Sozialgeographie © Peter Weichhart, 2003 M 06/02 WS0304 -1- SozGg06/02/01 Wir haben im letzten Modul ein einfaches handlungstheoretisches Modell der MenschUmwelt-Interaktion besprochen und dabei einige der Grundbegriffe und Grundkonzepte der Handlungstheorie kennen gelernt. Wir haben gesehen, dass die Handlungstheorie gegenüber den älteren Ansätzen der Sozialgeographie zweifellos eine Reihe von Vorzügen aufweist. Fassen wir noch einmal kurz zusammen, worin die wichtigsten Stärken dieses Paradigmas liegen. SozGg06/02/02 Eine klar erkennbare Verbesserung ergibt sich durch das neue Menschenbild. # Mit den handlungstheoretischen Ansätzen kann die Sozialgeographie ein realitätsangemesseneres und der Komplexität menschlicher Existenz entsprechenderes Menschenbild übernehmen, bei dem auch die Bedeutung subjektiver Rationalität und Kausalität angemessen berücksichtigt ist. Sozialgeographie M 06/02 B-1– # Der zweite entscheidende Vorzug besteht drin, dass es möglich und erforderlich ist, sich auf systematische Weise mit den für den Menschen so fundamentalen Phänomenen Sinn und Wert zu befassen. Die Bedeutung dieser normativen Grundstrukturen menschlicher Weltsicht als Steuergrößen und eigentlich entscheidende Determinanten menschlichen Tuns sowie deren selbstreferenzielle Dynamik kann bisher nur von der Handlungstheorie angemessen erfasst werden. # Der wohl wichtigste Vorzug der Handlungstheorie besteht darin, dass mit ihrer Hilfe der soziale Kontext menschlicher Tätigleiten berücksichtigt werden kann. Im Rahmen dieses Paradigmas wird es möglich, die sozial mitbedingte Entstehung von Wertkonfigurationen, die Einbindung von Individuen und Gruppen in den Kontext des übergeordneten sozialen Systems und die sozialen Bedingungsfelder menschlichen Tuns auf dem Weg über humanteleologische Erklärungsmodelle darzustellen. Damit kann die Sozialgeographie eine definitiv und dezidiert Sozialgeographie © Peter Weichhart, 2003 M 06/02 WS0304 -2- gesellschaftstheoretische Perspektive übernehmen und sich endlich konsequent in den Kanon der Sozialwissenschaften einordnen. Damit wird es ihr auch möglich, aus dem reichen Fundus sozialwissenschaftlicher Theorien zu schöpfen. # Da viertens im Rahmen dieses Modells aber auch das menschliche Einzelindividuum, die Person und Persönlichkeit des Handlungsträgers ausdrücklich thematisiert ist, ergibt sich gleichzeitig die große Chance, einerseits auch endlich Zugang zu psychologischen Theorien zu finden. Andererseits ergibt sich die Notwendigkeit, eine Integration von gesellschaftstheoretischen und mikroanalytisch-individualtheoretischen Perspektiven anzustreben und zu realisieren. Diesen letztgenannten Punkt müssen wir im Folgenden noch etwas ausführlicher besprechen. Wir haben schon darauf hingewiesen, dass empirische Arbeiten innerhalb dieses Paradigmas in der Sozialgeographie noch recht selten sind. Das liegt unter anderem daran, dass eine handlungstheoretisch konzipierte Untersuchung Sozialgeographie M 06/02 B-2– nur mit großem Aufwand operationalisierbar ist. Aus den Überlegungen im letzten Abschnitt kann abgeleitet werden, dass auch kognitive Prozesse und die Entwicklung appraisiv-designativer Mental Maps in Zusammenhang mit konkreten Handlungsabläufen stehen. Die Welt wird im Handeln erfahren. Dies bedingt, dass bereits die Grundkonzeption einer empirischen Untersuchung auf die Handlungsrelevanz von Analyseeinheiten Rücksicht nehmen muss. Wir haben darauf bei der Besprechung von Untersuchungen zum Thema Wohnsitzpräferenzen schon hingewiesen. Es macht wenig Sinn, Wohnsitzpräferenzen von Probanden erfragen zu wollen, die zum Zeitpunkt der Befragung gar keine Wohnung suchen. Relevante Antworten könnte man nur dann erwarten, wenn die Inhalte einer Befragung mit der aktuellen Lebenssituation und dem aktuellen Handlungskontext der Probanden korrespondieren. SozGg06/02/03 Im Folgenden soll noch kurz besprochen werden, welche „konzeptionellen Bausteine“ erforderlich Sozialgeographie © Peter Weichhart, 2003 M 06/02 WS0304 -3- sind, um das Paradigma einer handlungstheoretischen Sozialgeographie inhaltlich so zu entwickeln, dass substanzielle empirische Ergebnisse erzielt werden können. # Ein wichtiger Aspekt ist hier die Entwicklung eines Beschreibungsrasters, mit dessen Hilfe die Vielzahl menschlicher Handlungen nach Ähnlichkeiten zusammengefasst und in ihren charakteristischen Verlaufsformen dargestellt werden können. Erforderlich wäre also eine Art formaler und inhaltlicher Typologie von Handlungen. # Ein besonders zentraler Punkt ist die Einbindung der konzeptionellen Grundlagen einer handlungstheoretischen Sozialgeographie in die generelle und aktuelle „Sozialtheorie“ der Sozialwissenschaften. Besonders wichtig erscheint hier die Verknüpfung von Mikro- und Makroperspektive der Sozialwissenschaften. Hier bietet sich besonders die „Strukturationstheorie“ des britischen Soziologen Anthony GIDDENS an, die wir im Folgenden kurz besprechen werden. Sozialgeographie M 06/02 B-3– Für diesen zweiten Bereich ist die innergeographische Entwicklungsarbeit am weitesten vorangeschritten. Insbesondere in den Veröffentlichungen von Benno WERLEN liegt hier eine elaborierte Grundlage vor, die als solides Fundament der handlungstheoretischen Sozialgeographie gelten kann. Offen ist allerdings noch die Möglichkeit, neben GIDDENS noch andere Konzeptionen von Handlungstheorie für die Sozialgeographie nutzbar zu machen. Hier werden wir im Folgenden in sehr knapper Form die „Symbolische Handlungstheorie“ des Kulturpsychologen Ernst Emmerich BOESCH ansprechen. # Als dritten großen konzeptionellen Baustein der handlungstheoretischen Sozialgeographie möchte ich die Entwicklung paradigmenspezifischer Raumkonzepte anführen. Hier hat Benno WERLEN mit seinen Konzepten der „alltäglichen Regionalisierungen“ und des „Schauplatzes“ ebenfalls schon wichtige Impulse geliefert. Es sind aber gerade in diesem Bereich noch besonders viele Fragen offen. Besonders interessant erscheint hier die Möglichkeit, das Konzept des Sozialgeographie © Peter Weichhart, 2003 M 06/02 WS0304 -4- „Schauplatzes“ (GIDDENS spricht von „locale“) durch das umweltpsychologische Konzept des „behavior settings“ zu ergänzen und inhaltlich zu konkretisieren (vergl. P. WEICHHART, 2003). SozGg06/02/04 Wie kann man Handlungen eigentlich formal und inhaltlich beschreiben? Lassen sich Handlungen in inhaltlicher oder funktionaler Sicht zu bestimmten Klassen oder Typen zusammenfassen? Wie bekommt man so etwas wie Ordnung und Generalisierbarkeit in die Vielfalt menschlichen Tuns? # Eine erste Möglichkeit besteht vielleicht darin, „lebensweltliche“ # und „professionalistische“ Handlungstypen zu unterscheiden. Lebensweltliche Handlungen oder Alltagshandeln stellen menschliches Tun dar, das im Vollzug der alltäglichen Existenz abläuft. Demgegenüber werden professionalistische Handlungen als „theoriegeleitetes Tun“ aufgefasst. # Tatsächlich ist aber auch Alltagshandeln auf Wissensbestände abgestützt, deren Inhalte man Sozialgeographie M 06/02 B-4– als „lebensweltliche Theorien“ bezeichnen könnte. Einerseits handelt es sich hier um diskursives Wissen, also ein Wissen, das gelehrt werden kann, sprachlich artikuliert wird und auch schriftlich kodifiziert sein kann – in Texten gespeichert ist und über die Zeit transportiert wird. In sehr erheblichem Maße beziehen sich lebensweltliche Theorien auch auf „Wissensbestände“, die man als „tacit“ oder „implicit knowledge“ bezeichnet. Auch Alltagshandeln ist also „theoriegeleitet“, wenngleich die hier relevanten Theorien eine andere Form und andere Inhalte aufweisen, als wir es von „wissenschaftlichen“ oder technischen Theorien gewohnt sind. # Letztere sind für das professionalistische Handeln bedeutsam. Um Handlungen als analytisch fassbare Einheiten von Geschehensströmen darstellen zu können, erscheint es sinnvoll, sie nach Zusammenhängen zu strukturieren, die aus der Sicht des Akteurs oder Handlungsträgers als kognitive Einheiten darstellbar sind. Dazu bietet sich das Konzept des # „Projekts“ an. Dieses Konzept wurde ursprünglich im Rahmen der Zeitgeographie des Sozialgeographie © Peter Weichhart, 2003 M 06/02 WS0304 -5- schwedischen Geographen Torsten HÄGERSTRAND und seiner Schule entwickelt. (Wir werden noch sehen, dass HÄGERSTRAND eine wichtige Rolle für die Entwicklung der handlungstheoretischen Sozialgeographie spielt. Er ist einer der wenigen Geographen, deren theoretische Konzepte von Nachbardisziplin Soziologie ernsthaft rezipiert wurde. So hat Anthony GIDDENS in seiner Strukturationstheorie ausdrücklich und intensiv auf die Zeitgeographie HÄGERSTRANDs Bezug genommen.) Sozialgeographie M 06/02 B-5– Socienties” (1982) auf Seite 48. (Ich übersetze die Stelle gleich.) Parallel dazu und ohne gegenseitige Bezugnahme ist das handlungstheoretische Konzept des „Projekts“ zeitgleich aber auch in der Psychologie von Brian B. LITTLE entwickelt worden. # Unter einem Projekt versteht man Sequenzen zukunftsbezogener Aktivitäten von Individuen und Gruppen, die zur Erreichung eines vordefinierten Ziels oder Ergebnisses geplant und durchgeführt werden. Als Ergebnis ihrer Durchführung entstehen irgendwelche Systemzustände, Produkte, soziokulturelle Outputs. Die mit Projekten verknüpften Aktivitäten müssen auf Ressourcen zurückgreifen. Sie beanspruchen Zeit, nutzen Raum-Zeitstrukturen von Siedlungssystemen, Energie, Materialien, Werkzeuge, andere Menschen und verschiedene andere Einrichtungen oder Gegebenheiten. SozGg06/02/05 SozGg06/02/06 Der HÄGERSTRAND-Schüler Tommy CARLSTEIN hat 1982 eine sehr einprägsame Definition des Projekt-Begriffes vorgelegt. Es findet sich in seinem Buch „Time Resources, Society and Ecology. On the Capacity for Human Interaction in Space and Time. Vol. 1. Preindustrial Auch in der Sozialpsychologie werden seit Anfang der 1980er Jahre übergeordnete Handlungseinheiten als „personal projects“ bezeichnet. Dieses Konzept wurde mit dem ausdrücklichen Ziel entwickelt, eine adäquate Analyseeinheit für die Darstellung von Individuum- Sozialgeographie © Peter Weichhart, 2003 M 06/02 WS0304 -6- Umwelt-Interaktionen bereitzustellen. Ein besonderer Vorteil des Konzepts besteht darin, dass es als interaktive Messkategorie die Persönlichkeitsmerkmale und Wertekonfigurationen von Handlungsträgern mit dem zeitlichen, räumlichen, sozialen und instrumentellen Kontext des Handlungsgefüges in Verbindung bringt. Nach Brian B. LITTLE lässt sich ein Projekt folgendermaßen definieren (ich übersetze gleich): # Ein „persönliches Projekt“ wird als Menge zusammengehöriger oder aufeinander bezogener Handlungsakte angesehen, die sich über die Zeit hin erstrecken. Mit diesen Akten wird das Ziel verfolgt, einen bestimmten Zustand zu erreichen, der vom Individuum antizipiert und vorhergesehen wird. In persönlichen Projekten kommen kognitiven, affektive und tätigkeitsbezogene Aspekte menschlichen Tuns zum Ausdruck. Daher sind sie besonders gut als integrale Untersuchungseinheiten in der Persönlichkeitsforschung geeignet. Sie stellen gleichsam natürliche Interaktionseinheiten dar, in denen typischerweise die aktive Sozialgeographie M 06/02 B-6– Auseinandersetzung von Einzelpersönlichkeiten mit ihrer Umwelt in einem spezifischen zeitlichen Kontext zum Ausdruck kommen. Als analytische Untersuchungseinheiten stellen persönliche Projekte den jeweiligen Handlungsträger in einen raum-zeitlichen Zusammenhang konkreter Rahmenbedingungen. Persönliche Projekte sind also exakt auf die kognitiven Strukturen individueller und gruppenoder kulturspezifischer Welterfahrung und Sinnfindung zugeschnitten. SozGg06/02/06 Projekte sind also Vehikel der Zielerreichung oder des Strebens nach einem Ziel. Sie besitzen damit auch eine ihnen innewohnende Prägekraft für konkrete Handlungsvollzüge. Man könnte von den „positiven Zwängen“ eines Projekts sprechen. # Projekte „kanalisieren“ gleichsam die Handlungsvollzüge, lenken sie in eine bestimmte Richtung, haben eine allokative Kraft. # Wenn einmal eine Entscheidung zur Verfolgung eines bestimmten Zieles getroffen wurde und die Sozialgeographie © Peter Weichhart, 2003 M 06/02 WS0304 -7- erforderliche Handlungssequenz begonnen wurde, dann zwingt diese Entscheidung dazu, den begangenen Weg weiter zu schreiten. Dies ist schon deshalb einleuchtend, weil ansonst die bereits getätigten „Investitionen“ an Arbeit und Material verloren oder entwertet wären. Nehmen wir als Beispiel einen Bauern, der gerade seine Feldfrüchte ausgesät hat und damit einen Schritt zur Erreichung seines Produktionsziels gesetzt hat. Er ist nun durch seine eigene Wahl und seine eigene Entscheidung dazu genötigt, die notwendigen Feldund Pflegearbeiten weiterzuführen, bis die Ernte eingebracht ist. Denn wenn er das nicht tut, wird er sein Ziel nicht erreichen und überdies werden die bislang getätigten Arbeiten nutzlos, das bisher eingesetzte Kapital und Material wären verloren. Er könnte auch nicht irgendwann im späteren Frühjahr auf die Idee kommen, jetzt andere Feldfrüchte auszuwählen und sein Produktionsziel nachträglich zu verändern. Denn der Zeitpunkt der Aussaat ist in der Zwischenzeit verpasst. # Projekte legen die Synchorisation und die Synchronisation der Einzelelemente, Mittel und Sozialgeographie M 06/02 B-7– Beteiligten einer Handlungssequenz fest. Die Einzelteile einer Handlungssequenz, in die ja andere Personen, Werkzeuge, Hilfsmittel, Institutionen etc. einbezogen sind, müssen wie die Zahnräder einer komplizierten Maschine ineinander greifen, perfekt aufeinander abgestimmt sein, damit das Gesamtprojekt vorangetrieben und realisiert werden kann. Ein Beispiele für eine solche Synchorisation und Synchronisation: Sie können ein Studium nur an einem Hochschulort und während einer bestimmten Zeitperiode beginnen, nämlich innerhalb der Inskriptionsfrist am Semesterbeginn. Und Sie müssen (zumindest bei der Immatrikulation) persönlich anwesend sein. Es ist also eine „Kopräsenz“ mit anderen Akteuren eines bestimmten Handlungssystems erforderlich. Die Realisierung bestimmter Ziele, die Ausführung von bestimmten Handlungen setzen voraus, dass die Interaktionspartner eines Projekts gleichzeitig am gleichen Ort zusammenkommen. Wenn ich etwas kaufe, dann muss ich in der Regel persönlich mit dem Verkäufer im Geschäft zusammentreffen. Sozialgeographie © Peter Weichhart, 2003 M 06/02 WS0304 -8- Natürlich gibt es im Zeitalter der Telekommunikation auch vielfältige Möglichkeiten, diese Kopräsenz zu umgehen: Teleshopping, Internetshopping oder Versandhandel sind geläufige Beispiele. Der weitaus überwiegende Anteil aller derartigen Interaktionsbeziehungen findet aber auch heute unter den Bedingungen einer körperlichen Kopräsenz statt. SozGg06/02/08 Aus diesen Hinweisen und Beispielen wird auch klar, welche wichtige Rolle dem Raum in der Handlungstheorie zukommt. Erstmals ist hier eine anspruchsvolle sozialwissenschaftliche Theorie entstanden, in der räumliche Gegebenheiten, Anordnungsmuster und Konstellationen nicht einfach ausgeblendet, als unerhebliches Beiwerk vernachlässigt oder bestenfalls als Rahmenbedingung interpretiert werden. # In den Handlungstheorien wird „Raum“ vielmehr als unabdingbarer Bestandteil, funktionales oder instrumentelles Element bzw. „Werkzeug“ von Handlungsvollzügen fassbar. # Es wird ausdrücklich thematisiert, dass Handlungen auch Sozialgeographie M 06/02 B-8– „Schauplätze“ haben, an bestimmten Orten stattfinden. Diese Schauplätze (A. GIDDENS spricht von „locales“) sind „regionalisiert“, sie werden in Bezug auf bestimmte Handlungselemente in sozial definierte funktionale Teilabschnitte gegliedert. Wir werden darauf noch näher eingehen. Aus Zeitgründen können wir eine Reihe von Fragen zur Handlungstheorie jetzt nicht mehr besprechen: etwa die Typisierung von Handlungen nach ihrem Komplexitätsgrad, die Zusammenhänge zwischen Lebensstilen und Handlungstypen oder etwas, das man „Handlungsgrammatik“ nennen könnte. Darunter wäre gleichsam die „Syntax“ von Handlungen zu verstehen. (Handlungen können einen kommunikativ-diskursiven Interaktionsstil aufweisen oder autoritär strukturiert sein; partnerschaftlich, gruppenbezogen oder individualistisch geprägt sein, eine offensive oder eine defensive Struktur aufweisen etc.) Der WERLENsche Entwurf einer handlungstheoretischen Sozialgeographie basiert Sozialgeographie © Peter Weichhart, 2003 M 06/02 WS0304 -9- in starkem Maße auf der Strukturationstheorie des britischen Soziologen Anthony GIDDENS. Zum Verständnis der Entwürfe und Konzepte WERLENs müssen wir uns zumindest mit den Grundzügen der Strukturationstheorie vertraut machen. SozGg06/02/09 # Anthony GIDDENS, Jahrgang 1938, ist der bekannteste und einflussreichste britische Soziologe der Gegenwart. Seine Bekanntheit stützt sich nicht nur darauf, dass er in der Politikberatung (für Tony BLAIR) tätig ist, sondern auch auf eine sehr umfangreiche Publikationstätigkeit. Er schreibt pro Jahr etwa zwei Bücher. Er promovierte an der London Schiool of Economics and Social Politics (LSE). 1969 ging er als Dozent an die Universität von Cambridge und als Fellow an das dortige King’s College. 1985 wurde er Professor am Social and Political Commitee der Universität Cambridge, seit 1997 ist er Direktor der London School of Economics. Seine theoretischen Schriften werden weit über die Soziologie hinaus rezipiert. Sozialgeographie M 06/02 B-9– Wenn man sein theoretisches Werk auf kürzestmögliche Weise charakterisieren sollte, dann müsste man wohl das Folgende sagen: # Die soziologischen Theorien, wie sie Laufe des letzten Jahrhunderts entwickelt wurde, folgt im Wesentlichen zwei kontrastierenden Denkschulen: einer kollektivistisch-strukturellen und einer individualistisch-interpretativen Gruppe von Ansätzen. (Wir haben darauf schon mehrmals hingewiesen.) Die erste Gruppe konzentriert sich auf soziale Strukturen und vertritt eine systemtheoretisch-funktionalistische Auffassung, bei das Primat des Sozialen vor dem Individuellen ausdrücklich betont wird. Strukturalismus und Funktionalismus betonen also den Vorrang des gesellschaftlichen Ganzen vor seinen individuellen Teilen. Als besonders wichtigen Klassiker dieser Richtungen könnte man stellvertretend für viele andere Talcot PARSONS nennen. Demgegenüber betonen die sogenannten interpretativen Richtungen der Soziologie den Vorrang des handelnden Individuums, des handelnden Subjekts, aus dessen sinnbezogenem Sozialgeographie © Peter Weichhart, 2003 M 06/02 WS0304 - 10 - Tun so etwas wie soziale Strukturen erst entstehen können. Max WEBER oder Alfred SCHÜTZ können als Klassiker dieser Richtungen angesehen werden, die methodologisch auf der Phänomenologie und der Hermeneutik basieren. Diese beiden Hauptrichtungen der Soziologie haben sich in strenger Konkurrenz zueinander entwickelt und erscheinen ihren jeweiligen Vertretern als absolut inkompatibel und unvereinbar. Beide Richtungen sind aber auch mit Problemen konfrontiert, weisen Defizite und Schwachstellen bei ihren Erklärungspotentialen auf. Die kollektivistisch-systemtheoretischfunktionalistischen Richtungen vermögen nicht zu erklären, wie in einer grundlegend sozial konstruierten Welt so etwas wie menschliche Individualität und Persönlichkeit entstehen kann, und wie andererseits durch das subjektive Wirken herausragender Einzelpersönlichkeiten gesellschaftliche Gegebenheiten tief greifend verändert werden können. Sie sind damit auch nicht im Stande, die Einmaligkeit einer menschlichen Person auszuloten. Die Sozialgeographie M 06/02 B - 10 – subjektivistisch-interpretativen Richtungen scheitern letztlich am Unvermögen, Intersubjektivität begründen und funktionale Strukturen sozialer Systeme erklären zu können. Diese Spaltung, dieser Dualismus findet natürlich auch in den anderen Sozialwissenschaften ihren Niederschlag. Die empirisch vorfindbare Praxis der Sozialgeographie, die wir in wesentlichen Bereichen bereits kennen gelernt haben, ist letztlich ein Spiegelbild dieser Situation: den funktionalistischen und strukturtheoretischen Ansätzen der makroanalytischen (WienMünchener-Schule, Raumstrukturforschung) und der gesellschaftstheoretischen Sozialgeographie stehen die mikroanalytischen Ansätze weitgehend unverbunden und gleichsam dichotomisch gegenüber. Genau dieser Dualismus zwischen dem in seiner Ausschließlichkeit unangemessenen Objektivismus der kollektivistischen Richtungen und dem ebenso unangemessenen reinen Subjektivismus der interpretativen Soziologie ist der Ausgangspunkt von GIDDENS’ Kritik an der Sozialgeographie © Peter Weichhart, 2003 M 06/02 WS0304 - 11 - Theorie der gegenwärtigen Sozialwissenschaft. # GIDDENS wendet sich, wie er einmal sehr pointiert formuliert hat, gegen den jeweils orthodoxen Imperialismus sowohl der strukturellsystemtheoretischen Perspektive als auch der interpretativen Perspektive. Er will die bestehende Lücke zwischen dem sozialen Objekt und dem Subjekt endlich schließen und damit die makroanalytischen und die mikroanalytischen Ansätze der Soziologie in einem theoretischen Gesamtkonzept integrieren. # Es ist sein ausdrückliches Ziel, den Dualismus zwischen dem sozialen System und dem handelnden Individuum aufzuheben und als nur scheinbaren Gegensatz zu entlarven. In methodologischer Hinsicht bedeutet diese Zielsetzung die Überwindung des Dualismus von strukturell-kausalistischen Verfahren auf der einen und von interpretativ-teleologischen Verfahren auf der anderen Seite. Das ist die Hauptstoßrichtung der GIDDENSschen „Theorie der Strukturierung“. Die englische Erstveröffentlichung erschien 1984 unter dem Titel „The Constitution of Society. Sozialgeographie M 06/02 B - 11 – Outline of the Theory of Structuration”. Die deutsche Übersetzung erfolgte 1988. Erinnern Sie sich bitte an unsere Beurteilung der verschiedenen parallelen Entwicklungen in der Sozialgeographie. Wir haben konstatiert, dass alle besprochenen Ansätze in irgendeiner Form inkomplett sind, alle weisen Schwachstellen und Defizite auf. Genau deshalb ist dieser Versuch GIDDENS’ zu einer Überwindung der Dichotomie zwischen Kollektivismus und Individualismus für die Sozialgeographie so interessant. SozGg06/02/10 Das zentrale Konzept, der Schlüsselbegriff der Strukturationstheorie, ist die Dualität der Struktur (duality of structure). In einer einfachsten Darstellung zusammengefasst meint GIDDENS damit Folgendes: # Handelnde und Struktur, also individuelle menschliche Akteure und soziale Systeme dürfen nicht als polare Gegensätze oder als Dualismus verstanden werden. Sie stellen vielmehr Momente ein und derselben soziokulturellen Wirklichkeit dar und stehen in Sozialgeographie © Peter Weichhart, 2003 M 06/02 WS0304 - 12 - einem dialektischen Vermittlungsprozess. Soziale Strukturen werden nur über konkrete Handlungen existent und können nur im Handlungsvollzug produziert und reproduziert werden. Gesellschaftliche Strukturen werden also durch das menschliche Handeln konstituiert und sind gleichzeitig das Medium dieser Konstituierung. Die soziale Welt entsteht nach GIDDENS also in konkreten Interaktionssituationen und sie ist gleichzeitig die Voraussetzung für die Existenz der individuellen menschlichen Handlungsfähigkeit. Ohne handelndes Subjekt kann soziale Struktur gar nicht existieren und schon gar nicht reproduziert werden. # Ohne soziale Struktur ist die Existenz menschlicher Akteure als individuelle Personen gar nicht denkbar. Diesen dynamischen Prozess der Strukturerzeugung nennt GIDDENS „Strukturierung“. Natürlich ist es im Rahmen dieser VL nicht möglich, hier auch nur die wichtigsten Grundzüge der Theorie der Strukturierung darzulegen. Eine sehr komprimierte Zusammenfassung oder Kürzestversion in Form von 10 Theoremen findet Sozialgeographie M 06/02 B - 12 – sich in seinem Buch „A Contemporary Critique of Historical Materialism. Vol. 1, Power, Property and the State“ aus dem jahr 1981. Eine sehr knappe Darstellung der Strukturationstheorie hat Anette TREIBEL in ihrem Lehrbuch „Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart“ (erschienen in 5. Auflage, 2000) vorgelegt, deren Ausführungen ich im Folgenden in veränderter und gekürzter Form übernehme. SozGg06/02/11 Bereits das Menschenbild, das GIDDENS in seiner Theorie entwirft, verweist auf seinen Anspruch, den Dualismus von Mikro- und Makrotheorie zu überwinden. GIDDENS’ menschliche Wesen sind sich ihrer selbst bewusst, aktiv und selbstreflexiv: # „Die Handelnden oder Akteure ... besitzen als integralen Aspekt dessen, was sie tun, die Fähigkeit, zu verstehen, was sie tun, während sie es tun“ (1988, S. 36). # Akteure besitzen also die Fähigkeit zur Reflexivität und Selbstreflexivität. Sozialgeographie © Peter Weichhart, 2003 M 06/02 WS0304 - 13 - Durch die ständige oder häufige Anwesenheit von anderen Menschen, mit denen ein Akteur interagiert, entstehe so etwas wie eine besondere Vertrautheit und Seinsgewissheit. # Diese durch wechselseitige Interaktionen gekennzeichnete Situation des gleichzeitig am gleichen Ort Zusammenseins nennt GIDDENS „Kopräsenz“. SozGg06/02/12 Als „Gegenbegriff“ oder komplementäres Konzept zum Handeln setzt GIDDENS den Begriff „Struktur“ ein. # Unter „Strukturen“ versteht GIDDENS die „Regeln und Ressourcen“, die in die Produktion und Reproduktion sozialer Systeme eingehen. # „Strukturen sind die institutionellen, dauerhaften Gegebenheiten, mit denen die Individuen konfrontiert werden, in denen sie sich „bewegen“ und mit denen sie „leben“ und sich auseinandersetzen müssen“ (A. TREIBEL, S. 244). Eine Universität oder eine Lehrveranstaltung ist beispielsweise so eine Struktur. Sozialgeographie M 06/02 B - 13 – # Strukturen werden erst im Handeln real. Akteure beziehen die Strukturen in ihr Handeln ein, die Strukturen verleihen dem Handeln Sicherheit und Kontinuität. TREIBEL führt als Beispiel ein Seminar an: „So wissen die Studierenden über ein Seminar, dass es eineinhalb Stunden dauert, zu Anfang und Ende jedoch gewisse Spielräume existieren (verspäteter Beginn und verzögertes, „ausfransendes“ Ende) oder dass z. B. nicht um Erlaubnis gefragt werden muss, wenn man zur Toilette geht oder sich einen Kaffee holen will. Die Beteiligten kennen die Regeln und halten sich daran, haben aber auch einen Gestaltungsspielraum“ (S. 244/5). SozGg06/02/13 Strukturen bestehen – wir haben es schon fetsgehalten – aus Regeln und Ressourcen. # Unter Regeln versteht GIDDENS die Techniken und Verfahren, die im praktischen Bewusstsein zum Ausdruck kommen. Das praktische Bewusstsein ist das meist nicht reflektierte und problematisierte Wissen der Akteure über soziale Zusammenhänge, Prozesse und Gegebenheiten. Sozialgeographie © Peter Weichhart, 2003 M 06/02 WS0304 - 14 - Es ist eine Art Alltagswissen über die Funktionsweise der sozialen Welt. # Ressourcen sind nach GIDDENS die Hilfsmittel, die zusätzlich zu den Regeln notwendig sind, um soziale Systeme herzustellen und zu erhalten. Sie dienen also der Produktion und Reproduktion von Systemen. # Struktur ermöglicht Handeln, bietet Orientierung für die Bewältigung des alltäglichen Lebensvollzugs und definiert die Rahmenbedingungen individueller Handlungsoptionen. # Gleichzeitig setzen Strukturen damit die Grenzen unseres Handelns fest und führen damit zu einer gewissen Einheitlichkeit und Vergleichbarkeit menschlicher Handlungssysteme. Für GIDDENS entspricht „Struktur“ genau dem, was in der makroanalytischen Soziologie als „System“ bezeichnet wird: es handelt sich um überindividuelle soziale Entitäten. Während bisher aber Handeln und soziale Systeme als polare Gegensätze aufgefasst wurden, behauptet GIDDENS, dass beide als komplementäre Sozialgeographie M 06/02 B - 14 – Aspekte derselben Sache angesehen werden müssen. SozGg06/02/14 Er ersetzt damit den früher gängigen Dualismus von Individuum und Gesellschaft durch die Dualität von Handlung und Struktur (häufig spricht er auch nur von „Dualität der Struktur“). Seine zentrale These lautet also (1988, S. 290): # „Die Begriffe ;Struktur’ und ;Handeln’ bezeichnen so die allein analytisch unterschiedenen Momente der Wirklichkeit strukturierter Handlungssysteme. Strukturen selbst existieren gar nicht als eigenständige Phänomene räumlicher und zeitlicher Natur, sondern immer nur in der Form von Handlungen und Praktiken menschlicher Individuen. Struktur wird immer nur wirklich in den konkreten Vollzügen der handlungspraktischen Strukturierung sozialer Systeme...“ Strukturen sind also die Voraussetzung sozialer Interaktionen und gleichzeitig ihr Ergebnis. Sozialgeographie © Peter Weichhart, 2003 M 06/02 WS0304 - 15 - FRAGEN? SozGg06/02/15 Während in den meisten anderen soziologischen Theorien Zeit und (vor allem) Raum weitgehend vernachlässigt werden, stellt GIDDENS den konstitutiven Charakter dieser beiden Dimensionen für soziale Gegebenheiten und Handlungsprozesse in aller Deutlichkeit heraus. Dabei beruft er sich auf den schwedischen Geographen Torsten HÄGERSTRAND und den Soziologen Erving GOFFMAN. # Als (für die Sozialgeographie besonders relevante) Innovation geht GIDDENS ausdrücklich von der These aus, dass Raum-Zeit-Beziehungen eine fundamentale und konstitutive Bedeutung für die Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens besitzen. # GIDDENS unterscheidet drei Formen der Räumlichkeit. # 1.) Die Regionen. Darunter kann man funktional beschreibbare Bereiche von Handlungsbühnen verstehen. Mit GOFFMAN Sozialgeographie M 06/02 B - 15 – lassen sich zum Beispiel „vorderseitige“ und „rückseitige“ Bereiche von Regionen unterscheiden. In einem Restaurant wäre der Gastraum eine vorderseitige, die Küche und die Arbeitsräume eine rückseitige Region. In einer Wohnung sind das Vorzimmer und das Wohnzimmer „vorderseitige“, Schlafzimmer oder Abstellräume „rückseitige“ Bereiche. ... # 2.) Die räumlichen Aspekte des Körpers und seiner Bewegung in Zeit und Raum # und 3.) die örtlichen Gegebenheiten und Bindungen von Institutionen und Konventionen. Damit ist das Faktum gemeint, dass bestimmte Handlungen in der Regel immer auch an bestimmten Orten stattfinden. Ehen werden zum Beispiel meist auf dem Standesamt und/oder in der Kirche geschlossen, Gerichtsverhandlungen finden im Gerichtssaal statt etc. Es gibt generalisierbare Zusammenhänge zwischen alltäglichen Handlungen und den Orten, an denen sie stattfinden. Sozialgeographie © Peter Weichhart, 2003 M 06/02 WS0304 - 16 - Sozialgeographie M 06/02 B - 16 – Als Bezeichnung für die spezifischen Schauplätze von Handlungen führt GIDDENS – wie bereits erwähnt – den Begriff „locale“ ein. strukturelle Praxis sozialer Systeme verknüpft die Zeitlichkeit der durée der alltäglichen Lebenswelt mit der „longue durée“ von Institutionen. Ähnliche Zusammenhänge können für die Zeitlichkeit sozialer Gegebenheiten festgehalten werden. # Räumlichkeit und Zeitlichkeit verdeutlichen, dass gesellschaftliche Strukturen für den individuellen Akteur gleichermaßen im Sinne von Chance oder Ermöglichung, aber auch im Sinne von Zwängen oder Constraints zu sehen sind. SozGgM06/02/16 Unter Bezug auf den Philosophen Henri BERGSON und den Anthropologen Lévi-Strauss unterscheidet GIDDENS drei Formen oder „Schichten“ von Zeitlichkeit: # 1.) den Lebenslauf bzw. die zeitliche Struktur, die sich aus dem unmittelbaren Interaktionszusammenhang bei den Sozialkontakten der Akteure ergibt, # 2.) die tagtägliche Wiederholung sozialer Aktivitäten, die als „durée“ bezeichnet wird und # 3.) die „longue durée“ der Institutionen. Damit sind die Zeitrhythmen und Lebenszyklen von Institutionen gemeint. Institutionen werden von GIDDENS als soziale Praktiken beschrieben, die sich über große zeit-räumliche Distanzen erstrecken (z. B. Universität, Landesregierung, Partei). Die FRAGEN? Nach diesem knappen „Sturzflug“ über die Konzeptionen von Anthony GIDDENS möchte ich einige Teilaspekte der Strukturationstheorie herausstreichen, die für die Sozialgeographie besonders wichtig erscheinen. Besonders herauszustellen ist der Versuch GIDDENS’, Gesellschaft als objektiven Strukturzusammenhang und gleichzeitig als subjektvermittelte Handlungswirklichkeit von Individuen kategorial verfügbar zu machen. Sozialgeographie © Peter Weichhart, 2003 M 06/02 WS0304 - 17 - SozGg06/02/17 Dabei kommt es zu einer Modifikation des Handlungsbegriffes. Im Gegensatz zu klassischen Formen der Handlungstheorie wird „Handeln“ bei GIDDENS # nicht ausschließlich durch Intentionalität bestimmt. Nach seiner Auffassung soll sich „Handeln“ nicht nur auf die Intentionen der beteiligten Subjekte beziehen, sondern auch auf deren praktisches Vermögen, Veränderungen in der materiellen und sozialen Welt zu bewirken. Es geht also auch um die vom Handeln produzierte Objektivität selbst, um die von den Akteuren hervorgebrachten Geschehnisse. Das sind also Dinge, die sich ohne die aktive Intervention eines menschlichen Subjekts nicht ereignet hätten. Handeln ist also auch als Eingreifen des Menschen in die natürliche und soziale Ereigniswelt zu verstehen. Dabei kommt es ihm auch darauf an, das Eingebettetsein des Handelns in Raum und Zeit herauszuheben. GIDDENS belässt dabei das intentionale Subjekt als „homo creator“ im Mittelpunkt der Betrachtung. Sozialgeographie M 06/02 B - 17 – Ihm kommt es aber darauf an festzuhalten, dass Handeln durch Intentionalität allein nicht erschöpfend charakterisiert werden kann. Damit bezieht er sich genau auf jenen Kritikpunkt, den wir bei der Besprechung der klassischen Handlungstheorie schon betont haben: Die unzulängliche Berücksichtigung der nichtintendierten Folgen menschlichen Tuns. # Im Konzept GIDDENS’ ist dieses Defizit behoben. In der Strukturationstheorie können auch die nichtintendierten Folgen angemessen behandelt werden. Wenn wir die Handlungstheorie für die Sozialgeographie nutzbar machen wollen, dann ist das ein sehr bedeutsamer Punkt. Denn viele Erscheinungen der sozialräumlichen Realität sind nur als unbeabsichtigte Folgen menschlichen Tuns zu erklären. Die Produktion bestimmter industriell gefertigter Güter wird ja nicht mit der ausdrücklichen Absicht unternommen, die Umwelt zu schädigen, der Attentäter von Sarajewo wollte mit hoher Wahrscheinlichkeit NICHT den Gaskrieg von Flandern bewirken, die Erbauer und Betreiber von Tschernobyl wollten Strom (und vermutlich auch Sozialgeographie © Peter Weichhart, 2003 M 06/02 WS0304 - 18 - Material für Atomsprengköpfe), aber mit Sicherheit keine Nuklearkatastrophe produzieren. Die „Symbolic Action Theory” von E. E. BOESCH als Bespiel für eine sozialpsychologische Handlungstheorie und ihr möglicher Nutzen für die Sozialgeographie. …. Die handlungstheoretische Sozialgeographie wurde hier nur sehr kursorisch und in groben Zügen behandelt. Eine wesentlich tiefschürfendere Darstellung findet sich im Lehrbuch von B. WERLEN (2000). Sozialgeographie M 06/02 B - 18 –