III. Themen der Sozialpsychologie (3): Prosoziales Verhalten 1. Begriffsdefinitionen 2. Erklärungsebenen 3. Helfen in Notfällen © Gerd Bohner 2001 1. Begriffsdefinitionen • Hilfeverhalten: Soziale Interaktion, die Kosten für eine Person (HelferIn) verursacht und einer anderen Person (HilfeempfängerIn) Nutzen bringt. • Prosoziales Verhalten: Hilfeverhalten, bei dem die helfende Person nicht aus beruflicher Verpflichtung handelt. • Altruismus: Prosoziales Verhalten, bei dem die helfende Person die Perspektive der Hilfe empfangenden Person einnimmt und nicht eigennützig handelt. © Gerd Bohner 2001 • Gibt es echten Altruismus? Kontinuum: egoistisch altruistisch © Gerd Bohner 2001 2. Erklärungsebenen • Warum helfen Menschen? 4 Analyseebenen / Erklärungsansätze: – – – – biologische individualistische interpersonale sozial-systemische • Biologischer Ansatz: Erhöhung der "inclusive fitness" durch – Hilfe für Verwandte – reziproken Altruismus (oder besser: reziprokes Helfen) vor allem unter den Bedingungen Vertrauen, Bekanntheit, Beständigkeit der Interaktion) © Gerd Bohner 2001 • Individualistische Erklärungen: Wer hilft? – Stimmung: Gute Stimmung erhöht meist die Hilfsbereitschaft. Prozesse: - stimmungskongruentes Denken - "mood maintenance„ - Stimmung als Information - Ansatz Schlechte Stimmung erhöht manchmal die Hilfsbereitschaft. Prozesse: - erhöhte Selbstaufmerksamkeit (Wicklund) - Schuldgefühle nach Schädigung eines anderen - Helfen, um neg. Stimmung zu beseitigen ("negative state relief model", Cialdini) © Gerd Bohner 2001 – Persönlichkeitsmerkmale: - soziale Verantwortung (wird mit Fragebögen gemessen) - internale Kontrollüberzeugungen (wahrgenommene Kontingenz von Verhalten und Konsequenzen) - Empathie - Glaube an eine gerechte Welt (Lerner, 1980) kann Hilfeverhalten fördern ("rationale Reaktionsweise") oder hemmen (durch Abwertung der Opfer) © Gerd Bohner 2001 – Empathie als situationale Variable: Definition von Empathie: - eine kognitive Komponente: Perspektivenübernahme - zwei emotionale Komponenten: persönliche Betroffenheit ("distress") und empathische Besorgnis ("concern") Batson: Empathie-Altruismus-Hypothese - Voreinstellung: Personen sind egoistisch und helfen nur, wenn keine Fluchtmöglichkeit besteht - Empathie Altruismus - Perspektivenübernahme ist notwendig, sonst entsteht persönlicher Stress, der egoistisch abgebaut wird © Gerd Bohner 2001 - Batsons Theorie gut belegt, wenn Kosten für Helfende gering. - Alternativerklärungen (Cialdini): Gefühl des "Einsseins" © Gerd Bohner 2001 • Interpersonale Erklärungen: In welcher Art von sozialer Beziehung wird geholfen? – Soziale Austauschtheorien: Motiv der Nutzenmaximierung • Austauschbeziehungen: Equity-Norm = individueller Nutzen für jeden Partner proportional zum Beitrag • Enge Beziehungen: Nicht eigener Nutzen, sondern Nutzen für Partner oder Beziehung wird maximiert; Equality-Prinzip (Kelley & Thibaut, 1978: prosoziale Transformation). – Unterschiede beider Beziehungsarten • Art und Dauer der Beziehung • In Austauschbeziehungen nur Hilfe bei erwarteter Rückzahlung • In sozial motivierten Beziehungen mehr Empathie © Gerd Bohner 2001 • Sozial-systemische Erklärungen: In welchem gesellschaftlich-kulturellen Kontext wird geholfen? – Rollen, Traditionen, Werte, soziale Normen können Hilfeverhalten fördern – Fairnessnormen: Menschen helfen eher, wenn sie sich selbst fair behandelt glauben (Miller, 1977) – Fast alle Religionen fordern prosoziales Verhalten Zum letzten Punkt eine Schlüsseluntersuchung, die sich mit Variablen der Religiosität und Helfen in einem Notfall befasste. © Gerd Bohner 2001 3. Helfen in Notfällen • Warum helfen Menschen häufig nicht? • These von Darley & Batson (1973): Situative Einflüsse sind stärker als Normen und religiöse Überzeugungen. • Experiment: Theologiestudenten bereiten eine kurze Rede vor. Auf dem Weg zu dem Raum, in dem sie die Rede halten sollen, begegnen sie einer Person, die offensichtlich Hilfe benötigt. 2 Faktoren: Zeitdruck (hoch, mittel, niedrig) Thema der Rede (Berufsperspektiven, "Gleichnis vom Samariter") aV: Wird geholfen oder nicht? © Gerd Bohner 2001 Priming einer Verhaltensnorm und Zeitdruck als Determinanten des Hilfeverhaltens 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 Thema: 80 50 Berufsperspektiven Gleichnis vom Samariter 42 33 25 0 hoch niedrig mittel Zeitdruck Quellen: Darley & Batson (1973); Greenwald (1975) • Interpretation der Ergebnisse nach Darley & Batson: Hypothese wird voll gestützt, da allein die ZeitdruckVariable signifikanten Einfluss hatte. • Kritik: Obwohl nicht statistisch signifikant, weisen die Ergebnisse in Richtung eines Einflusses der aktivierten Norm. Teststärke zu gering, um einen Einfluss auszuschließen (Greenwald, 1975). [generelles Problem bei Forschungshypothesen, die Nullhypothesen sind!] • Dennoch zeigt die Studie, dass situative Bedingungen entscheidenden Einfluss ausüben. © Gerd Bohner 2001 • Bekanntestes Forschungsprogramm zu situativen Einflüssen: Latané & Darley (1970, 1976) • Problem: Apathie von Zuschauern bei Notfällen ("bystander nonintervention"); spektakuläres Beispiel: Mordfall Kitty Genovese • These: Bedeutender situativer Faktor ist Anzahl der Zuschauer. Je mehr Zuschauer, desto weniger ist jeder Einzelne bereit zu helfen (Verantwortungsdiffusion). • Schlüsselstudie hierzu: Latané & Rodin (1969) Männliche Versuchsteilnehmer arbeiten an Fragebogen; Versuchsleiterin im Nebenzimmer hinter unverschlossener Falttür; simulierter Sturz von einem Stuhl – Schmerzenslaute, Vorfall dauert 130 Sekunden © Gerd Bohner 2001 • Experimentelle Variation der Situation: Vp arbeitet – – – – allein in Gesellschaft eines Eingeweihten, der sich passiv verhält mit einer fremden Mit-Vp mit einer befreundeten Mit-Vp • aV: Wird geholfen oder nicht? © Gerd Bohner 2001 © Gerd Bohner 2001 © Gerd Bohner 2001 Weitere Ergebnisse zur Anzahl von Zuschauern: Hilfe bei vermeintlichem epileptischen Anfall (Darley & Latané, 1968) • Fazit: Deutlicher Einfluss der Anzahl von Zuschauern, aber auch andere Faktoren wichtig (Verhalten der anderen, Beziehung zwischen Zuschauern) • Verhalten potentieller Helfer von Latané und Darley konzipiert als sequentieller Entscheidungsprozess in 5 Phasen © Gerd Bohner 2001 1. Wird eine potentielle Notfallsituation bemerkt ? Nein keine Hilfe Ja 2. Frage der Interpretation: "wirklich ein Notfall?" Nein keine Hilfe Ja 3. Frage der Übernahme von Verantwortung: "Bin ich für Hilfeleistung verantwortlich?" Nein keine Hilfe Ja 4. Frage der eigenen Kompetenz: "Bin ich zum Helfen in der Lage?" Nein keine Hilfe oder indirekte Hilfe Auch wenn die Person eigene Kompetenz wahrnimmt, stellt sich noch 5. die Frage der Handlungsinitiierung. © Gerd Bohner 2001 • Hierbei wichtig: 3 Prozesse 1. sozialer Einfluss ("pluralistische Ignoranz"), d.h. Situstion ist mehrdeutig, man deutet sie als harmlos, da andere dies offensichtlich auch tun (sozialer Vergleich) 2. Verantwortungsdiffusion 3. Bewertungsangst (vor Fehldeutung der Situation oder vor inadäquater Hilfeleistung) • Die Stärke aller drei Faktoren ist eine direkte Funktion der Anzahl anwesender Personen. © Gerd Bohner 2001 Anwendung: Was tun in einem Notfall? Aus Erklärungen für Hilfeverhalten und vor allem für unterlassene Hilfeleistung lassen sich folgende Maximen ableiten (nach Smith & Mackie, 2000): 1. Ambiguität reduzieren und Notwendigkeit der Hilfe klarmachen. 2. Selbstkonzept der Hilfsbereitschaft in anderen stärken. 3. Identifikation mit denen stärken, die Hilfe benötigen. 4. Normen etablieren, die Hilfeverhalten unterstützen. 5. Normen in der Situation aktivieren. © Gerd Bohner 2001 6. Verantwortung individuell fokussieren. Konsequenzen des Hilfeerhaltens • Man definiert sich selbst als schwach und hilfsbedürftig, Bedrohung für das Selbstwertgefühl • Auch wenn für den Hilfe leistenden eine Ungerechtigkeit beseitigt worden ist, entsteht für den Hilfeempfänger oft eine neue Ungerechtigkeit, Pflicht zur reziproken Hilfeleistung © Gerd Bohner 2001