Dr. Stefan Leibold Westfälische Wilhelms-Universität Münster Religiöse Wurzeln von Wohlfahrtsstaaten Universität Nizhniy Novgorod Oktober 2009 Gliederung 1. Zu Definition und Geschichte von Wohlfahrtsstaaten 2. „Drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus“ 3. Die Rolle von Kultur und Religion für die Entwicklung und den Charakter von Wohlfahrtsstaaten 3.1. Die konfessionellen Wurzeln staatlicher Armutspolitik 3.2. Der Weg des Katholizismus zum Sozialstaat: der „social capitalism“ 3.3. Der Einfluss des Protestantismus auf die Wohlfahrtsstaaten 3.4. Der deutsche Sozialstaat als konfessioneller Kompromiss 3.5. Die Infragestellung des deutschen Sozialstaatsmodells 4. Orthodoxe Kirche, politische Ethik und Wohlfahrtsstaat 4.1. Politische Ethik in den christlichen Konfessionen 4.2. Die Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche 2000 Fragen zum Thema: Was ist für Sie „Religion“/ „das Christentum“? Was ist für Sie ein „Wohlfahrtsstaat“? Wie könnten Christentum und Wohlfahrtsstaat zusammen hängen? 1. Zu Definition und Geschichte von Wohlfahrtsstaaten Definition Wohlfahrtsstaat: Als moderner Wohlfahrtsstaat gilt ein Gemeinwesen, das die Benachteiligung von benachteiligten Gruppen (Alte, Kranke, Behinderte, Erwerbslose usw.) durch Geld, Sachleistungen oder persönliche Dienstleistungen kompensiert. Dazu gibt es ein Bildungs-, Sozial und Gesundheitswesen. Die Leistungen können über Steuern oder Beiträge zu Versicherungen erbracht werden. Ziele sind soziale Teilhabe aller Bürger und soziale Gerechtigkeit. „Sozialstaat“ richtet den Blick auf die verfassungsmäßige Bestimmung des Staates zu sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit. Deutschland: Rechtsstaat, Bundesstaat, Sozialstaat, Demokratieprinzip. Art 20 GG: „Die BR Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ Sozialstaatsziel genießt „Ewigkeitsgarantie“. Geschichte: Bereits in Antike und Mittelalter Versuche von Seiten des Staates, die materielle Not zu lindern. Ziel: Unruhen verhindern und Aufstände verhindern und politische Stabilität. Bismarck Ende 19. Jh.: Arbeiter von Revolution und Sozialdemokratie abhalten, ans Vaterland binden. Einführung erster Versicherungen (Renten-, Kranken-, Unfallversicherung) Seit 2. Weltkrieg in allen westeuropäischen Staaten sozialstaatliche Elemente, die über eine Grundsicherung hinausgehen. Ausgestaltung und Stärke hängt von Stärke der Arbeiterbewegung und gesellschaftlichen Kräften ab, auch von bestimmten Konzepten. Im Westen nach 1945: Abgrenzung zum „sozialistischen Ostblock“ Sozialstaat in Deutschland: Ziele und Maßnahmen: Soziale Grundsicherung gegen Risiken, die jeden treffen können (Arbeitslosigkeit, Alter,Unfall, Krankheit, Tod) Mittel: Sozialversicherung und Sozialhilfe als Mindestabsicherung Gerechtere Verteilung von Ressourcen, um Strukturwandel abzufedern und die Kluft zwischenArm und Reich zu verringern. Mittel: Arbeitsförderung, Arbeitslosengelder, Kindergeld und Elterngeld, Solidarprinzip in der Sozialversicherung Verbesserung sozialer Chancengleichheit. Mittel: stattliches Bildungssystem, BAFöG-Leistungen Die eingebaute Solidarität in der Sozialversicherung Bsp. Gesetzliche Krankenversicherung Alle abhängig Beschäftigten zwangsversichert. Ausnahme: Einkommensreiche, Selbständige, Staatsbeamte, unter 400 Euro Verdienst Paritätische Finanzierung“: Arbeiter und Unternehmer zahlen (fast) gleich viel ein Beiträge richten sich nach den Einkommen der Versicherten, Geringverdiener zahlen weniger,einkommensbezogener Solidarausgleich Ausgleich zwischen Gesunden und (chronisch) Kranken Jungen und Alten (Alte sind kränker, daher teurer) Männern und Frauen (Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft) Kinderlosen/Singles und Familien (Mitversicherung von Familienmitgliedern) Wie entstehen Wohlfahrtsstaaten? Die Folgen der Industrialisierung erzwingen zum Funktionieren des Industrielandes staatliche Interventionen Wohlfahrtsstaat ist ein Teil des Staates als universellem „Gesamtkapitalistem“, der bewirkt, dass sich die Arbeiter weiter ausbeuten lassen Parteien und Interessengruppen vertreten in einer Demokratie unterschiedliche Schichten, haben verschiedene Programme und Vorstellungen von Wohlfahrt 2. „Drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus“ Wodurch unterscheiden sich Wohlfahrtsstaaten? Durch die Höhe der staatlichen Ausgaben für den sozialen Bereich? Aber: Für was wird Geld ausgegeben? In Österreich viel Geld für Staatsbeamte, für bedarfsgeprüfte Leistungen oder bedingungslose? Wenn mehr ausgegeben wird aufgrund hoher Arbeitslosigkeit, ist der Staat dann „sozial“? Kriterien von Esping-Andersen: Grad der Dekommodifizierung Universalistischer Bürgerstatus? Arrangement zwischen Markt, Staat und Familie 1. Grad der Dekommodifizierung: Wie weit besitzen Individuen soziale Rechte, die es ihnen ermöglichen, ihren Lebensunterhalt unabhängig vom Markt zu bestreiten, d.h. wie weit sie ihr Arbeitsverhältnis verlassen können (wegen Alter, Gesundheit, Krankheit, Kindererziehung usw.), ohne zu verarmen? Wie hoch sind die Ersatzleistungen? Sozialfürsorge: Bedarfsprüfungen und geringe Leistungen schmälern den dekommodifizierenden Effekt Bsp. Deutschland: Sozialleistungen richten sich nach dem vorher Eingezahlten. Durchschnittsrenten waren bei Arbeitern oft niedriger als Armenfürsorge. Folge: Arbeiter entscheiden sich für Weiterarbeit statt für Rente. Dekommodifizierung stärkt den Arbeiter und schwächt die Position des Unternehmers. 2. Bürgerstatus: Haben alle Bürger ähnliche Rechte oder sind sie nach Klassen und Statusgruppen unterteilt? Armenhilfe: Arme stigmatisiert, dadurch Arbeiter gespalten. Sozialversicherungen: eigene Programme für Kranke, Arbeitslose, Rentner (Bsp. Deutschland) Oder gleiche Leistungen für alle? Bsp. Schweden: Private Versicherungen, betriebliche Zusatzleistungen konterkarieren 3. Arrangements zwischen Markt, Staat und Familie Wird erst die Familie in Dienst genommen bei Kindererziehung,Armut, Krankheit usw. (Deutschland, USA) oder gibt es vorauseilende Leistungen (Kitas, familienunabhängige Ansprüche)? Drei Typen von Wohlfahrtsstaaten: 1. der liberale: Soziale Anspruchsrechte/Dekommodifizierung gering, strenge Bedürftigkeitsprüfungen, niedrige Leistungen, Zugangsregeln strikt, Stigmatisierung. Staat bietet nur minimale Leistungen an und fördert private Vorsorge. Relative Gleichheit in der Armut bei unteren Schichten, große Ungleichheiten durch unterschiedliche Einkommen. Betont die Rolle des freien Marktes und der Selbsthilfe. 2. Der korporatistische oder konservative: Soziale Rechte/Dekommodifizierung stärker verankert, höhere Leistungen, Bedarfsprüfung nicht so strikt, Vorherrschen von Sozialversicherungen. Aufrechterhaltung von Statusdifferenzen, Leistungen nach vorherigen Beiträgen. Traditionelles Familienbild, hohe NichtErwerbstätigkeit von Frauen, Familie erstes Auffangbecken--Subsidiaritätsprinzip. 3. Der sozialdemokratische: Soziale Rechte/Grad der Dekommodifizierung hoch, hohe Leistungen beim Verlassen der Arbeit (Elterngeld) Universaler Bürgerstatus, gleich hohe Leistungen für alle, aus Steuern finanziert. Ein einziges Versicherungssystem, „Gleichheit auf höchstem Niveau“. Viele öffentliche Dienstleistungen für Kinderbetreuung, Pflege usw. Fragen: Welche Länder gehören zu welchem Typ? Kann man Russland in diese Typologie einordnen? 3. Die Rolle von Kultur und Religion für die Entstehung und den Charakter von Wohlfahrtsstaaten Kritik an Esping-Andersen: Der „konservative“ Typ ist sehr unterschiedlich Sympathie für den sozialdemokratischen Typ: „the good, the bad and the ugly“? Bedeutung unterschiedlicher kultureller und religiöser Traditionen bei der Wohlfahrtsstaatsbildung? 3.1. Die konfessionellen Wurzeln staatlicher Armutspolitik (Kahl) These: Religiöse Motive beeinflussen institutionelle Prozesse und werden von diesen beeinflusst. „Wahlverwandtschaften“ (Max Weber) zwischen religiösen Ideen und Prinzipien von Institutionen z.B. zwischen christlichem Gebot der Nächstenliebe und der „Ebenbildlichkeit Gottes“ und einem egalitären und universalistischen, nicht minimalistischen Sozialstaat (Gegenbeispiel Fernost) Im Westen: zwischen christlicher Konfession und Art der Armenfürsorge Diese werden zu „etablierten Verwandtschaften“, die nicht so leicht zu ändern sind und ihren religiösen Charakter verlieren Grundproblem im Umgang mit Armut: Suche nach einem Kompromiss zwischen zwei Positionen: Armen Versorgungsleistunge und der Forderung, dass jeder Mensch für seinen Lebensunterhalt arbeiten soll Anders ausgedrückt: zwischen dem Prinzip der Wohlfahrt und dem Prinzip der Arbeit. Große Unterschiede in den Wohlfahrtsstaaten heute. These: historischer Einfluss der dominanten Konfession Drei Traditionen: Katholizismus (Italien, Frankreich) Luthertum (Schweden, Dänemark) Calvinismus (USA) Deutschland als Mischform zwischen Luthertum und Katholizismus Großbritannien als Mischform zwischen Katholizismus und Calvinismus Katholische Tradition: Kirchliche Trägerschaft der Armenfürsorge, Wohlfahrt durch Kirche Kein einheitliches Programm für Arme, sondern viele verschiedene Programme für verschiedene Arme Durch Steuern finanzierte Programme werden spät oder gar nicht eingeführt Geringe Arbeitspflicht der Armen, Integration durch Versorgung Leistungen eher ungenerös Arbeitsunwillige Arme wenig stigmatisiert Lutherische Tradition: Staatliche Trägerschaft der Armenfürsorge, Wohlfahrt durch den Staat Einheitliches Programm für alle Armen Steuerfinanziertes Programm, früh eingeführt Arbeitspflicht, Integration durch Arbeit Leistungen eher generös Arbeitsunwillige Arme werden stigmatisiert Calvinistische Tradition: Kirchliche und private Trägerschaft der Armenfürsorge, Wohlfahrt durch Selbsthilfe Viele verschiedene Programme für verschiedene Arme Einheitliches steuerfinanziertes Programm sehr früh eingeführt Absolute Arbeitspflicht, Integration durch Arbeit Leistungen sehr ungenerös Arbeitsunwillige Arme werden stark stigmatisiert, Generalverdacht gegen alle Armen Mittelalter „Heilsökonomischer Tausch“: Reiche und Arme stehen in einer wechselseitigen Beziehung: Der Reiche gibt dem Armen Almosen (persönlich oder indirekt durch Spenden), der Arme betet für die Seele des Reichen. Glorifizierung der Armen als Ebenbilder Christi. Das gute Werk verhilft dem Reichen zum Heil und verkürzt seinen Aufenthalt im Fegefeuer. Betteln war akzeptiert. Hintergrund: Biblische Reichtumskritik. Bruch mit der Reformation 16. Jh.: Umgang mit den Armen wandelt sich nach Konfession: Im Katholizismus blieb die mittelalterliche Lehre bestehen. Moralische Pflicht der Reichen zu spenden, kein Anspruch der Armen auf Unterstützung. Freiwilligkeit der Gabe, vermittelnde Rolle der Kirche. Betteln bleibt erlaubt. Arbeit wird als Bürde angesehen. Im Luthertum wurde dem Almosen durch die Lehre, dass das Heil nicht von guten Werken, sondern von der Gnade Gottes abhängig sei, die Grundlage entzogen. Arbeit als Berufung und Mittel zur Überwindung von Armut. Bettler als Ebenbilder des Teufels. Nur die bedürftigen Armen sollen Leistungen erhalten. Im Calvinismus führten die Prädestinationslehre und das Luthersche Arbeitsethos dazu, dass Reichtum als Erwählung und Armut als Verdammnis angesehen wurde. An die Stelle der guten Werke trat die Pflicht zu systematischer Selbstkontrolle und unermüdlicher Arbeit, um sich des eigenen Heils gewiss zu sein. Nicht mehr die Armen, sondern die Arbeitenden werden in enger Beziehung zu Gott gesehen. Betteln wurde strikt verboten. Zusammenfassung: Katholizismus: „Feed the poor, get saved“ Luthertum: „All should eat, all should work“ Calvinismus: „Work for your own bread“ Erhebliche Kritik an Kahl: Vereinfachungen, selektive Quellen, wie übersetzen sich die Traditionen in Sozialpolitik? Beschreiben Sie ausgehend vom Grundproblem die drei konfessionellen Traditionen der Armenfürsorge in eigenen Worten! 3.2. Der Weg des Katholizismus zum Sozialstaat: der „social capitalism“ Van Kersbergen: Es gibt einen katholischen Typ des Sozialstaats. Formierung katholischer Parteien zwischen 1870 und 1914. Politische Mobilisierung der Katholiken als Antwort auf die Bedrohungen durch Liberalismus und Sozialismus, aber auch als Projekt, Inhalte davon zu kombinieren. Christdemokratische Parteien entwickeln sich von konfessionellen Bewegungen mit Basis in Mittel- und Oberschicht zu klassen- und konfessionsübergreifenden Volksparteien. „Social capitalism“ Projekt der „kleinen Traditionen“ vor Ort, mit deren Hilfe sich die politisch handelnden Christen zu orientieren versuchen. Zentrale ideologische Elemente des „social capitalism“: Ausgleich von Interessen als Mittel und Ziel: ständiges Bemühen um das Erzielen von Kompromissen zwischen entgegengesetzten Interessen. Konkrete Sozialpolitik spiegelt „balance of power“ der Machtverhältnisse in einem Land. Subsidiäres Staatsverständnis: Staat und Gesellschaft bilden eine organische Einheit. Der Staat soll diese Einheit fördern und die Selbständigkeit und Eigenverantwortung der jeweils kleineren Einheiten stärken. Jeder soll machen, was er selbst tun kann—Prinzip der kath. Soziallehre. Der Mensch als soziales Wesen: Vorstellung grundsätzlicher Harmonie zwischen den Menschen. Prinzip der Personalität: Individuen können ihre Potenziale nur durch Kooperation verwirklichen. Kein Kampf gegen andere Gruppen. Prinzipielle Akzeptanz von Kapitalismus und Privateigentum: Kapitalismus als organische Arbeitsteilung, jede Klasse hat ihre Aufgabe. Zusammenarbeit der Klassen ist notwendig, Ablehnung des Klassenkampfes. Der Mensch hat ein Recht auf Eigentum als Frucht seiner Arbeit. Der Staat kann aber notfalls über das Eigentum verfügen (Sozialpflicht des Eigentums) Ursachen des sozialen Elends: Zunächst: religiöses Versagen und moralischer Verfall. Entwicklung von Barmherzigkeit und Nächstenliebe zur Akzeptanz staatlicher Sozialpolitik. Ursache des Elends: Kapitalismus. Die Armut ist Ursache des moralischen Verfalls. Grundsätzliche Akzeptanz des Kapitalismus bleibt bestehen. Konzept sozialer Gerechtigkeit: Jede Gruppe und Klasse erhält das, was ihr zusteht. Verteilungsgerechtigkeit, vom Staat zu organisieren. Arbeiter hat Anrecht auf gerechten Lohn, mit dem er seine Familie ernähren, aber auch sparen kann (Großzügigkeit des Lohnersatzes) Auffassung von der Familie: Familie steht als Kern der Gesellschaft im Zentrum der Sozialpolitik. Rollen von Männern und Frauen sind festgeschrieben: Mann ist Ernährer der Familie, Frau sind für Fürsorge- und ehrenamtliche Arbeit zuständig. Natürliche Unterschiede zwischen Mann und Frau. Christdemokratie als Reparaturbetrieb der Gesellschaft zwischen Individualismus und Kollektivismus. Grundhaltungen des Katholizismus: Anti-liberal: Staat soll in den Markt intervenieren Anti-individualistisch: Sozialstaat als Solidarität für soziale Wesen Anti-sozialistisch: kein Klassenkampf, keine Revolution, gegen Sozialdemokratie und Sozialismus Anti-etatistisch: Staat soll sich zurücknehmen, Sozialpolitik durch die kleinen Einheiten, Wohlfahrtsverbände, Kirchen Beschreiben Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede des „sozialen Kapitalismus“ mit Liberalismus und Sozialismus! 3.3. Der Einfluss des Protestantismus auf die Wohlfahrtsstaaten Manow: wichtige Unterscheidung zwischen Luthertum und Calvinismus bei der Prägung von Wohlfahrtsstaaten. Eigenständiger und bedeutender Beitrag des Protestantismus: der kann negativ sein! In Niederlanden, Großbritannien, Schweiz, USA, Australien, Neuseeland hat der Protestantismus die Entstehung des Wohlfahrtsstaats verzögert. Typus der „protestantisch gezügelten Wohlfahrtsstaaten“. Deutschland: eigene Entwicklungsdynamik. Charakteristika der protestantisch gezügelten Wohlfahrtsstaaten: Sozialstaatliche Nachzügler in der chronologischen Zeit (Ersteinführung von Programmen) Sozialstaatliche Nachzügler in ökonomischer Zeit (wirtschaftlicher Entwicklungsstand z.B. BIP pro Kopf bei Ersteinführung) Bei mindestens 15% freikirchlichem Protestantismus in der Bevölkerung höherer Einfluss als Stärke der Gewerkschaften, autoritärer Staat u.a. Die Verzögerung bei der Einführung übersetzt sich in die weitere Wohlfahrtsstaatentwicklung: Übernimmt der Staat spät sozialpolitische Verantwortung, gibt es schon private Arrangements. Kann nur schwer universale Sicherungsprogramme etablieren. Führt zu einem Dualismus von gruppenspezifischen, privaten Programmen und universaler, aber niedriger staatlicher Versorgung z. B. in der Altersversorgung. Bedeutung von Staat-Kirche-Konflikten: Südeuropa: Herrschaftsanspruch der katholischen Kirche. Arbeiterbewegung kämpft immer auch gegen den Klerus (anders Skandinavien und Deutschland) Staat drängt Kirche zurück (Frankreich,Italien, Belgien) und organisiert Kinderbetreuung selbst. Wo Luthertum stark ist oder Kirche und Staat sich arrangieren, bleibt Kinderbetreuung privat organisiert (Niederlande, Deutschland, Österreich) 3.4. Der deutsche Sozialstaat als konfessioneller Kompromiss Überlagerung zweier gegensätzlicher Einflusslinien: lutherische Staatsnähe und katholischer „sozialer Kapitalismus“ Luthertum: staatlich orientiert, einheitliche Programme aus Steuern Katholizismus: antistaatlich, subsidiär orientiert, Status aufrechterhalten in verschiedenen Programmen Kulturkampf zwischen katholischer Minderheit und protestantischem preußisch-deutschem Staat „Soziale Marktwirtschaft“ in Deutschland als Kompromiss zwischen liberaler Marktordnung und korporatistischem, auf Interessenausgleich beruhendem Wohlfahrtsstaat. Philip Manow: dahinter steht ein Kompromiss zwischen einer katholischen und einer protestantischen Lehre darüber, wie der Kapitalismus moralisch und sozial eingebettet werden soll. Sozialstaat Ende 19. /Anfang 20. Jh. : Interventionen von oben, zentralistisch, in Weimarer Republik Elemente der Selbstverwaltung. Folge: Katholiken und Sozialdemokratie bekommen mehr Einfluss. SPD und Zentrum bestimmen die Sozialpolitik. Arbeitsminister Brauns vom Zentrum durchgehend im Amt. Sozialdemokratie und Katholiken werden in die Gesellschaft integriert, bürgerlich-protestantische Bildungselite fühlt sich enteignet. Wechselt ins Lager der Wohlfahrtsstaatskritik und entwickelt in den 20er Jahren eigene wirtschaftspolitische Konzeption: den Ordoliberalismus. Ordoliberalismus: Staat ist als Folge der Massendemokratie gelähmt durch die partikularen Interessen-führt zur Desorganisation der Wirtschaft und zum Verfall der Ordnung. Staat muss gestärkt werden als „Schiedsrichter des ökonomischen Interesses“, Wirtschaft muss entstaatlicht werden, der Staat soll sich auf wenige Aufgaben beschränken. Anti-Pluralismus, Klagen über Werteverfall. Natürliche, gottgewollte Wirtschaftsordnung, die sich durch Vernunft erschauen lässt; darf nicht durch Demokratie in Frage gestellt werden. Staat muss als starker Staat Führertum beanspruchen. Autoritärer Zug: Ordnungen an sich unschuldig, totalitäre Herrschaft zumindest bedenkenswert. Manow: lutherische Obrigkeitsorientierung. Skeptisches Menschenbild des Luthertums: Der Mensch ist zugleich Gerechter und Sünder. Die Ordnungen sollen seine gerechte Seite fördern und die sündhafte kontrollieren. Diese Kontrolle soll der Markt übernehmen! Funktionsmechanismen des Marktes wie Preismechanismus, Wettbewerb, Rechtsverfahren. Staat muss Wettbewerb sichern, den Markt aber ethisch regulieren. Staat muss unabhängig von Parteien intervenieren können. Staat als ethisch überlegene Instanz: braucht elitäre Schicht der politisch Einsichtigen und sittlich Zuverlässigen, soll Moralanstalt zur Erziehung des Volkes sein. Nach dem 2. Weltkrieg: Wohlfahrtsstaat alter Prägung wird wieder installiert, große Enttäuschung. Opposition zum Sozialstaat. Wirtschaftsminister Erhard: Sozialversicherungen abgelehnt, „Versorgungsstaat“. Erfolge: Einfluss der Parteien wird begrenzt (Bundesbank, Kartellamt, Tarifpartnerschaft). Ergebnis: „Soziale Marktwirtschaft“ wird zum Namen für die Ordnung der BRD, obwohl Ordoliberalismus sich nur in Ansätzen durchsetzt. Konkret in Deutschland: subsidiärer Sozialstaat mit solidarisch organisierten Sozialversicherungen, starken Wohlfahrtsverbänden, verschiedenen Programmen, traditionelle Familien- und Geschlechterrollen (katholischer Einfluss), relativ großzügige Leistungen (beide Konfessionen), Arbeitspflicht und Bedürftigkeitsprüfungen, staatliches Wächteramt statt direkter Interventionen, Staat bestimmt Grundrichtungen, nicht das Parlament (protestantischer bzw. ordoliberaler Einfluss) Beschreiben Sie den Kompromisscharakter des deutschen Sozialstaats in eigenen Worten! 3.5. Die Infragestellung des deutschen Sozialstaatsmodells Kritik am deutschen Sozialstaat: „Familiengerechte Löhne“ verhindern notwendigen Niedriglohnsektor und produzieren Arbeitslosigkeit Schlechte Vereinbarkeit von Beruf und Familie führt zu niedrigen Geburtenraten Korporatismus von Kapital und Arbeit führt zu Frühverrentungen und Reformblockaden Tendenzen heute: Betonung der Pflichten der Leistungsempfänger, „Fördern und Fordern“ Minimalabsicherung bei Eigenleistungen: Zuzahlungen im Gesundheitswesen, kapitalgedeckte Rente Bejahung einer stärkeren Lohnspreizung und eines Niedriglohnsektors Ziel von Umverteilung: „Chancengleichheit“ Missbrauchsdiskussion („soziale Hängematte“): „Sozialmissbrauch“: 2008: in 741.000 Fällen Arbeitslosen Leistungen gekürzt (16 % mehr als 2007) 300.00 Fälle: verspätete Meldung 215.000: Terminversäumnisse 180.000 Arbeitsaufgabe 27.000 Arbeitsablehnung 10.000 unzureichende Eigenbemühung Fallzahl ist nicht Betroffenenzahl! Ca. 0,2% der Zahlungen falsch. Caritas 2004: 120 Mio. gehen insgesamt an falsch in Anspruch genommenen Leistungen verloren Aber: 2,2 Mrd. Euro werden nicht in Anspruch genommen. Jeder vierte ALG II-Empfänger erhält keine Leistungen. Geschätzte Steuerhinterziehung: 60 Mrd. Euro. Tendenz: Fast jeder Arbeitslose nimmt fast jede Arbeit an. „Wer Arbeit sucht, findet welche“? 3 Mio. Arbeitslose 2,9 Mio erhalten Leistungen, ohne arbeitslos zu sein (Umschulungsmaßnahmen, vorzeitiger Ruhestand) 1,5 Mio. Arbeitsmarktmaßnahmen (berufliche Eingliederung, Ein-Euro-Jobber usw.) 413.000 arbeitslos, ohne Geld zu bekommen „stille Reserve“ Mindestens 8 Mio. Arbeitssuchende, 870.000 offene Stellen, hauptsächlich Zeitarbeit, niedrig bezahlte Stellen 1,3 Mio. Hartz IV-Aufstocker wegen Niedriglöhnen 2 Mio. Kinder in Armutshaushalten Philosophie des „aktivierenden Sozialstaats“: Integration in den ersten Arbeitsmarkt das erklärte Ziel Jede Arbeit ist besser als keine, jede soll angenommen werden. „Working poor“ werden in Kauf genommen „Beschäftigungsfähigkeit“ des Einzelnen ist Ziel der Aktivierung „Eigenverantwortung“ soll gestärkt werden „Chancengerechtigkeit“ statt „Verteilungsgerechtigkeit“ „Zivilgesellschaft“ soll ihre Belange selbst regeln außerhalb vom Staat – Emanzipation von Bevormundung oder Abwälzung der Verantwortung auf den Einzelnen? Staat ist ein kontrollierender, eingreifender, starker Staat Historische Entwicklung: USA 1996 (Clinton), Großbritannien (Blair), Niederlande, Skandinavien, Deutschland SPD-Grüne-Koalition Problem: Einzelne sind nicht verantwortlich für strukturelle Massenarbeitslosigkeit. Zu wenig Arbeitsplätze durch Produktivitätssteigerung, Rationalisierung, Krise Qualität der Arbeitsbedingungen sinkt, Zunahme prekärer Arbeit Befreit sich der Sozialstaat von den Überflüssigen? Einfluss des calvinistisch-reformierten Sozialmodells? Reaktion der Kirchen: ökumenisches Sozialwort 1997: fordert sozialen Ausgleich, gleichwertige Lebensverhältnisse und eine solidarische Finanzierung der Sozialversicherungen Inspiriert durch kath. US-Hirtenbrief 1986: Option für die Armen, umfassende welfare rights für alle „Neun Gebote“: „Teilnahmechancen auf dem Arbeitsmarkt“ als „Beteiligungsgerechtigkeit“. Keine Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Erst Eigenverantwortung, dann Solidarität. Mehrere Erklärungen: zwischen Verteidigung des Sozialstaats und Akzeptanz der neuen Philosophie „Das Soziale neu denken“ (2003): Sozialstaat negativ beurteilt, „zu großes Anspruchsdenken“, „Lebenslagen für Sicherung enger definieren“, Zurückweisung einer „Vollversorgung“, Setzen auf Selbsthilfe und Nachbarschaften Versuche einer Delegitimierung des Sozialworts von 1997, seitdem „unentschlossene Ruhe“ 4. Orthodoxe Kirche, politische Ethik und Wohlfahrtsstaat Sozialstaat und orthodoxe Kirche? Keine Tradition, sich mit Politik, sich überhaupt mit Ethik zu befassen. 4.1. Politische Ethik in den christlichen Konfessionen Katholizismus 16./17. Jh. Volk als träger der politischen Gewalt. „Volkssouveränitätsthese“modifiziert Paulus`Vorstellung von der Gewaltenlehre. Grundlage: bestehende Gewalt ist von Gott eingesetzt. Vitoria/Suarez: Staatsgewalt ist naturnotwendige Bedingung des Erhalts des Gemeinwesens. Konkrete Herrschaft wandelt sich aber historisch. Träger der Gewalt muss das Volk sein, das Herrschaft überträgt, spielt aber keine aktive gestaltende Rolle. Mitgedacht: Konkrete Ordnung fällt nicht vom Himmel, ist menschlichen Ursprungs – demokratisches Potenzial. Rechtfertigung für jede politische Ordnung – Demokratie oder Monarchie. Andererseits: Ideal des katholischen Glaubensstaats, Einheit von Moral und Recht – der Idee der vorstaatlichen individuellen Rechte abträglich. Leo XIII „Rerum novarum“ 1891: Lohngerechtigkeit, Staat soll in Wirtschaft eingreifen, Koalitionsrecht der Arbeiter – Auftrieb für katholische Verbände und Parteien. Leo: karitatives Engagement! Keine demokratische Ordnung herbeiführen! Problem: keine Verurteilung des Nationalsozialismus möglich! Über Personalitätsprinzip (Gottesebenbildlichkeit) zur Akzeptanz von Menschenrechten. Prinzipien: Solidarität, Subsidiarität, Gerechtigkeit (vgl. „social capitalism“). Nach 1945 überkonfessionelle Partei, Abschied von organischer Gesellschaftsvorstellung. Leitideen einer freiheitlichen, demokratischen und sozialen Ordnung durch Sozialprinzipien. Protestantismus: äußerst vielfältig (Lutheraner, Reformierte, Anglikaner usw.), aber: subjektorientierte Form des Glaubens, Rechtfertigung des einzelnen Sünders vor Gott. Glaube radikal vom Einzelnen aus. Gegen Amt, sakramentale Vermittlung der Institution, „Priestertum aller Gläubigen“, Gemeindeleiter „primus inter pares“. Viele christliche Bekenntnisse und Wahrheitsansprüche: Staat weltanschaulich neutral, Religion Privatsache. Religionsfreiheit, aber keine Konfession bevorzugt. Troeltsch: keine reine christliche Ethik, kulturell vermittelt. „Verantwortungsethik“: Verantwortbarkeit von Entscheidungen und Handlungen, gegen „Gesinnungsethik“. Verantwortung vor Gott und dem Gewissen, „verantwortliches Regieren. „Zwei-Reiche-Lehre“: Unterscheidung Reich Gottes und der weltlichen Ordnung, Eigenständigkeit der Welt. Missbrauch im NS vs. „Lehre von der Königsherrschaft Gottes“: Gott hat auf ganze Welt Anspruch, prophetisches Amt der Kirche. Aber: Welche Normen für das Gemeinwesen? Katholizismus und Protestantismus beide: Gesellschaftsanalyse mit ethischer Bewertung und theologischer Weltdeutung verbinden. Orthodoxie: lange in den Untergrund gedrängt, Unterdrückung durch Regierungen. Sozialethische Zurückhaltung, heute aber viele Aufgaben, religiöse Renaissance. Keine panorthodoxe Synode in Sicht. Distanz zu Sozialethik – Betonung der Bruderliebe Traditionalistisches Bibelverständnis Verschiebung des Gleichgewichts von Verkündigung, sozialem Tun und Sakramenten zur Verselbständigung der Liturgie: Einheit von irdischer und oberer Kirche, von irdischer Gemeinde und Gegenwart Gottes in Sakrament und Liturgie „Katholizitätsprinzip“ (Sobornost): Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit der Kirche im Hinblick auf das jeweilige Volk. Volkskirche als nationale Kirche, Kirche und Staat (Volk) verschmilzen. Keine Differenzierung von Kirche und Staat, kein weltanschaulich neutrales Gemeinwesen, keine Religionsfreiheit, Menschenrechte, sondern Symphonieprinzip von Staat und Kirche: Staat schützt Orthodoxie, das im Glauben geeinte Volk. Organologisches Gesellschaftsdenken bleibt bestehen. Theonomes Denken: keine Autonomie der Welt, Aufklärung gefährdet das Christentum und führt den Menschen von Gott weg. Menschenrechte und Pluralismus abgelehnt. Mit Spannung erwartet: Sozialdoktrin der russischorthodoxen Kirche 2000. Warum hat die (russisch-)orthodoxe Kirche bisher keine politische Ethik bzw. kein sozialpolitisches Denken entwickelt? 4.2. Die Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche 2000 Dokument der Moskauer Bischofssynode vom August 2000. 121 Seiten. Erstmals in der Geschichte Sozialdoktrin! Verwurzelung bin frühchristlichen Traditionen, viele Zitate aus AT, NT, von Kirchenvätern und orthodoxer Tradition. Themen sind auch: Menschenrechte, demografische Krise, künstliche Befruchtung, Globalisierung, Ökologie usw. Zusammenfassender Überblick über die orthodoxe Position zu aktuellen Themen. Kapitel 1: Begründung der Zuständigkeit der Kirche für die diesseitige Welt: Als mystischer Leib Christi sowohl göttliche wie menschliche Seite. Aufgabe nicht nur predigt und jenseitiges Heil, sondern auch diesseitiges Wohlergehen der Menschen. Christen zur Beteiligung an öffentlichem Leben aufgerufen! Keine Überlegungen zu Gemeinwohl, Solidarität, Subsidiarität. Loyalität der Gläubigen gegenüber dem Staat. Darüber steht aber die Loyalität gegenüber Gott! Selbst im Konflikt muss die Kirche dem verfolgenden Staat Loyalität erweisen; Verfolgung in Geduld ertragen. Erstmals: Trennung von Kirche und Staat, passives Widerstandsrecht. Anspruch auf Vorrang im Staat gegenüber anderen Konfessionen. Ähnlichkeit in konkreten Bewertungen mit anderen Konfessionen. Bsp. Globalisierung: alternativlose universale Kultur? Verteidigung eigener Kulturen. Bewertung: Verlassen des Gettos, Dialogeröffnung mit anderen Konfessionen. Liberalisierungs- und Individualisierungsschub in westlichen Kirchen erst nach 1945, nach der Katastrophe des Weltkriegs, 1948 Erklärung der Menschenrechte. Laien zogen Verbindung zum christlichen Persondenken. Einzelne Theologen sehen keine Unvereinbarkeit von personalen Menschenrechten und orthodoxer Theologie. Frage an die Orthodoxie: Welche Differenzen zur modernen Welt sind wirklich biblisch-theologisch, welche historisch-traditionalistisch? ROK von Teilnahme an Sozialstaatsdenken noch weit entfernt. Sozialsystem von Kommunismus geprägt, heute im Kapitalismus sehr gering ausgeprägt wegen fehlender Gegenkräfte und fehlender kultureller Traditionen? Wer könnte mit welchen Argumenten, Gründen, Ideen eine bessere soziale Sicherung in Russland beeinflussen? Welche soziale Sicherung wäre wünschenswert? Schlussreflektion: Was haben Sie von diesen Vorlesungen mitgenommen? Wie interessant war das Thema? Haben die Argumente Sie überzeugt?