Lernziele Internationale Beziehungen Prof. Dr. Theo Rättisch SS 2005 03.05.2005: Lernabschnitt 1 1. Nennen und erläutern Sie drei Funktionen der Theorie nach Daniel Frei. Nach Daniel Frei hat eine Theorie eine Selektions-, eine Ordnungs- und eine Erklärungsfunktion. Die Selektionsfunktion beinhaltet Aussagen/Hinweise darüber, welche Informationen in Bezug auf die Fragestellung relevant sind und welche nicht und dient so einer wissenschaftlichen Untersuchung als Bezugsrahmen. Dies ist eng verbunden mit der jeweiligen Analyseebene (Individuum, Akteur oder System). Die Ordnungsfunktion bringt die gewonnen Informationen in eine begrifflichsystematische Ordnung. Dies ist Voraussetzung für systematisch-kausale Aussagen, also die Erklärungsfunktion. Letztere beschreibt, welche unabhängige Variable die abhängige Variable erklärt. 2. Zeichnen Sie ein Modell, das unabhängige, abhängige und intervenierende Variablen umfasst und erläutern Sie dies kurz. unabhängige Variable intervenierende Variablen abhängige Variable In diesem Modell wird die abhängige Variable durch die unabhängige Variable erklärt. Es besteht also ein kausaler Zusammenhang zwischen beiden. Parallel dazu gibt es intervenierende Variablen, die den Zusammenhang zwischen unabhängiger und abhängiger Variable überlagern, aber nicht mit der abhängigen Variablen in einem kausalen Zusammenhang stehen. 3. Skizzieren Sie jeweils knapp eine geistesgeschichtliche und eine sozialhistorische Begründung der zwei Theorien Realismus und Idealismus. geistesgeschichtlich: Hobbes ► Hans Morgenthau ►Realismus Kant ► Norman Angell/Woodrow Wilson ► Idealismus sozialhistorisch: (Theorien sind auch politisch-wissenschaftliche Reaktionen auf tatsächliche Ereignisse) Erster Weltkrieg ► Idealismus ► [Institutionalismus/Interdependenztheorie] Zweiter Weltkrieg ► Realismus ► [Neo-Realismus] 4. Worin unterscheiden sich normative von empirisch-analytischen Theorien? Nennen Sie drei Gründe. a) Bei normativen Theorien gibt es allgemeingültige Werte, die durch theoretische Anstrengung gesetzt werden. Empirisch-analytische Theorien dagegen beschränken sich auf die intersubjektive und überprüfbare Beschreibung und Erklärung von Beobachtbarem. b) Normative Theorien sollen Anleitung zum Handeln geben. Empirisch-analytische Theorien trennen jedoch strikt zwischen Analyse und Bewertung. c) Normative Theorien halten das Gute und Richtige für erkennbar, empirischanalytische Theorien beinhalten jedoch die Möglichkeit der Falsifikation, also der Widerlegung. (Eine Theorie besitzt nur so lange Gültigkeit, bis sie durch eine andere widerlegt wurde.) 5. Erläutern Sie die Anforderungen an Methoden im Szientismus. Forschung muss im Szientismus theoriegeleitet sein und den Analysegegenstand erklären. Darauf sollen Prognosen aufgebaut werden können. Es werden also empirische Regelmäßigkeiten gesucht, die als Gesetzesaussagen formuliert werden können. Es werden unabhängige, abhängige, aber auch intervenierende Variablen berücksichtigt. Theorie ist also notwendig. Aussagen müssen objektiv und nachprüfbar sein. Datenerhebung und Auswertung müssen transparent sein. Außerdem müssen Aussagen auf beobachtbarem Verhalten basieren. Die Vorgehensweise im Szientismus soll induktiv (vom Speziellen zum Allgemeinen) sein. Beobachtbare empirische Regelmäßigkeiten müssen also zu allgemeinen Aussagen führen. 6. Erläutern Sie das Problem der Wahrnehmung in szientistischen und reflexiven Theorien. In szientistischen Theorien bedeutet Wahrnehmung das Beobachten von Akteursverhalten. Problematisch dabei ist, dass es gewisse Beschränkungen im Beobachten sowie des Beobachters gibt. Beispielsweise lässt sich das Verhalten von Großorganisationen oder Staaten nur schwer beobachten bzw. muss festgemacht werden, woran sich das Verhalten beobachten lässt. In reflexiven Theorien gibt es dagegen keinen objektiven Zustand. Wahrnehmung ist das Ergebnis der Interpretation der Wirklichkeit. Das methodische Problem liegt darin, dass die Interpretation der Wirklichkeit (1. hermeneutische Ebene) vom Beobachter interpretiert werden muss (2. hermeneutische Ebene). 7. Nennen und erläutern Sie die 4 Debatten der Wissenschaft der Internationalen Beziehungen. Die erste Debatte in den Wissenschaften der IB wurde während und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen den Theorien Idealismus (herrschende Theorie nach dem Ersten Weltkrieg) und dem Realismus geführt. Etwa ab den 60er-Jahren schloss sich eine Methoden-Debatte zwischen dem Traditionalismus und dem Szientismus an. Die dritte Debatte wurde in den 70er- und 80er-Jahren zwischen dem Neo-Realismus und dem Institutionalismus geführt. Die vierte, bis heute andauernde, Debatte ist eine weitere Methoden-Debatte, die zwischen Szientismus und Sozialkonstruktivismus geführt wird. 8. Nennen und erläutern Sie die 3 Analyseebenen. Ordnen Sie ihnen Methoden und Theorien zu. Eine erste Analyseebene sind Individuen. Im Mittelpunkt des Interesses stehen dabei die Rolle von Personen, Weltbildern und belief systems in den internationalen Beziehungen. Hinzu kommen Kontexte der individuellen Entscheidungsfindung, Interessen von Einzelnen sowie die öffentliche Meinung. Methoden der der individuellen Analyseebene sind Beobachtung, Datenerhebung und Simulation. Entsprechende Theorien sind psychologische Ansätze und groupthink. Eine zweite Analyseebene sind die Akteure im internationalen System. Dabei handelt es sich in der Regel um Staaten. Auf dieser Ebene beschäftigt man sich mit der Aggregierung von Interessen, dem Verhalten von Staaten und anderen Akteuren, dem Herrschaftssystem und Außenpolitik sowie der Implementation von außenpolitischen Entscheidungen. Entsprechende Theorien sind beispielsweise die Spieltheorie oder die Integrationstheorie. Die dritte Analyseebene ist das internationale System. Untersucht werden Struktur und outcome. Dabei untersucht man Anarchie, Kooperation, Machtasymmetrie und Konfiguration. Eine Methode ist Modellbildung und Neo-Realismus die entsprechende Theorie. 31.05.2005: Lernabschnitt 3 9. Wie wird das internationale System im Neo-Realismus definiert? Das internationale System ergibt sich aus der Struktur der internationalen Beziehungen (=strukturelle Anarchie) sowie den in ihm interagierenden Einheiten (=Staaten). IS = St + iE [Int. System = Struktur + interagierende Einheiten] 10. Nennen Sie 3 Charakteristika des internationalen Systems in Analogie zur inneren Organisation von Staaten. Die inneren Verhältnisse von Staaten sind geprägt von einer verfassungsmäßigen (hierarchischen) Ordnung, einer funktionalen Differenzierung (Aufgabenteilung zwischen Ministerien bzw. zwischen Bund und Land) und relativen Fähigkeiten. Im internationalen System sind die Staaten dagegen nebeneinander angeordnet, es besteht also keine verfassungsmäßige Ordnung (=> strukturelle Anarchie). Staaten sind auch nicht funktional differenziert (d.h. alle Staaten erfüllen alle Funktionen innerstaatlicher Politik selbst, keine Aufgabenteilung zwischen Staaten). Außerdem existieren unterschiedliche Fähigkeiten der Staaten.