Gesundheits- und Krankheitsverständnis anderer Kulturen

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AGEAS: Fremdsein: Chancen und Grenzen
multikultureller Gesellschaften, 8.-9. 11. 2008
Gesundheits- und
Krankheitsverständnis anderer
Kulturen
Prof. H.-R. Wicker
Institut für Sozialanthropologie
Universität Bern
Inhalt
1. Grosse medizinische Traditionen
2. Migration und Gesundheit
3. Die Gesundheitsversorgung in der
multikulturellen Gesellschaft
1. Grosse medizinische Traditionen
a. Chinesische Entsprechungsmedizin:
 Konglomerat aus Magie, Yin-Yang-Lehre
& Theorie der Fünf-ElementeWandlungsphasen.
 Puls-, Zungenschaudiagnostik.
 Akupunktur, Akupressur, Massage,
Moxibustion, Kräutermedizin  Wirkung
auf das Meridiansystems.
Historische Entwicklung
 Huang-ti nei-ching (3. Jh. v. u. Z.): Akupunktur
(Meridiane, Indikation, Kontraindikation),
Massage, Moxibustion.
 Han-Dyn.: Relatives Körpermass Cun wird
entwickelt, erstes klinisches Manual.
 Ab dem 5. Jh.: Buddhistische Spitäler.
 Ch‘ao Yüan-fang: Prof. der 1. medizinischen
Akademie. 610 erstes pathognostisches
Kompendium, das 1720 Krankheiten und
Heilungsanweisungen enthält.
 Tang-Dyn. (618-907): Erste Lehrstühle für
Akupunktur und Moxibustion.
 Sung-Dyn: 1078 Gründung des „Grossen
medizinischen Büros“ (Universität) für 300
Studenten mit Lehrgängen in
 Innerer Medizin, Fiebererkrankungen, Kinder-,
Augen-, Ohren- & Kopfheilkunde, Geburtshilfe,
Akupunktur, Chirurgie.
 Pen-ts‘ao-Literatur: Drogenkompendien. Beginn
mit 365 D., Tang-Dyn. 850 D., 12. Jh. 1748 D. 
Geschmacksrichtung (im Mund), Temperaturausstrahlung (im Körper), Heilwirkung.
 12.-14. Jh.: Zusammenführung von nei-ching &
pen-ts‘ao.
b. Ayurvedische Medizin
• Axiome: Karma und Samsara.
• Ayurveda (Ayur/Leben, Veda/Weisheit). Die 4
Veda als wichtigste religiöse Texte im
hinduistischen Indien.
• Dosa/Lebenssäfte: Vayu (Wind), Pitta (Galle),
Kapha (Schleim).
• Dosa stehen mit 3 der 5 Elemente der
Hinduphysik in Beziehung: Luft (Vayu), Feuer
(Pitta), Wasser (Kapha). Erde (Prthivi) ist mit
keinem Dosa assoziiert, Äther (Akasa) übt
keinen Einfluss aus.
• Dosa-Gewichtung bestimmt das Temperament.
• Krankheitsursachen widerspiegeln das
aussergewöhnliche Wirken der Dosa.
c. Europäische Tradition
 Corpus Hippocraticum: Säftehaushalt (humores) als
Schauplatz der Pathogenese: „Der Körper des
Menschen hat in sich Blut und Schleim und gelbe und
schwarze Galle …, und dadurch hat er Schmerzen und
ist gesund. Am gesundesten ist er, wenn diese Säfte im
richtigen Verhältnis ihrer Kraft und ihrer Qualität
zueinander stehen und am besten gemischt sind“.
 Claudius Galenus (129-199) verknüpft die
Humoralpathologie, die diagnostische Kunst der
Hippokratiker und die Physiologie des Aristoteles zu
einer umfassenden medizinischen Theorie.
 Temperamentenlehre: Sanguiniker, Choleriker,
Pflegmatiker, Melancholiker. Vermittelndes Agens von
Kürper zu Seele ist Pneuma (spiritus).
 Klostermedizin: Ars medica mutiert zu Caritas
(Krankenwartung) und Agape (Armenfürsorge).
Im Zentrum steht Misericordia (Barmherzigkeit),
Benedikt von Nursia (6 Jh.), Hildegard von
Bingen (12. Jh.).
 Über Toledo findet im 12. Jh. die arab. Medizin
(Avicenna) Einzug: Pulslehre, Harnschau,
Alchimie, Mathematik.
 Pietro d‘Abano, Roger Bacon als Vorläufer der
naturwissenschaftlichen Medizin und der
Alchimia speculativa.
 Wichtigster Vertreter Paracelsus (1439-1541),
Stadtarzt in Basel: Medizin beruht auf
Philosophie, Astronomie, Alchemie & Medizin
(Ens astrorum, ens veneni, ens naturale, ens
spirituale, ens die).
Renaissance – in den Körper schauen
 Andreas Vesalius (1514-1546): De humani corporis
fabrica  anatomischer Atlas.
 William Harvey (1578-1657): Abhandlung über die
Bewegung des Herzens und des Blutes  Entdecker
des Blutkreislaufs.
 Santorio Santorio (1561-1636): De statica medicina 
Ernährungsphysikalische Bilanzversuche, Erfinder des
Thermometers und der Pulsuhr.
 René Descartes (1596-1650): Geist-Leib-Dualismus (res
cogitans, res extensa)  Der Körper ist eine Maschine.
 Robert Kooke (1635-1703): Sieht mit Mikroskop erstmals
Zellen.
 Antonj van Leeuwenhoek (1632-1723): Macht mit M.
Spermatozoen & Blutkörperchen sichtbar.
 Marcello Malphigi (1628-1694): Schöpfer der mikroskopischen Anatomie  Embryologie, Drüsenlehre.
Vergleich
• Chin. & ayurved. Medizin legen die Bedeutung
auf das Heilen und weniger auf die Erforschung
des menschlichen Körpers. Sezieren ist Tabu 
schwach entwickeltes anatomisches Wissen.
• Alle drei Systeme gründen auf Harmonievorstellungen. Körperenergien (Ying-yang,
Dosa, Humores) sind im Gleichgewicht zu
halten.
• Leichensezierung findet sich bereits in der
europäischen Antike, war im Mittelalter
untersagt, wurde im 14. Jh. wieder
aufgenommen  wissenschaftlich fundierte
Anatomie.
2. Migration und Gesundheit
 Weltweit existieren heute „duale“
Medizinalsysteme: „Traditionelle“ und „moderne“
Angebote finden sich nebeneinander.
 In Megastädten der 3. Welt: hochspezialisierte
Medizin neben Kräutermärkten und vielseitigen
traditionellen Angeboten.
 Im ländlichen Bereich traditionelle Medizin
neben primärer Gesundheitsversorgung nach
WHO  Prävention, Mutter-Kind-Programme,
Anerkennung traditioneller HeilerInnen.
 Die Mischung findet sich im Migrationskontext
wieder.
Kulturgebundene Illness-Vorstellungen
• Süditalienische Gastarbeiter: Böser Blick, Mama miaSyndrom.
• Ayurvedischer Alltagsbezug bei Tamilische Migranten:
Heiss-kalt-Klassifikation von Nahrung, rituelle Praxis
während Schwangerschaft und Geburt, Dosa-fokussierte
Kräutermedizin.
• TCM-Bezug bei chinesisch-vietnamesichen Migranten:
hohes Ying-yang-Bewusstesin, Feng Shui, häusliche
rituelle Praxis, kulturell orientierte Paranoia, Koro,
Akupunktur, -pressur, Moxibustion,
• Afrikanische Zuwanderer: Neben Zugriff auf moderne
Medizin paranoide Ängste, Orakel, Trancerituale.
• Vorderer Orient, Balkan: Galenisches Vokabular zur
Beschreibung von Krankheit, narahytiye qalb als folk
illness.
Health seaking Behaviour im
Migrationskontext
 Zuwanderer nutzen gleichzeitig Angebote aus
der traditionellen & modernen Medizin.
 Im Durchschnitt ist der Gesundheitszustand von
Zuwanderern schlechter als derjenige von CH.
Dasselbe gilt für ethnic minorities  Gründe?
 Tendenz zum Medizin-Tourismus.
 Unterdurchschnittliche Nutzung von
Präventionsberatung, z. B. in Bezug auf
Schwangerschaft, Geburt, HIV.
 Starke Präsenz in der ambulanten
Psychiatrieversorgung in Universitätsspitälern.
3. Die Gesundheitsversorgung in
der multikulturellen Gesellschaft
 Ist die westliche Medizin auch kulturgebunden?
 Das Menschenbild von Descartes als Grundaxiom:
Klienten gehen mit einer Illness zum Arzt und kommen
mit einer Disease zurück.
 Die neue Schmerzempfindlichkeit als cultural illness:
 Schleudertrauma
 Erschöpfungssyndrom: Neuromyasthenie  EpsteinBarr-Infektion  myalgische Encephalomyelitis  CFS
(chronic fatigue syndrom)  CFIDS (chronic fatigue
immune disfunction syndrome).
 Entwicklung des Traumabegriffs: Wunde  Spinal cord
irritation  Neurospasmia  Railway Spine Neurosis
sine materia Traumatische Neurose  pension
hysterics  Gross stress reaction  transient
adjustment disorder of adult life  Post traumatic Stress
Disorder (PTSD)
Transkulturelle Kompetenz
 TK Organisationsentwicklung von Spitälern
 TK in der Allgemeinpraxis (Arzt-PatientenInteraktion)
 TK Diagnostik im Migrationskontext.
 TK Anamnese
 TK Pflege
 Kommunikation & Übersetzung
 Gesundheits- und Krankheitskonzepte
 Verhütung und Schwangerschaftsabbruch
 Mädchen- und Knabenbeschneidung
 Psychische Störungen
 Krisenintervention
 Gewalt, Therapie von Folter- und Kriegsopfern
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