Unterrichtsstrukturen – was ist das? Nachdem wir uns letztes Mal damit beschäftigt haben, was im Sinne von PISA eine gute Schule sein könnte, richten wir heute unser Augenmerk auf Unterrichtsstrukturen. Was sind Strukturen im Unterschied zu Organisationen und zu Institutionen? Drei Begriffe gilt es zu klären: Struktur, Organisation und Institution. Diese drei Begriffe werden sowohl differenzierend als auch synonym verwandt. Ich beginne meinen Definitionsversuch mit dem synonymen Gebrauch: Wer heute im Internet recherchiert oder ganz handfest in der Bibliothek blättert, nutzt beispielsweise zwei Strukturen, Organisationen oder Institutionen, ohne die Wissenschaft mittlerweile ebenso undenkbar wäre wie ohne Universitäten, staatliche und private Forschungseinrichtungen und Fachmedien. Weitere Beispiele für alltägliche Institutionen, Strukturen, Organisationen sind die Kirchen, die Banken, der Straßenverkehr, die Ehe, Umweltschutzorganisationen, Kaufhäuser, Parteien, die Abfallentsorgung und natürlich die Schule. Ein Leben ohne diese Strukturen, Organisationen und Institutionen wäre nur schwer vorstellbar. Dabei ist ihre Lebensnotwendigkeit mindestens ebenso unbestritten wie ihre Kritikwürdigkeit. Letztere leitet unmittelbar zu den vier Grundfragen gesellschaftlicher Institutionen: Wie sind sie entstanden? Wer steuert ihre Funktionen? Wie lassen sie sich verändern? Was an ihnen ist Struktur, was Handlung? Mit der Entstehung der Grundschule haben wir uns ausgiebig befasst. Wir sind schließlich letzte Woche mit PISA an einem Punkt angelangt, von dem aus wir sagen müssen: „Das was die Grundschule werden sollte, ist sie noch nicht geworden.“ Ich hatte Ihnen gesagt, dass wir Älteren nun alle Hoffnung auf Sie setzen, dass Sie das schaffen, indem Sie differenzierten Unterricht machen, der anerkennt, dass das Lernen der Kinder im Mittelpunkt steht – jedes einzelnen Kindes. Einige von Ihnen haben sich dagegen verwehrt und den Ball zurückgegeben. Die Gesellschaft stelle zu wenig Geld zur Verfügung für gute Bildung. Aber dann kam auch der Einwand mehr Geld mache noch nicht kompetent. Ein anderes Argument war, dass unser Schulwesen in ungeeigneter Weise aufgebaut sei. Es sei stark selektiv und wenig auf Förderung gerichtet, es erzeuge über den Unterricht bei zu geringer Zeit für das Lernen Leistungsdruck gebe aber keine geeignete Leistungsförderung So könnte man nun den Spielball immer hin und herwerfen. Position eins: Die Institution stellt nicht die richtigen Strukturen für das unterrichtliche Handeln. Position zwei: Die LehrerInnen und Lehrer können nicht richtig unterrichten. Und die LehrerInnen schließlich bringen eine weitere Komponente ein: Die Eltern hätten ihren Kindern nicht die banalsten Grundlagen beigebracht und brächten sie außerdem jedes Wochenende völlig durcheinander. Ehe wir heute über Unterrichtsstrukturen sprechen, möchte ich den Zusammenhang zwischen Handeln und Struktur zu klären versuchen. Letztes Mal hatten wir uns ein Modell betrachtet. Es ging darum, wie man Schule verändern kann. Es gab Ablaufpläne Organisationsentwicklung. Ähnliches gibt es auch für die Unterrichtsentwicklung. für Dahinter stand eine handwerklich-rezepthafte Auffassung organisatorischer Veränderungsprozesse. Strukturen, Organisationen und Institutionen sind in diesem Verständnis, was die beteiligten Menschen daraus machen. Wir nennen das einen interaktionistischer Ansatz. Soziale Strukturen werden durch individuelles Handeln erklärt. Das andere Erklärungsmodell besagt, Schule ist so organisiert, dass sie gar nicht anders kann als auslesen. Das individuelle Handeln der Lehrerinnen und Lehrer wird wesentlich durch die strukturellen Bedingungen der Schule bestimmt. Hier wird das individuelle Handeln durch die sozialen Strukturen determiniert gedacht. Ansatz des situational handelnden Akteurs Ebene der Ebene der Organisation in Organisation ihrer Umwelt/ und ihrer Population Untereinheiten Interaktionismus Erklärung sozialer Strukturen durch individuelles Handeln Strukturalismus HAB\ARBEIT\ ORGANISATIONSTHEORIEN.PPT U. Carle 11-98 Erklärung individueller Handlungen durch soziale Strukturen aus: Markus GMÜR 1993: Organisationstheorien Ansatz des rational handelnden Akteurs Synopse der gebräuchlichsten Organisationstheorien Zustandstheorien Prozeßtheorien (Erklärung von Zuständen und Prozessen, die zu solchen führen) Ordnungstheorien Konflikttheorien (natürliche Harmonie) (natürliche Gegensätze) (Erklärung vonVeränderungen unabhängig von vorbestimmten Zuständen) 1 3 5 Theorien der rationalen Ordnung Theorien des rationalen Konflikts Theorien der rationalen Veränderung 2 4 6 Theorien der situativen Ordnung Theorien des situativen Konflikts Theorien der situativen Veränderung 7 9 11 Theorien der strukturellen Ordnung Theorien des strukturellen Konflikts Theorien der strukturellen Veränderung 8 10 12 Theorien der Theorien des Theorien der überstrukturellen überstrukturellen überstrukturellen Ordnung Konflikts Veränderung Abbildung 0-1: GMÜRs Matrix der fünf häufigsten Perspektiven auf das, was Organisationen bewegt: Strukturen, Individuen, Ordnung, Konflikt, Prozesse Schauen wir uns die Grafik genauer an, so stellen wir fest, weder das strukturalistische Gedankengerüst noch das interaktionistische alleine bringt uns weiter. Es geht vielmehr darum beides zusammenzudenken. Hierfür liefert beispielsweise Antony Giddens Strukturierungstheorie eine Möglichkeit. Um diese Theorie zu verstehen, ist es sinnvoll, sich mit seinen Begriffen auseinander zu setzen. Im Folgenden werde ich um GIDDENS' Strukturierungstheorie herum die vier Begriffe Handeln, Struktur, Organisation und Institution beschreiben: GIDDENS Modell des rekursiven Doppelcharakters sozialer Strukturen Institution Gesellschaftliche Strukturen und Institutionen werden in einem systemisch-evolutiven Sinne produziert und reproduziert Organisation Die höhere Ebene der sozialen Strukturierung regelt die Reproduktion der jeweils niedrigeren Strukturebene Struktur Handlungsbedingungen HAB\ARBEIT\INSTITUTION-GIDDENS.PPT Handeln Handeln Handeln Handlungsfolgen U. Carle 11-98 Abbildung 0-2: Alltägliches praktisches Handeln (re-) produziert seine eigenen sozialen Strukturen Handeln: Handelnde bzw. soziale Akteure sind mit Gestaltungsfähigkeit, "Reflexionsmächtigkeit und Intentionalität ausgestattete menschliche Wesen". Ihr alltägliches Handeln vollzieht sich größtenteils unbewusst in einem kontinuierlichen Handlungsstrom. Trotzdem steuern die Akteure ihr Handeln und reflektieren dies vor allem beim Auftauchen unerwarteter Handlungsfolgen oder unerkannter Handlungsbedingungen (vgl. GIDDENS, ANTONY 1997: Die Konstitution der Gesellschaft, 55 ff). Struktur: Strukturen oder Strukturgefüge sind Regeln-Ressourcen-Komplexe (des Sinns, der Macht und der Normierung) sozialer Systeme, die an der Systemreproduktion rekursiv mitwirken. Strukturen steuern also die Reproduktion situierter Systempraktiken ebenso wie die Reproduktion ihrer Systemstruktur selbst (ebd. 45). "Diese [Strukturmomente] ermöglichen die Einbindung von Raum und Zeit in soziale Systeme und sind dafür verantwortlich, dass soziale Praktiken über unterschiedliche Spannen von Raum und Zeit hinweg als identische reproduziert werden, also systemische Formen erhalten" (ebd. 68f). Organisation: GIDDENS benutzt den Begriff 'Organisationen' im soziologischen Sinne für konkrete Kollektive. Organisationen sind demnach zeitlich und räumlich überdauernde Ensembles handelnder Menschen im Rahmen institutioneller Strukturen, z.B. die Schulklasse, die Mitglieder der Einzelschule Institution: "Jene [sozialen] Praktiken, die in diesen [gesellschaftlichen] Totalitäten die größte Ausdehnung in Raum und Zeit besitzen " (ebd. 69). Etwas ist institutionalisiert. Die Dualität von Strukturen und Handeln sowie ihre Vermitteltheit über Modalitäten in Anlehnung an GIDDENS 1997, Konstitution der Gesellschaft (81) Sinn Herrschaft Legitimation Handlungsformen/Verfahren/Medien interpretative Schemata Machtmittel Ressourcen Normen Verhaltensmuster Praktisches Handeln Kommunikation HAB\ARBEIT\STRUKTURDUALITAET-GIDDENS.PPT Machtausübung Sanktionierung Verallgemeinerung Orientierung / Sicherung System-Strukturen U. Carle 11-98 Abbildung 0-3: GIDDENS' Schema der Dualität und Mediatisierung institutioneller Strukturen Stärker an die eigenen Zusammenhänge und Begriffe adaptiert, lässt sich die Logik von GIDDENS' Strukturierungstheorem wie folgt skizzieren (GIDDENS'schen Begriffe sind kursiv): Handeln heißt, in die Welt einzugreifen bzw. sich solcher Eingriffe zu enthalten, mit der Absicht, Einfluss auf bestimmte Prozesse oder Zustände auszuüben. Menschheitsgeschichtlich wird dieser aktualgenetische Einfluss auf Zustände und Prozesse in Kollektiven zu überdauernden sozialen Praktiken verallgemeinert, d.h. strukturiert und darüber hinaus zu gesellschaftlich dauerhaften Praktiken, zu Institutionen verfestigt. Im alltäglichen Handeln sind soziale Strukturen immer schon vorgegeben; Handeln ist also immer über Handlungsformen vermittelt und durch Strukturmomente bis hin zu gesellschaftlichen Strukturprinzipien ausgerichtet und koordiniert (nicht aber determiniert). Trotzdem bestehen diese sozialen Strukturen nicht außerhalb des Handelns der Menschen, denn beim alltäglichen Handeln werden die bestehenden Handlungsformen und Strukturen laufend reproduziert, variiert und durch allmähliche Verallgemeinerung von alternativen Handlungen neue Praktiken, Strukturen und Programme angelegt. Soziale Strukturen werden zwar kollektiv organisiert, aber immer auch gesellschaftlich institutionalisiert; Strukturen vermitteln die Interessen zwischen System und Umwelt (z.B. zwischen schulischem Lernen und gesellschaftlichen Bildungsbedürfnissen). Alltägliches Handeln vollzieht sich weitgehend unbewusst; dies betrifft sowohl die unmittelbare Handlungssteuerung als auch die zugrunde liegende Handlungsmotivation; bewusst ist dagegen der Austausch über Handlungsursachen. Auf der unmittelbaren Handlungsebene ('praktische' oder 'operative Ebene') können unerwartete Handlungsfolgen bzw. unerwartete Handlungsbedingungen reflektiert werden ("Praktisches Bewusstsein"). Die kollektiv gültigen Gründe für die strukturellen Absichten des Handelns und die damit verbundene Verteilung von Ressourcen auf der strategischen Ebene sind üblicherweise leichter reflektierbar ("Diskursives Bewusstsein"). Die sinnvermittelnden übergeordneten Handlungsprogramme auf der Orientierungsebene sind im alltäglichen Handeln kaum der Reflexion zugänglich und damit auch kaum veränderbar ("Grundlegendes Sicherungssystem"). GIDDENS Stratifikationsmodell der Handlungsregulation Diskursives Bewusstsein (bewusstseinspflichtig) Praktisches Bewusstsein (bewusstseinsfähig) unerkannte Handlungsbedingungen HAB\ORG\INSTITUTION-GIDDENS.PPT (Motive u. Potentiale) Handlungsrationalisierung (Ursachen u. Absichten) Lernen und Innovieren (Deutung von Erwartungsabweichungen) Reflexive Steuerung des Handels Die höheren Ebenen der Handlungsregulation sind Verallgemeinerungen der Verfahrensweisen der Handlungspraxis (kaum bewusstseinsfähig) Handlungsmotivation Die höheren Ebenen der Handlungsregulation orientieren und koordinieren die kollektiven Handlungszusammenhänge Unbewusste Motive / Wahrnehmung (Art und Weise der Ausführung) Praktisches Handeln Praktisches Handeln unbeabsichtigte Handlungsfolgen U. Carle 11-98 Abbildung 0-4: Handeln reguliert sich auf verschiedenen Ebenen, in unterschiedlicher Bewusstheit und Ganzheitlichkeit (Verbundenheit der Ebenen) Strukturleitermodell institutioneller Akteure in Anlehnung an GIDDENS 1997 und BRONFENBRENNER 1981 mundo Gesellschaftliche Strukturen Gesellschaftsformen Institutionen makro Institutionelle Strukturen (gesellschaftlicher Handlungszusammenhang) Institutionsformen Organisationen OrganisationsStrukturen meso (gesellschaftliches Strukturmoment) Organisationsformen Tätigkeiten HandlungsStrukturen mikro (reproduktives Strukturmoment) Handlungsformen Kollektive InteraktionsStrukturen nano (kommunikatives Strukturmoment) Interaktionsformen Individuen PersönlichkeitsStrukturen Persönlichkeitsformen Selbstbewusstheit ReflexionsStrukturen STRUKTURLEITER.PPT (HandlungsträgerIn mit inkorporierten Strukturmomenten) U. Carle 03-99 (inkorporierte Interaktionsstrukturen) Abbildung 0-5: Strukturhierarchie der institutionellen Systemebenen ("Strukturleitermodell") in Anlehnung an GIDDENS' Stratifikationsmodell und BRONFENBRENNER's Systemebenenmodell