II. Theoretische Traditionen und ihre Menschenbilder (1): Der Mensch als rationalisierendes vs. rationales Wesen 1. Das Menschenbild als Merkmal zur Unterscheidung kognitiver Theorien 2. Konsistenztheorien 3. Selbstwahrnehmungstheorie 4. 5. Weiterentwicklung und Integration Bezug zu Grundprinzipien der SP © Gerd Bohner 2001 1. Merkmal zur Unterscheidung kognitiver Theorien: Das Menschenbild "Wozu dient das Denken?" 1. Antwort: "der Erkenntnis der Wahrheit" Mensch als rationales Wesen (oder sogar "intuitiver Wissenschaftler") 2. Antwort: "der Vermeidung von Schmerz (bzw. Steigerung der Lust)" Mensch als rationalisierendes Wesen © Gerd Bohner 2001 • Zwei prototypische Theorien: – Theorie der kognitiven Dissonanz (Leon Festinger, 1957) – Theorie der Selbstwahrnehmung (Daryl Bem, 1967) • Dissonanztheorie (DT): Mensch als rationalisierendes Wesen • Selbstwahrnehmungstheorie (SWT): Mensch als rationales Wesen • Konkurrierende Erklärungen • Paradigmenwechsel in der SP ("kognitiv" = nicht-motivational) © Gerd Bohner 2001 2. Konsistenztheorien • Grundkonzepte kognitiver Konsistenztheorien: – kognitive Elemente – Beziehungen zwischen Elementen – Streben nach Konsistenz • Beispiel Balancetheorie (Heider, 1946, 1958) – p-o-x Triaden – balancierte und unbalancierte Zustände – Grundmotivation zur Herstellung von Balance © Gerd Bohner 2001 p-o-x Triaden (nach Heider, 1958) • Theorie der kognitiven Dissonanz (Festinger, 1957) Annahme: Gedankeninhalte (= Kognitionen) stehen zueinander in drei Arten von Beziehungen: – irrelevante Beziehung – konsonante Beziehung – dissonante Beziehung Festingers Definition von Dissonanz: "Two things are in a dissonant relationship if, considering these two alone, the obverse of one element would follow from the other ... because of logic, because of cultural mores, because of things one has learned, and perhaps in other senses too." © Gerd Bohner 2001 Zustand kognitiver Dissonanz = unangenehm Dissonanzreduktion Dazu quantitative Beschreibung der kognitiven Dissonanz: N (diss. Kog.) N (kons. Kog.) + N (diss. Kog.) Strategien der Dissonanzreduktion: (a) Addition konsonanter Kognitionen (b) Subtraktion dissonanter Kognitionen (c) Substitution von Kognitionen © Gerd Bohner 2001 Streben nach kognitiver Konsistenz: Gedanken des Kandidaten Gysi FR: Wer, wenn nicht Gysi, wäre der beste Regierungschef für Berlin? Gysi: Da will mir zurzeit partout keiner einfallen. FR: Was wäre Ihre erste Handlung, wenn Sie eine schwere Wahlschlappe kassierten? Gysi: Mir die Vorteile zu überlegen, die das mit sich bringt. Quelle: Frankfurter Rundschau, 6.10.2001 © Gerd Bohner 2001 • Klassisches Experiment: Festinger & Carlsmith (1959) "Induced compliance" Paradigma: Vp wird dazu gebracht, entgegen ihrer Einstellung zu handeln. – Vp bearbeitet langweilige Aufgabe; beschreibt diese später einer "anderen Vp" als unterhaltsam und lehrreich Dissonanz zwischen Einstellung und Verhalten – Unabhängige Variable: Höhe der Belohnung (die Vp erhält für ihre Lüge entweder 1$ oder 20$) – Kontrollgruppe: keine Lüge, keine Belohnung – Abhängige Variable: Einstellung zur langweiligen Aufgabe © Gerd Bohner 2001 • Gegenüberstellung von Belohnungstheorie und Dissonanztheorie – Hypothese nach der Belohnungstheorie: Einstellungsänderung ist wahrscheinlicher bei hoher Belohnung – Konkurrierende Hypothese nach der Dissonanztheorie: Einstellungsänderung ist wahrscheinlicher bei geringer Belohnung Warum ? © Gerd Bohner 2001 Daten aus Festinger & Carlsmith (1959) © Gerd Bohner 2001 • Zahlreiche konzeptuelle Replikationen – Variante induzierter Einwilligung: das "forbidden toy" Paradigma (Aronson & Carlsmith, 1963) • Weitere Anwendungsbereiche: – Aufwandsrechtfertigung • Initiationsrituale (Aronson & Mills, 1959) • "Schlank durch Denksport" (Axsom & Cooper, 1985) – Dissonanz nach Entscheidungen © Gerd Bohner 2001 3. Die Selbstwahrnehmungstheorie • Formuliert als Alternative zur Dissonanztheorie – "Rationale" Prozesse statt Rationalisierung – Motivationale Annahme zur Erklärung nicht notwendig • Sparsamere Erklärung: – Personen erschließen aus ihrem Verhalten (und den Bedingungen, unter denen dieses auftritt,) ihre Einstellungen, genau wie sie die Einstellungen anderer aus deren Verhalten erschließen. • Experiment von Bem: – "Interpersonale Replikation" von Festinger & Carlsmith © Gerd Bohner 2001 4. Weiterentwicklung und Integration • Kontroverse um die notwendigen Bedingungen für Einstellungsänderung bei induzierter Einwilligung Präzisierung der Vorhersagen der Dissonanztheorie Notwendig sind: • Entscheidungsfreiheit • negative Folgen des Verhaltens • Erregungszustand, der auf die EinstellungsVerhaltens-Diskrepanz attribuiert wird © Gerd Bohner 2001 • "Schlüsselstudie" zur Rolle der Entscheidungsfreiheit: Linder, D.E., Cooper, J., & Jones, E.E. (1967). Decision freedom as a determinant of the role of incentive magnitude in attitude change. Journal of Personality and Social Psychology, 6, 245-254. [s.a. Blackwell Reader, pp. 268-283] Problem: Scheinbar widersprüchliche Befunde zum Einfluss von Belohnung – Festinger & Carlsmith (1959): mehr EÄ bei niedriger als bei hoher Belohnung – Rosenberg (1965): mehr EÄ bei hoher als bei niedriger Belohnung © Gerd Bohner 2001 Hypothesen von Linder et al. (1967): – Nur bei Entscheidungsfreiheit entsteht Dissonanz negativer Einfluss der Belohnungshöhe; – ohne Entscheidungsfreiheit positiver Einfluss der Belohnungshöhe Faktorielles Design: 2x2 mit den Faktoren Entscheidungsfreiheit (gegeben, nicht gegeben) und Höhe der Belohnung (hoch, niedrig) Vpn argumentieren in einem Aufsatz gegen Redefreiheit an ihrer Universität und erhalten dafür $0.50 oder $2.50. Sie tun dies entweder freiwillig oder haben keine Wahl. Später wird ihre Einstellung zur Einschränkung der Redefreiheit (aV) erfasst. © Gerd Bohner 2001 7 keine Wahl 6 Wahlfreiheit 5 4 3 2 1 $0.50 $2.50 Daten aus Linder et al. (1967, Exp. 1) © Gerd Bohner 2001 (Die Arbeit von Linder et al. eignet sich gut zur Veranschaulichung zentraler Aspekte des sozialpsychologischen Experiments: Versuchsplan, Cover Story, Täuschung, Aufklärung, Interaktionseffekt ...) • Weitere Alternativerklärungen und Reinterpretationen zur Dissonanztheorie, z.B. – Theorie des Eindrucksmanagements – "Self-affirmation theory" • Dissonanztheorie und Selbstwahrnehmungstheorie ergänzen einander: © Gerd Bohner 2001 • Typische Situationen, in denen die Selbstwahrnehmungstheorie eine gute Erklärung liefert: – Einfluss von einstellungskonsistentem Verhalten (z.B. "footin-the-door"-Technik; Freedman & Fraser, 1966) – Unterminierung intrinsischer Motivation (Lepper, Greene & Nisbett, 1973) – Schlussfolgerungen auf der Grundlage von Gefühlen (Schwarz & Clore, 1983) oder Körperbewegungen (Wells & Petty, 1980) • Typische Situationen, in denen die Dissonanztheorie eine gute Erklärung liefert: – Einfluss von deutlich einstellungskonträrem Verhalten – andere Situationen, in denen starke Diskrepanzen bestehen, die mit emotionaler Erregung verknüpft sind © Gerd Bohner 2001 Kognitive Dissonanz: Ein Anwendungsbeispiel 5. Bezug zu Grundprinzipien der SP • Vor allem die Konsistenztheorien betonen die subjektive Konstruktion der Realität. • Kontinuum der Verarbeitungstiefe: Dissonanzreduktion erfordert mehr Verarbeitungsaufwand als Selbstwahrnehmung (und führt zu dauerhafterer Einstellungsänderung). • Betonung unterschiedlicher Motive: Kontrolle in der Selbstwahrnehmungstheorie, Selbstwerterhalt in der Dissonanztheorie © Gerd Bohner 2001