(schließlich zur Nationalsprache) entwickelten
Kontaktsprache, beobachten.
27
Die Kinder folgen ihren Eltern in der Tendenz
und verstärken diese lediglich.

Korrelation
der Kinder
und Eltern
bei der
Akzentreduktion der
FuturMarkierung
bai im Tok
Pisin.

vgl. Labov,
2001: 425
28
Selbstorganisationsprozesse in
der Sprachgeschichte

Es galt lange als akzeptiert, dass die historische Linguistik
eine maximale Zeit-Tiefe von 8 000 bis 10 000 Jahren hat, da
zu viel Rauschen in den Daten sei, um zuverlässig weiter
zurück zu gelangen. Immerhin wurden Sprachfamilien wie
das Eurasiatische (Greenberg) oder gar das Nostratische
(Dolgopolsky) vorgeschlagen, die jenseits dieser Grenze
liegen. Genetische Analysen haben zudem für die
Rekolonisation Europas nach der letzten Eiszeit aus einem
Refugium in Südfrankreich/Nordspanien die Zeitspanne
zwischen 15 000-10 000 angesetzt. Die Erstbesiedlung
Amerikas und damit der Ursprung der von Greenberg
Amerind genannten Sprachfamilie liegt auch jenseits der
10 000-Jahre-Grenze (Erstbesiedlung 15-50 000 J. v.h.; vgl.
Cavalli-Sforza, 1996: 81). Abb. 2 zeigt Renfrews Hypothese
einer Ausbreitung der franko-kantabrischen Bevölkerung nach
der letzten Eiszeit.
29
Langzeitentwicklungen und
Rekonstruktionen
Ausbreitungswege
einer frankokantabrischen
Bevölkerung von
15 000-10 000 J.v.h.
(vgl. Renfrew, 2000:
478).
Auf sie folgen nach der
neolithischen Revolution
in Kleinasien
Ausbreitungsgradienten
von Südosten nach
Westen und von
Nordosten nach Westen.
30
Karte der ersten
Hauptkompo-nente
der Gen-Variation in
Europa (nach
Cavalli-Sforza
2001: 116) als sput
einer Migration von
Südosten nach
Westeuropa.
Parallel zu diesem genetische Gradienten könnten sich
indo-europäische Sprachen nach Westeuropa
ausgedehnt haben (Hypothese von Cavalli-Sforza).
Ein zweiter
Gradient führt aus
dem Nordosten
nach Nordeuropa
31
Gibt es „Fortschritte“ in der Sprachgeschichte
der letzten Jahrtausende?
Vorschläge von Bichakjian (2002)
Obstruenten ersetzen glottalisierte Konsonanten,
 Lange und kurze Vokale ersetzen Laryngale (der Grund
wäre die leichtere neuromuskuläre Kontrolle der
Artikulation),
 Verlust des Duals und Abbau von Genusmarkierungen,
 Ersatz von Aspektmarkierungen durch Tempusmarkierungen,
 Bevorzugung der Subjekt-Kategorie mit Passivierung
gegen andere (Ergativ-Konstruktionen),
 Bevorzugung von Kopf-Erst- gegenüber Kopf-LetztPositionen.

32
Universalien des Sprachwandels
und Grammatikalisierungsprozesse
Da die Grammatikalisierung ein Prozess des Verlustes
(semantischer) Information ist, ist sie gerichtet und
irreversibel. Gleichzeitig muss der Verlust (dem ein
organisatorischer Gewinn für das grammatische System
entspricht) kompensiert werden. Der Sprachwandel stellt
sich somit als eine komplexe Koppelung von Prozessen
auf verschiedenen Ebenen mit Erhaltung der
Gesamtinformation dar. Längerfristig kann solch ein
zyklischer Ausgleichsprozess aber zur funktionalen
Umgestaltung des Systems führen.
 Wichtiger als die allgemeinen Verlustprozesse sind
Prozesse, die das Gesamtsystem längere Zeit in einem
stationären Fließgleichgewicht bleibt.

33
Zwei Typen von Ressourcen
a) Starre Strukturen. Sie halten ein
Grundinventar von Kategorien stabil, für die
jeweils Sprachformen gefunden werden müssen.
Man kann von einer tiefenkategorialen Stabilität
der Sprache sprechen (Position von Seiler).
 Kontextabhängige pragmatische Strukturen, z.B.
die Skala: Ich (Sprecher) du/er (Hörer) oder ein
Inventar von Sprechakt-Typen (SearleHypothese).

34
Fazit zum Sprachwandel
Die Selbstorganisation des Sprachwandels hat mindestens zwei
Ebenen:
(1) die des Systems, das im Wesentlichen restrukturiert wird und
dazu ein Potential hat;
(2) die der Sprachgemeinschaft, die sich in ihrer Zusammensetzung
durch Migration veränderter kann und durch den Generationenwechsel eine ständige Variationsquelle aufweist, deren Folgen
sozial kanalisiert werden (Selektion).
Das Potential wird einerseits durch die Sprachfähigkeit, andererseits
durch die langfristige Systementwicklung bestimmt. Der Wandel
hat Kosten (z. B. das Verwischen von Bedeutungsunterschieden
durch den Lautwandel oder den Verlust von Lexemen bei der
Grammatikalisierung). Diese können kompensiert werden;
allerdings können auch Situationen entstehen, in denen das
semantische und pragmatische Potential (die Gesamtinformation)
verändert wird.
35
Modelle der „Selbstorganisation“
1.
Die Position einer abgeschlossenen Selbstbezüglichkeit, die dem
klassischen Strukturalismus (F. de Saussure, L. Hjelmslev) implizit
ist. Demnach wäre etwa das System Sprache ein geschlossenes
System, das sich zwar unter äußeren Einflüssen selbst neu
organisiert und einen Grad der Ökonomie und Ordnung
(Symmetrie, Regelhaftigkeit) anstrebt, insgesamt aber nicht aus
größeren Systemzusammenhängen hervorgeht oder bezüglich
solcher emergent ist. Charakteristisch für die Position, die auch
Chomsky seit Jahrzehnten hartnäckig vertritt, ist die Weigerung,
Fragen zur historischen (sozialen, kulturellen) Genese oder gar der
Evolution zu stellen oder zu behandeln. Lediglich der
Spracherwerb, als Eintritt des Kindes in das bestehende System, ist
begrenzt relevant. Dass die Kinder dabei partiell die Sprache neu
erfinden, wird ausgeschlossen; Phänomene, wie die Kreolgenese,
wo eine neue Sprache entsteht, werden als Effekt einer
Biogrammatik verstanden (vgl. Bickerton, 1981).
36
2.
Die Morphogenese-Position, die René Thom in
Anlehnung an den Biologen Charles Waddington
vertreten hat und die dem Begriff der
Selbstorganisation, wie ihn kybernetisch inspirierte
Forscher, z.B. von Foerster u.a., vertreten, gegenüber
steht. Thom nimmt an, dass es sehr grundlegende
Formgebungsprinzipien gibt, die sozusagen „hinter“ den
Darwin’schen Mechanismen wirksam sind und welche
mögliche Evolutionsrouten vorbestimmen. Die
Darwin’sche Evolution wählt quasi über einen
Zufallsgenerator und einen Selektionsfilter (der sich
selbst sehr variabel mit den ökologischen Nischen
verändert) aus der durch Morphogenese beschränkten
Alternativenmenge aus. Die längerfristig
hervortretenden Muster spiegeln aber weniger den
Zufallsprozess oder die Umgebungsvariation, sondern
eher die Beschränkungen für mögliche Evolutionswege
wider.
37
3.
Das Modell für die Evolution von Leben von Eigen und
Schuster (1969) stellt das Konzept des Hyperzyklus ins
Zentrum. Prozesse der Katalyse und der Autokatalyse
ermöglichen eine schnelle und radikale Selbstorganisation auf
molekularer Ebene. Inwieweit dieses molekulare Modell auf
höhere Lebensformen und die Sprache übertragbar ist, muss
geprüft werden. Letztlich muss der Begriff der Katalyse
soweit verallgemeinert werden, dass er auf Phänomene der
Sprache und Kultur anwendbar ist. Die Quasi-Dinglichkeit der
symbolischen Medien, die Sprache als akustisches Ereignis,
das Bild als visueller Input, könnte wie ein Katalysator
wirken, insofern diese „Dinge“ in der Kommunikation nicht
verbraucht werden. Die Art, wie Zeichen und Symbole
zwischen Geist und Welt vermitteln, d.h. inwiefern sie eine
vermittelnde Funktion haben, beide Ebenen in einem Dritten
vereinen, muss genauer aufgeklärt werden.
38
Schlussbemerkungen
Viele dem Selbstorganisationsansatz entgegen gesetzte
Fragestellungen haben sich in den letzten Jahrzehnten als
Sackgassen erwiesen und bieten damit eine indirekte
Bestätigung für die Notwendigkeit eines Selbstorganisationsansatzes:
2. Dass die Sprache keine nachträglich eingesetzte Ausstattung
des Menschen durch Gott ist, hat bereits Herder (1770)
überzeugend dargestellt. Sie ist auch keine vom angeborenen
Sprachorgan physikalisch determinierte Struktur (wie uns
Chomsky lange glauben ließ).
3. Der Sprachwandel verläuft nicht nach ewigen Gesetzen, die in
Physik und Physiologie ihr Fundament haben (siehe die
Lautgesetze der Junggrammatiker um 1870). Saussure hat
aus dem Scheitern des Programms der Junggrammatiker eine
voreilige Konsequenz gezogen, und geglaubt, der
Sprachwandel sei wissenschaftlich gar nicht zu erklären.
1.
39
Eine kurze Bibliographie













Bichakjian, Bernard H., 2002. Language in a Darwinian Perspective. Lang, Bern.
Cavalli-Sforza, Luigi Luca, 2001. Gene, Völker und Sprachen. Die biologischen Grundlagen
unserer Zivilisation, dtv, München.
Chaudenson, Robert, 2003. La Créolisation: Théorie applications, implications. L’Harmattan,
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Dunbar, Robin, 2003. The Origin and Subsequent Evolution of Language, in: Morten H.
Christiansen und Simon Kirby (Hg.), Language Evolution. Oxford U.P., Oxford (Kap. 12: 219234).
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Language, in: Eric de Grolier (Hg.), Glossogenetics. The Origin and Evolution of Language.
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