Psychiatrie Vor 12 Sexuelle Störungen Definition: Unter sexuellen Störungen werden im Folgenden alle Störungen verstanden, die in erster Linie Auswirkungen im Bereich des sexuellen Verhaltens haben. Dazu gehören insbesondere sexuelle Funktionsstörungen, wie Störungen des sexuellen Verlangens, der sexuellen Erregung und der Orgasmusfähigkeit. Psychiatrisch bedeutsam sind weiterhin Störungen der Geschlechtsidentität und die Störungen der Sexualpräferenz (Paraphilien). Bei sexuellen Störungen zeigen sich direkte Beziehungen zwischen seelischen und körperlichen Funktionen besonders deutlich. Aufgrund großer individueller Unterschiede fällt die Abgrenzung zwischen gestörtem und ungestörtem Verhalten sehr schwer. Wichtige Faktoren für die Einschätzung sind kulturelle Prägung, Erziehung, persönliche Einstellung, Partnerbeziehung. In den Bereich sexueller Störungen spielen außerdem auch gesellschaftliche und politische Aspekte hinein (z.B. Paraphilien). Historisches: Die Sexualwissenschaft oder Sexologie hat eine relativ kurze Geschichte. Sexuelles Verhalten, das von einer bestimmten Verhaltensnorm abwich, wurde z.B. mit dem Begriff „Perversion" belegt. Darin drückte sich auch eine Wertung aus. Eine systematische Beschreibung von sexuellen Normabweichungen erfolgte erstmals 1886 durch den Wiener Psychiater Krafft-Ebing. Im ICD-10 und DSM-IV wird auf Wertungen verzichtet. Homosexualität wird nicht mehr als psychische Störung klassifiziert. Epidemiologie: Mindestens 15% der Patienten, die einen Arzt aufsuchen, haben so bedeutende sexuelle Probleme. Frauen klagen häufig über vermindertes sexuelles Verlangen und Orgasmusstörungen, Männer über Erektionsstörungen und vorzeitige Ejakulation. Störungen der sexuellen Appetenz werden von 35% der Frauen und 16% der Männer berichtet. Störungen der sexuellen Erregung treten bei bis zu 1/3 verheirateter Frauen und ca. 20% der Männer auf. Die Angaben zur Häufigkeit von sexuellen Abweichungen sind nicht repräsentativ. Im forensischen Bereich kommt Exhibitionismus am häufigsten vor. Atiopathogenese: Eine einheitliche Enstehungstheorie existiert nicht. Es ist heute bekannt, dass auch im Säuglings- und Kindesalter sexuelle Faktoren eine Rolle spielen. Nach dem Entwicklungsmodell von Freud lassen sich vier unterschiedliche Phasen abgrenzen: -orale Phase (1. Lebensjahr) -anale Phase (2. und 3. Lebensjahr) -phallische Phase (4. bis 6. Lebensjahr) -Latenzperiode (7. bis 12. Lebensjahr). Die Pubertät beginnt bei Mädchen früher als bei Jungen. Das Alter für das Eintreten der Menarche liegt heute etwa zwischen 13 und 131/2 Jahren. Die Kenntnis der Phasen sexueller Erregung ist zum Verständnis sexueller Störungen erforderlich Folgende Faktoren spielen bei der Atiopathogenese eine wichtige Rolle: Probleme in der Partnerschaft, kognitive Faktoren (Einstellungen zu Sexualität und Partnerschaft), Erziehungsfaktoren (Angst vor Strafe, fehlende Akzeptanz der eigenen Geschlechtsrolle), unzureichende Informationen über sexuelle Abläufe, Angst, Leistungsdruck und Erwartungsspannung, ungünstige äußere Faktoren (z. B. Angst vor ungewollter Schwangerschaft Aus psychoanalytischer Sicht stellen sexuelle Dysfunktionen ein Symptom dar, das sich aus unbewussten Konflikten herleitet, die bis in die Kindheit zurückreichen. Im Kollusionskonzept werden unterschiedliche Typen neurotischer Partnerbeziehung beschrieben. Die verhaltenstherapeutische Analyse muss verschiedene Faktoren berücksichtigen, z. B. Erwartungsängste, Einfluss von Werten und Normen oder Partnerkonflikte. In der Analyse muss auch ein möglicher sexueller Missbrauch berücksichtigt werden. Die Grenze zwischen gerade noch akzeptierter sexueller Erfahrung und subjektiv erlebtem sexuellem Missbrauch ist nicht scharf definiert. Über die Genese von Störungen der Sexualpräferenz (Paraphilien) existiert bis heute keine gültige Theorie. Aus psychoanalytischer Sicht wird eine Störung im Lauf der ersten Lebensjahre vermutet. Organische Ursachen konnten nicht nachgewiesen werden. Symptomatik und klinische Subtypen Sexuelle Funktionsstörungen Störungen der sexuellen Appetenz Definition: Grundproblem dieser Störungen ist eine Veränderung des sexuellen Verlangens. Bei Störungen des sexuellen Verlangens sind individuelle Faktoren besonders zu berücksichtigen (z. B. Alter, Geschlecht, Lebensumstände). Wichtige Formen sind Störungen mit sexueller Aversion (Vermeidung sexueller Aktivitäten bei stark negativer Vorstellung von Partnerbeziehung) und mangelnde sexuelle Befriedigung Störungen der sexuellen Erregung (Psychogene Impotenz) Definition: Veränderungen genitaler Reaktionen, die die Durchführung eines befriedigenden Geschlechtsverkehrs erschweren oder behindern. Bei Männern handelt es sich hauptsächlich um Erektionsstörungen, bei Frauen um den Mangel oder den Ausfall der Orgasmusstörungen Definition: Die Störungen betreffen den Zeitpunkt oder das subjektive Erleben des Orgasmus. Frauen klagen häufiger als Männer über fehlenden oder stark verzögerten Orgasmus. Bei Männern ist der vorzeitige Samenerguss (Ejaculatio praecox) die am häufigsten geklagte Störung aus diesem Bereich. Die verzögerte Ejakulation (Ejaculatio retarda) kommt wesentlich seltener vor. Störungen mit sexuell bedingten Schmerzen Wiederkehrende oder anhaltende genitale Schmerzen vor, bei oder nach dem Geschlechtsverkehr werden als Dyspareunie (Algopareunie) bezeichnet. Häufig liegt eine lokale Ursache vor (z.B. nach Operation). Vaginismus: anhaltende unwillkürliche Spasmen im äußeren Vaginaldrittel, wodurch der Scheideneingang verschlossen wird. Störungen der Geschlechtsidentität Definition: Tiefe Unzufriedenheit mit dem eigenen Geschlecht sowie dringender und anhaltender Wunsch, die Rolle des anderen Geschlechts teilweise oder vollständig anzunehmen. Bei Transsexualismus besteht der Wunsch nach Geschlechtsumwandlung durch hormonelle und chirurgische Behandlung. Mann-zu-Frau-Transsexualität ist etwa zwei- bis dreimal häufiger als umgekehrt. Bei Transvestitismus wird die vorübergehende Erfahrung der Zugehörigkeit zum anderen Geschlecht durch Tragen der jeweils gegengeschlechtlichen typischen Kleidung erreicht. Es besteht kein Wunsch nach langfristiger Geschlechtsumwandlung. Diese Störung kommt praktisch nur bei Männern vor. Störungen der sexuellen Präferenz (Paraphilien) Definition: Unter Störungen der sexuellen Präferenz werden weitgehend fixierte Formen sexueller Befriedigung verstanden, die an außergewöhnliche Bedingungen geknüpft werden. Der sexuelle Impuls richtet sich auf nichtmenschliche Objekte, Leiden oder Demütigung der eigenen Person oder des Partners, Kinder oder andere Personen, die mit der sexuellen Interaktion nicht einverstanden sind. Typisch sind Fixierung des Verhaltens und suchtähnlicher Charakter (Kontrollverlust). Bei den Betroffenen besteht im sexuellen Kontakt häufig große Selbstunsicherheit. Strafrechtliche Konsequenzen sind insbesondere bei Pädophilie (bzw. Päderastie) und Exhibitionismus nicht selten. Diagnostik und Differenzialdiagnose Diagnostik: Ein tragfähiger Kontakt im ärztlichen bzw. psychologischen Gespräch ist besonders wichtig, da häufig eine hohe Hemmschwelle besteht. Unverzichtbar ist die Erhebung einer ausführlichen Sexualanamnese. Zur Diagnostik gehört auch immer die Analyse der Partnerbeziehung und der Ausschluss organischer Ursachen. Differenzialdiagnose: Bei Impotenz ist prinzipiell zwischen Impotentia coeundi und Impotentia generandi zu unterscheiden. Organische Ursachen finden sich am häufigsten (bis zu 20%) bei erektiler Dysfunktion, Vaginismus und Dyspareunie. Für die Differenzialdiagnose der erektilen Dysfunktion ist auch die Registrierung spontaner oder nächtlicher Erektionen wichtig. Die häufigsten organischen Ursachen einer Erektionsstörung sind kardiovaskuläre Erkrankungen, Diabetes mellitus, neurogene Störungen, chronischer Alkoholabusus, endokrine Störungen (z.B. Hypothyreose), lokale Operationen (z.B. Prostataresektion). Auch Medikamente (z. B. Antihypertensiva, Psychopharmaka, Antihistaminika, Kortikoide, Sexualhormone) bzw. Drogen können sexuelle Störungen verursachen. Weitere Differenzialdiagnosen sind depressive Störungen, schizophrene Erkrankungen, substanzabhängige Störungen, Angst-Erkrankungen, organische Störungen Therapie Die größten Erfolge in der Therapie sexueller Störungen wurden mit verhaltenstherapeutischen Methoden erreicht. Die Therapie sollte möglichst die Therapie eines Paares und nicht einer einzelnen Person sein. Die Therapie sollte in einer Atmosphäre der Offenheit und Geborgenheit stattfinden. Eine Grundlage der Therapie ist das PLISSITModell. In der Therapie nach Masters und Johnson werden aufeinander aufbauende Verhaltensübungen durchgeführt und in paartherapeutischen Sitzungen besprochen. Das sexuelle Erleben soll Schritt für Schritt aufgebaut werden. Das Sensualitäts-Training soll das Geben und Nehmen von Zärtlichkeiten trainieren. Stopp-Start-Technik (Partner-Technik zum Erlernen der Kontrolle über die Ejakulation) Therapie Je nach Ursache können bei der erektilen Dysfunktion auch stärker organisch geprägte therapeutische Ansätze gewählt werden (z.B. medikamentöse Behandlung, Schwellkörperautoinjektion). Bei Transsexualismus besteht die Möglichkeit der hormonellen und chirurgischen Geschlechtsumwandlung sowie der juristischen Personenstandsänderung. Das genaue Vorgehen ist im „Transsexuellen-Gesetz" geregelt. Aus chirurgischer Sicht ist die Umwandlung vom Mann zur Frau erfolgreicher. Die Therapie von Paraphilien. Die Patienten haben meist eine sehr ambivalente Motivation. Die Psychotherapie muss eine klare Struktur und Grenzen haben, ist zu Beginn oft supportiv ausgerichtet, muss die unterschiedliche soziale Lage berücksichtigen und der jeweiligen Motivation angepasst sein. Ziel ist die Fähigkeit, die Verantwortung für das eigene Leben und die Störung übernehmen zu können. Prinzipielle Möglichkeiten sind eine Dämpfung des Sexualtriebes oder der Versuch der Verhaltensmodifizierung. Die therapeutischen Erfolge sind zweifelhaft. Verlauf Sexuelle Störungen beginnen meistens im frühen Erwachsenenalter, sie können jedoch (besonders bei Erektionsstörungen) auch erst später einsetzen. Die Störungen können anhaltend sein oder sich auf einzelne Episoden beschränken. Die Prognose von Störungen der Geschlechtsidentität hängt maßgeblich von den Reaktionen der Umwelt und der subjektiven Verarbeitung ab. Exkurs: Homosexualität Definition: Sexuelle Zuwendung zu Personen des eigenen Geschlechts. Homosexuelles Verhalten wird nicht als sexuelle „Störung" klassifiziert. Homosexuelles Verhalten kann aber unter bestimmten Bedingungen auch psychiatrische Bedeutung erlangen, z.B. bei Diskriminierung oder im Rahmen der AIDS-Erkrankung. Unterschiedliche Formen homosexuellen Verhaltens sind: Neigungshomosexualität: dauerhafte Festlegung des psychosexuellen Interesses auf das gleiche Geschlecht Hemmungshomosexualität: beruht vorwiegend auf einer als neurotisch anzusehenden Hemmung vor dem anderen Geschlecht Entwicklungshomosexualität: episodisches Auftreten gleichgeschlechtlicher Regungen in der psychosexuellen Reifung Pseudohomosexualität: die homosexuelle Betätigung ist nur eine Ersatzhandlung oder ereignet sich aus nichtsexuellen Motiven (z.B. in Gefängnissen). Therapeutisch kann es nötig sein, durch Psychotherapie dazu beizutragen, dass der Betroffene seine persönliche Selbstverwirklichung unter ausreichender Anpassung an die heterosexuelle Umwelt erreichen kann.