Sozialgeographie: Räumliche Strukturen der Gesellschaft 290118 VO © Peter Weichhart 3 Std., 4 ECTS-Punkte Dienstag, 17:00 –18:00 HS 4C und Mittwoch, 12:00 – 14:00; Hs. 5A, Kapitel 29.01; 29.02; 29.05; (B11-3.2) (B07-3.2) (L2-b2, L2-b3, L2-b-zLV) Modul 01/02 Die „Wien – Münchener Schule“ der Sozialgeographie WS 2013/14 Sozgg01/02/01 Der Status der Sozialgeographie Anfang der 1960er Jahre • Die Sozialgeographie konnte sich in den letzten Jahren als neue Perspektive der Humangeographie und als eigenständige Disziplin erfolgreich etablieren; • zahlreiche Publikationen; • „Sozialgeographie“ im Namen von Instituten. (nach H. BOBEK, 1962) Sozgg01/02/02 Zentraler Forschungsgegenstand: Sozialgruppen „Sozialgruppen“: „Gruppen von Menschen spezifischen Verhaltens“ (S. 83); Das Verhalten der Mitglieder wird durch Gruppen „weitgehend ausgerichtet“ (S. 78); Aus dem „Manifestwerden gleichartigen Verhaltens“ könne auf das Vorhandensein der Gruppe geschlossen werden (S. 78). Sozgg01/02/03 Ein wichtiger Erkenntnisanspruch Gesellschaftliche Prozesse und soziale Gruppen sind der eigentliche Erklärungshintergrund für die „erdräumlichen“ Phänomene, die von der Humangeographie untersucht werden. Integrierende Funktion der Sozial geographie, weg von den „Schubladengeographien“. Sozgg01/02/04 Begründung: „... die verschiedenen menschlichen Funktionen (Tätigkeiten), die innerhalb eines Gebietes festgestellt werden können, (werden) nicht mehr nach sachlich-systematischen Gruppen wie Handel, Verkehr, Industrie, Landwirtschaft, Kult, Politik usw. ... getrennt für sich untersucht, sondern ... vielmehr jeweils den Sozialgruppen zugeordnet, von denen sie ihren Ursprung nehmen. Hierdurch wird es erst möglich, die inneren Zusammenhänge wirklich zu erkennen“. (S. 85, Hervorhebung P. W.) Sozgg01/02/05 Grundtypen von Gesellschaften „Welche sozialgeographischen Einheiten sind ... vom Gesellschaftlichen vorangelegt? (S. 89) Die Identifikation „räumlicher Gesellschaftskörper“ „... dürfte eine der Hauptfragestellungen einer Allgemeinen Sozialgeographie sein.“ (S. 89) Sozgg01/02/06 Grundtypen von Gesellschaften • Siedlungen „örtlich begrenzte Gesellschaften“, „Lokalgesellschaften“, entsprechen den „Gemeinden“ der Soziologie (R. KÖNIG, 1958); „... Soziale Einheiten auf lokaler Basis ..., in der die Menschen zusammenwirken, um ihr wirtschaftliches, soziales und kulturelles Leben zu fristen.“ (S. 90). Sozgg01/02/07 Grundtypen von Gesellschaften • Zentrierte Regionen Zentrale Orte und ihr Umland (funktionaler Verflechtungsbereich). Neue sozialräumliche Grundstruktur, die über die Lokalgesellschaft hinausgeht und in der Ausrichtung einer Bevölkerung auf ein Zentrum ihren Ausdruck findet. Sozgg01/02/08 Grundtypen von Gesellschaften • unzentrierte Regionen a.) gauhafte Siedlungsgebiete Freibäuerliche Siedlungsbereiche ohne Zentralisierung oder städtischen Kern, loser Zusammenhang durch verwandtschaftliche Beziehungen; b.) Reviere Entstehen auf der Grundlage standörtlicher Bedingungen (Bergbaureviere). SozggI/01/02/09 Grundtypen von Gesellschaften • Staaten (Länder) und Völker Staaten als Friedens- und Machtinstrumente mit Souveränitätsrechten und Zwangsgewalt über die Bevölkerung; territoriale Organisationsstruktur, oft auf ethnischer Grundlage. • Kulturreiche (Zivilisationen) oder Sozialsysteme Kulturell bestimmt, schwer abgrenzbar. Sozgg01/02/10 Die Position von E. OTREMBA Ausgangspunkt: „Uns obliegt nun heute die Frage, ob diese starke Hinwendung zur Sozialgeographie ... die Einheit der Geographie berührt, ob hier eine neue Bereicherung und Stärkung der Stellung oder ein Zündstoff zur Sprengung der Einheit der Kulturgeographie vorliegt ...“ E. OTREMBA, 1969 (1962), S. 106, Hervorhebung P. W. Sozgg01/02/11 Brauchen wir eine „Allgemeine Sozialgeographie“? „Von der Sache her gesehen, lautet die Frage so: Wie steht die Gesellschaftsgruppe im Verhältnis zum Individuum und zur Bevölkerung bzw. in deren herkömmlicher Gliederung in ihrer Raumwirksamkeit? Von der Beantwortung dieser Frage hängt die Entscheidung für oder wider die Eigenständigkeit der Sozialgeographie ab.“ (S. 112, Hervorhebung P. W.) Sozgg01/02/12 Disziplinäre „Eifersüchtelei“? „Die Wirtschaft ist Leistung im Raum und sie gestaltet den Raum; sie wird von Menschen ausgeübt und dient der Menschheit. ... Es ist nun die entscheidende Frage für uns, ob wir diese Korrelation zwischen Mensch und Wirtschaft sorgfältig hüten wollen, ... oder ob wir durch den Aufbau einer Sozialgeographie neben der Wirtschaftsgeographie den ersten Riss zu einer gefährlichen Aufgliederung der ganzen Geographie des Menschen begünstigen wollen.“ (S. 113) Sozgg01/02/13 Disziplinäre „Eifersüchtelei“? ... Ich meine, dass der Begriff „Wirtschaftsgeographie“ keiner Ergänzung und Betonung durch den Zusatz „und Sozialgeographie“ bedarf, weil die Wirtschaft Menschenwerk schlechthin ist und selbstverständlich die Betrachtung des Menschen einschließt.“ E. OTREMBA, 1969 (1962), S. 113 Sozgg01/02/14 These: Die Menschheit wird „im Raum“ in drei Formen wirksam: • als Bevölkerung • als Menschengruppe • als Einzelpersönlichkeit „... es fehlt dann noch eine Geographie des Individuums.“ (S. 118) Sozgg01/02/15 BOBEKs Replik • Thesen zur Sozialgeographie waren doch neu; • „Sprengung der Einheit“: In Wahrheit wirkt die Sozialgeographie integrativ; • Ablehnung des Wortes „sozial“ verkennt die gängige Sprachverwendung • Eine „Geographie des Individuums“ ist ein „Unding“. Sozgg01/02/16 Begründung: Die Geographie beschäftigt sich grundsätzlich weder mit einzelnen Pflanzen noch mit Einzelmenschen und ihren Problemen. Gelegentlich wird in der Länderkunde von einzelnen bedeutenden Menschen und ihren Werken die Rede sein müssen, sofern sie in Landschaft und Lebensraum bestimmend eingegriffen haben; daraus kann man aber noch keine Geographie des Individuums machen.“ H. BOBEK, 1969 (1962); S. 134/135. Sozgg01/02/17 Diskrepanz Trotz des Verweises auf die Bedeutung der benachbarten Sozialwissenschaften ist für die klassische deutsche Sozialgeographie eine Vernachlässigung bis Ignoranz des allgemeinen sozialwissenschaftlichen Diskurses zu beobachten. Sozgg01/02/18 Die „WienMünchener Schule“ Sozgg01/02/19 „Kategoriale Grunddaseinsfunktionen“ nach D. PARTZSCH • Wohnen • Arbeiten • Sich-Versorgen • Sich-Bilden • Sich-Erholen • Verkehrsteilnahme • In Gemeinschaft leben Bilden das „anthropogene Kräftefeld“ Die Daseinsfunktionen besitzen spezifische Flächenund Raumansprüche und „verortete“ Einrichtungen. Funktion Standort Sozgg01/02/20 Der Innovationsschub der Sozialgeographie • Bedeutsamer Schritt in Richtung auf eine „Anthropozentrierung“ der Humangeographie: der Mensch als Akteur rückt in den Vordergrund; • Wahrnehmung der sozialen Organisiertheit des Menschen; Entdeckung sozialer Systeme. Sozgg01/02/21 W. HARTKE (1959): Räume gleichen sozialgeographischen Verhaltens „Die Landschaft als Bezugsfläche aller geographischen Wissenschaft ist in ihren sich verändernden Teilen genetisch weitgehend das Nebenergebnis menschlichen Lebens und Handelns auf der Erde. Sie ist zwar nicht Selbstzweck oder gar Ziel des menschlichen Lebens. Sie ist auch nicht einfach nur Grundlage der Existenz des Menschen. Sie ist aber nicht ohne den Menschen als Gestalter und Betrachter denkbar. Sie ist in jedem Fall ... Ergebnis menschlicher Wertung.“ (S. 162). W. HARTKE, 1959 (1969), S. 162. Sozgg01/02/22 W. HARTKE (1959): Räume gleichen sozialgeographischen Verhaltens • Wertungen können sich auch auf nur vorgestellte Eigenschaften des Lebensraumes beziehen, die gar nicht der „objektiven“ Realität entsprechen; • individuelles menschliches Handeln kann in erheblichem Maße durch Gruppenzwänge beeinflusst sein. Sozgg01/02/23 W. HARTKE (1959): Räume gleichen sozialgeographischen Verhaltens • Landschaftliche Prägungsprozesse sind durch die Bindung der Akteure an bestimmte Gruppen regional begrenzt; daher sind auch ihre „Spuren“ in der Landschaft regional beschränkt; • Bei der Suche nach „Räumen gleichen sozialen Verhaltens“ bediene man sich dieser Spuren oder „Indices“. Sozgg01/02/24 Indices/Indikatoren „In derartigen Räumen gleichen sozialen Verhaltens gilt es ..., hierfür typische Merkmale im Landschaftsbild zu finden, zu kartieren und zu analysieren, um eine der geographischen Hauptaufgaben, beschreibende und erklärende Gliederung der Welt, zu erfüllen.“ W. HARTKE, 1969 (1959), S. 167/8), Hervorhebung P. W. Sozgg01/02/25 Die Landschaft als Palimpsest „Mit Benutzung derartiger Indices ist es in der Landschaft möglich, wie auf einer photographischen Platte Aktionen und Reaktionen zu registrieren, die sonst oft sehr viel später ... fassbar werden ...“ W. HARTKE, 1969 (1959), S. 168), Hervorhebung P. W. Sozgg01/02/26 Indices der klassischen Sozialgeographie • Ausmärker • Sozialbrache • Aufforstung • Blightphänomene Indices verweisen auf „dahinter“ stehende soziale Prozesse (Übergang von der Agrarzur Industrie- und DienstleistungsGesellschaft). Sozgg01/02/27 „Definition“ der Sozialgeographie „Die Sozialgeographie ist die Wissenschaft von den räumlichen Organisationsformen und raumbildenden Prozessen der Daseinsgrundfunktionen menschlicher Gruppen und Gesellschaften (nach SCHAFFER, 1968, S. 16). J. MAIER et al., 1977, S. 21 Sozgg01/02/28 Das Hauptinteresse der Sozialgeographie ... „... zielt auf die Raumwirksamkeit der Sozialgruppen bzw. die Gesellschaften in ihren räumlichen Aktivitäten mit ihren raumgebundenen Verhaltensweisen und den von ihnen ausgehenden raumbildenden Prozessen und Funktionen.“ J. MAIER et al., 1977, S. 22 Sozgg01/02/29 „Definition“? „Die Sozialgeographie ist die Wissenschaft von den räumlichen Organisationsformen und raumbildenden Prozessen der Daseinsgrundfunktionen menschlicher Gruppen und Gesellschaften (nach SCHAFFER, 1968, S. 16). J. MAIER et al., 1977, S. 21 Sozgg01/02/30 Aufgabenstellungen der klassischen Sozialgeographie • Bestimmung der räumlichen (geographischen) Sozialstruktur (räumliche Verteilung raumwirksamer Gruppen); • Bestimmung des räumlichen Systems der Funktionen und Prozesse dieser Gruppen (geographisches Sozialsystem); • Erfassung der Raumstrukturen („funktionierende Stätten“). Sozgg01/02/31 Welche Gruppen sind die „Träger“ der Daseinsgrundfunktionen? Sich-Versorgen: Haushalte Wohnen: Haushalte Verkehrsteilnahme: Individuen Arbeiten: Individuen, Teams Sich-Bilden: Individuum Sozgg1/02/32 „In Gemeinschaft leben“ Welche Gruppe „trägt“ die Funktion „in Gemeinschaft leben“? Gruppen werden dadurch konstituiert, dass ihre Mitglieder in Gemeinschaft leben. Das „in Gemeinschaft leben“ trägt also die Funktion „in Gemeinschaft leben“. ? Sozgg01/02/33 Gruppenkonzepte der WienMünchener Schule „In seiner räumlichen Aktivität wird der Mensch als Mitglied von Gruppen, sozialen Gebilden, gesehen, die sein Handeln beeinflussen oder lenken ...“ J. MAIER et al., 1977, (S. 44). Wie grenzt man solche Gruppen ab? Sozgg01/02/34 Die „Gruppe“ der „SchumpeterUnternehmer“ „Dieser...Unternehmer ist gewissermaßen als Pionier als erster mit einem Produkt auf dem Markt, macht also einen besonderen Gewinn, bis seine Konkurrenten nachziehen. Dieses Verhalten könnte geradezu charakteristisch individuell erscheinen“ (S. 44). Sozgg01/02/35 Die „Gruppe“ der „SchumpeterUnternehmer“ „Da aber im gleichen Augenblick in vielen Branchen und auf vielen Gebieten derartige Pionierleistungen zu beobachten sind, haben wir es mit einem typischen Gruppenverhalten zu tun“. J. MAIER et al., 1977, (S. 44/45, Hervorhebung P. W.). Gruppe oder Handlungstyp? Sozgg01/02/36 Beispiele sozialgeographischer Gruppen • Lebensformgruppen (entsprechen als einiges Gruppenkonzept dem soziologischen Verständnis!) • Verhaltensgruppen „Befinden sich Menschen in einer vergleichbaren sozialen Lage und entwickeln sie infolgedessen Verhaltensweisen, die vergleichbare Einflüsse auf räumliche Strukturen und Prozesse ausüben, dann kann man diese Menschen derselben „sozialgeographischen Verhaltensgruppe“ zurechnen“ (S. 50). Sozgg01/02/37 Beispiele sozialgeographischer Gruppen • Aktionsräumliche Gruppen „Bei der Entfaltung ihrer Existenz sind die Menschen ... auf charakteristisch zugeordnete Standorte im Bereich ihrer Grunddaseinsfunktionen angewiesen. Wohn- und Arbeitsstandort, Versorgungs-, Bildungs-, Freizeitstandorte gehören zu den wichtigsten Positionen eines „Funktions-Standort-Systemes“, auf das sich im Laufe eines Tages, einer Woche, eines Monats ... die räumlichen Handlungen der Menschen beziehen ...“ S. 52/53 Sozgg01/02/38 Beispiele sozialgeographischer Gruppen • Aktionsräumliche Gruppen „Personen und Haushalte bilden dann eine sozialgeographische Gruppe, wenn sie gleichartige „Funktions-Standort-Systeme“ entwickeln und/oder sich darin annähernd gleichartig verhalten“. (S. 52/53) Sozgg01/02/39 Das „Prinzip der Persistenz“ „Mit der Errichtung, funktionierender Stätten‘ ... schränkt die Gesellschaft ihre eigene Handlungsfreiheit in erheblicher Weise selbst ein. Den Freiheiten menschlicher Zielvorstellungen stehen damit konkrete, häufig recht stabile Raumsituationen gegenüber.“ J. MAIER et al., 1977, (S. 79). Sozgg01/02/40 Das „Prinzip der Persistenz“ „Oft sind die bisherigen Investitionsleistungen so hoch, dass man sie ohne Überwindung großer Widerstände kaum rückgängig machen kann. Diese Persistenz der Infrastrukturen bedeutet gleichsam eine stabilisierende Gegenkraft gegen Veränderungstendenzen, die aus der gesellschaftlichen Entwicklung erwachsen.“ (S. 79) Sozgg01/02/41 „Indikatoren als Prozessanzeiger“ „Der Begriff des Indikators wird ... als entweder in der Landschaft sichtbares oder mit Methoden der empirischen Sozialforschung ermitteltes Merkmal ... verstanden, mit dessen Hilfe man auf indirektem Wege nicht unmittelbar erfassbare Aspekte der Raumstruktur und raumprägende ,typische Prozesse unseres heutigen sozialen Lebens’ ermitteln, analysieren und interpretieren kann“ (S. 81). Sozgg01/02/42 „Sozialbrache“ Unter „Sozialbrache“ versteht man „... das Brachfallen bisher landwirtschaftlich genutzter Flächen aufgrund sozialer Veränderungen bei den Gruppen, die über den Boden bzw. seine Nutzung verfügen.“ (S. 84) Sozialbrache Flurwüstung Sozgg01/02/43 Die Kritik von Eugen WIRTH • Konzeptionelle Grundstruktur nicht neu, nicht originär; • völlig unzulängliche Berücksichtigung von Begriffen und Konzepten der modernen Sozialwissenschaften, eigene Begriffe erscheinen „selbstgebastelt“; • besonders auffällig wird dieses Defizit beim Konzept der „sozialgeographischen Gruppe“. Sozgg01/02/44 Der soziologische Gruppenbegriff ... stellt den Aspekt der Interaktion zwischen den Gruppenmitgliedern in den Vordergrund. Demgegenüber sei die „sozialgeographische Gruppe ein Gemenge aus sehr heterogenen Elementen. Sozgg01/02/45 Die Gretchenfrage: Brauchen wir eigentlich eine eigenständige Sozialgeographie, oder machen das die Soziologen nicht schon lang (und vielleicht sogar besser)? Sozgg01/02/46