Lernen und Gedächtnis Vorlesung Christian Kaernbach Teil 2: Gedächtnis Ebbinghaus • Ebbinghaus, H. (1885). Leipzig: Duncker & Humblot. Über das Gedächtnis. Untersuchungen zur experimentellen Psychologie. • Erlernen von Listen (meist) sinnloser Silben (KVK) bis zu einem gewissen Kriterium (1x fehlerfreie freie Reproduktion in richtiger Reihenfolge) • Test zu späterem Zeitpunkt: „Ersparnismaß“ als Maß für Spurstärke z.B. Erstlernen: 36 Wiederholungen, Zweitlernen 24 Wiederholungen, Ersparnis 33%. Ebbinghaus • Ersparnis als Funktion der Retentionsdauer 20 Minuten bis 30 Tage Ebbinghaus x(t ) 100 k (log 10 t ) c k 60 Ersparnis [%] 50 Woodworth & Schlosberg (1954): 40 x(t ) d a log t 30 20 10 Anderson (1983): x(t ) x0t 0 0 5 10 15 20 25 Retentionsintervall [Tage] 30 „Potenzgesetz“ • y = a x log(y) = log(a) + · log(x) • Ein potenzförmiger Zusammenhang wird in doppeltlogarithmischer Darstellung linear. log 10 (Ersparnis [%]) 100 Anderson (1983): x(t ) x0t 10 10 100 1000 10000 log 10 (Retentionsintervall [Minuten]) 100000 Potenzgesetz des Lernens • Verbesserung der Produktionsrate beim Zigarrenrollen als Funktion der Zahl der schon produzierten Zigarren ...und wo kommt das „Potenzgesetz“ her? Memory is a mud trap Über den Verlauf des Vergessens Christian Kaernbach Universität Leipzig Verteiltes versus massiertes Lernen • Liste mit 12 Silben • massiertes Lernen: 68 x wiederholt (nach 64 x war das Kriterium erreicht) nach einem Tag 7 Wiederholungen nötig • verteiltes Lernen: an drei Tagen insgesamt 38 x wiederholt nach einem weiteren Tag waren 6 Wiederholungen nötig • Beim verteilten Lernen ist der Lernaufwand geringer und man behält besser Die Jostschen Gesetze • Sind zwei Spuren zu einem bestimmten Zeitpunkt (jetzt) unter einer bestimmten Operationalisierung gleich stark (aber verschieden alt), – dann profitiert die ältere mehr von einer Wiederholung. – dann wird zu einem späteren Zeitpunkt die ältere stärker sein. • Jost, A. (1897). Die Assoziationsfestigkeit in ihrer Abhängigkeit von der Verteilung der Wiederholungen. Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, 14, 436-472. Das Mehrkomponenten-Modell Lebensdauer Kapazität sensorische Register Interferenz Material <1s hoch hoch akategorial 10 s 72, 4 klein kategorial Tage, Jahre hoch klein kategorial Aufmerksamkeit Kurzzeitgedächtnis Einspeichern Abruf Langzeitgedächtnis Atkinson & Shiffrin, 1968 „visuelles Kurzzeitgedächtnis“ George Sperling, 1960 P T Q B D V M R H Z L G „visuelles Kurzzeitgedächtnis“ George Sperling, 1960 12 ISI 50 ms Inter Stimulus Intervall # Bericht x Zeilen P T Q B D V M R H Z L G Vollbericht 10 Teilbericht 8 6 4 2 0 0 1 ISI [s] 2 „visuelles Kurzzeitgedächtnis“ George Sperling, 1960 12 ISI 50 ms Inter Stimulus Intervall • • • • # Bericht x Zeilen P T Q B D V M R H Z L G Vollbericht 10 Teilbericht 8 Teilberichtsvorteil 6 4 2 0 0 1 ISI [s] Ulric Neisser, 1967: Ikone (“icon”, “echo”) Atkinson & Shiffrin 1968 George Sperling, 1960: VSTM, visual short-term memory ! Ralph Norman Haber, 1983: The impending demise of the icon. Echogedächtnis: lange sensorische Speicher (Cowan) ähnlich zu KZG 2 Langer sensorischer Speicher Lebensdauer: periodisches Rauschen KZG Peterson & Peterson intern generiert • Ikonischer Speicher: 0.2 s • KZG: 5-10 s – Brown (1958) / Peterson & Peterson (1959): • Konsonantentrigramme, rückwärts zählen Prozent korrekt 100 • Echogedächtnis: 5-10 s. 50 0 – Zykluslänge von periodischem Rauschen 0 5 10 15 Zykluslänge / Retentionsdauer [s] Kapazität: konstant log(p(H|R)) – Miller (1956): The magical number seven plus or minus two. – Cowan (2001): The magical number four in short-term memory. -5 -10 -15 -20 -25 • Ikonischer Speicher: total (Averbach & Coriell, 1961) • KZG (innerhalb der Kapazität): wenig FPCSX • Echogedächtnis: wenig. Prozent richtig A B C D E F A B C D E F A B Interferenz: randomisiert 0 • Ikonischer Speicher: angeblich „Retinabild wörtlich“ • KZG: wenige Items • Echogedächtnis: wenige Items. 20 1 2 D 3 4 FKapazität A B 5 100 50 Zufallsniveau Hauptaufgabe Störaufgabe 0 keine visuelle auditive Interferenz 6 Das Mehrkomponenten-Modell Lebensdauer Kapazität Interferenz Material sensorische Register <1s hoch hoch akategorial Aufmerksamkeit 10 s 3 klein akategorial Kurzzeitgedächtnis 10 s 72, 4 klein kategorial Tage, Jahre hoch klein kategorial Einspeichern Abruf Langzeitgedächtnis Atkinson & Shiffrin, 1968 Das Mehrkomponenten-Modell Lebensdauer Kapazität Interferenz Material sensorische Register <1s hoch hoch akategorial Aufmerksamkeit 10 s 3 klein akategorial Kurzzeitgedächtnis 10 s 72, 4 klein kategorial Tage, Jahre hoch klein kategorial Einspeichern Abruf Langzeitgedächtnis Atkinson & Shiffrin, 1968 Zwei Systeme? 60 Ersparnis [%] 50 40 30 20 10 0 0 5 10 15 20 25 30 Retentionsintervall [Tage] • Ebbinghaus-Daten: Evidenz für 2 Systeme? • Potenzfunktion, mud trap: evtl. doch ein System Memorieren versus Elaboration sensorische Register • Aufenthaltsdauer von Information im KZG bestimmt Wahrscheinlichkeit für Übernahme ins LZG? • Craik & Lockhart, 1972: Elaborationstiefe Aufmerksamkeit • Material: Listen von SPO-Sätzen Kurzzeitgedächtnis • Merkstrategien Abruf Langzeitgedächtnis – – – – – kurz betrachten lange betrachten wiederholt vorsagen Vokale zählen Satz ergänzen: Elaboration Einspeichern – Der Arzt haßt den Anwalt – ... Arzt Arzt Patient Anwalt Anwalt Kunstfehler • Der Arzt haßt den Anwalt, weil... der ihn wegen eines Kunstfehlers verklagt hat. Je bedeutungshaltiger die Elaboration, desto besser die Retention. Das Einspeichermodell Shiffrin & Schneider, 1970 • KZG ist aktiviertes LZG • LZG ist gegliedert nach Verarbeitungstiefe – – – – sensorische Codes ... ... semantische Codes • Aktivierungsausbreitung • Interferenz Aktivierungsausbreitung im LZG • Perlmutter & Anderson (unveröffentlicht): ... Hund - K atze Zocker - K arte Knochen - F leisch Knochen - F leisch ... • RZ: 1.41 s RZ: 1.53 s 120 ms Priming Effekt Hund Knochen Katze Fleisch Zocker Karte Aktivierungsausbreitung im LZG • Posner & Mitchell 1967: Buchstaben vergleichen • simultaner Vergleich visuell gleich namensgleich ungleich AA Aa AX 507 556 Namensvergleich 454 visueller Vergleich 428 < 470 464 • sukzessiver Vergleich (0, 0.5, 1.0 1.5 s): Der Unterschied 454 < Es baut sich ein Unterschied 507 baut sich ab. 470 > 464 auf. Aktivierungsausbreitung im Modell • Klassisches Netzwerkmodell Hund Knochen Katze Zocker Fleisch • parallel distributed processing, PDP, neuronale Netzwerke Karte Interferenz Kapazität Chemieprofessor zum Studenten, den er immer falsch anredet: Interferenz: multiple Assoziationen • Experimentalgruppe: – Liste A: Hund - 82 Tisch - 78 ... – Liste B: Hund - 43 Tisch - 91 ... • Kontrollgruppe: – Liste A: Hund - 82 Tisch - 78 ... – Liste B: Licht - 43 Glas - 91 ... • Behaltensleistung: Die Experimentalgruppe – braucht länger, um Liste B zu erlernen, und – behält Liste A weniger gut als die Kontrollgruppe. Interferenz: multiple Assoziationen • Erlernen von Satzlisten (Person/Ort) mit Einzel- oder Doppelbezügen: – – – – – Der Arzt ist in der Bank. Der Feuerwehrmann ist im Park. Der Rechtsanwalt ist in der Kirche. Der Rechtsanwalt ist im Park. .... • Reaktionszeit: (Wiedererkennung) • Fächereffekt: P1 O1: 1.11 s P2 O1: 1.17 s (P1 O1) (P1 O2) (P2 O1) (P2 O2) P1 O2: 1.17 s P2 O2: 1.22 s Anstieg der RZ mit Zahl der Assoziationen Interferenz: multiple Assoziationen • Fächereffekt (u.ä.): Aktivierungsausbreitung mit begrenzter „Aktivierungskapazität“ der stimulierten Knoten Bank Arzt Kirche Arzt Kirche Park Interferenz mit vorexperimentellem Wissen • Lewis und Anderson (1976): – Listen erfundener „Fakten“ über bekannte Personen: • Napoleon stammte aus Indien. • ... (im Experiment „wahr“) • gelernte „wahre“ Aussagen • echt wahre Aussagen • falsche Aussagen 2.2 Reaktionszeit [s] – 0,...,4 Aussagen pro Person – Wiedererkennung: 2.4 2 1.8 falsch gelernt wahr 1.6 1.4 1.2 0 1 2 3 Zahl der fiktiven Fakten 4 Interferenz ? Chemieprofessor zum Studenten, den er immer falsch anredet: Interferenz und Redundanz • Bradshaw und Anderson (1982): – ein Faktum (Zielfaktum) über bekannte Person • Abruf sofort 92 % • Newton wurde als Kind emotional instabil. – Zielfaktum plus zwei irrelevante Fakten • Locke war als Student in Westminster unglücklich. • Locke erachtete Obst für Kinder als ungesund. • Locke litt lange unter Rückenschmerzen. – Zielfaktum plus zwei relevante Fakten Newton 80 % nach 1 Woche 62 % Kind 45 % Obst Locke Student Rücken 94 % • Mozart machte eine lange Reise von München nach Paris. Mozart • Mozart war vom Musikleben in Paris fasziniert. • Mozart entzog sich romantischen Verstrickungen in München. 73 % Paris Reise München Das Arbeitsgedächtnis • Allan Baddeley (1986): – Ableitung von Subsystemen des Arbeitsgedächtnis aus dual task Aufgaben zentrale Exekutive räumlichvisueller Notizblock artikulatorische Schleife • z.B. Hauptaufgabe: auditive Information erinnern • auditive/visuelle Störaufgabe im Retentionsintervall Die zentrale Exekutive • Baddeley: „Ein vages Konzept zur Aufnahme ungeklärter Prozesse im Arbeitsgedächtnis“ • Forschung zur Aufmerksamkeit wird oft als Forschung zur zentralen Exekutive aufgefaßt. Die Kapazität der artikulatorischen Schleife • alternatives Maß der Kapazität: – nicht Items, sondern Dauer (1.5 Sekunden) • Wortlängeneffekte (z. B. Listen von Ländernamen) • Abhängigkeit von der Lesegeschwindigkeit • Chinesische Kinder können sich mehr Ziffern merken als walisische Kinder • Silbenzahl in 1.5 Sekunden? Arbeitsgedächtnis und KZG • AG = KZG plus „Operationen“ – – – – merke 2 addiere 4 teile durch 3 addiere 5... • KZG nicht obligatorische Durchgangsstation zum LZG • KZG keine Strukturkomponente, kein Hirnareal, sondern aktiviertes LZG • AG involviert frontalen Kortex („zentrale Exekutive“, Aufmerksamkeitssteuerung) Das Gedächtnismodell von Cowan kurze sensorische Speicher = Anfangsphase des KZG-Prozesses Langzeitgedächtnis • sensorische Areale • ... Aufmerk• ... samkeit • ... • semantische Areale KZG-Prozeß Cowan (1988, 1995) zentrale Exekutive = Aufmerksamkeitssteuerung Ähnlichkeiten und Unterschiede der Speicherung akategorialer und kategorialer Information • Definition: Was unterscheidet akategoriale von kategorialer Information? – kategoriale Wahrnehmung (nächste Folie) • Ähnlichkeiten: – Lebensdauer, Kapazität, und Interferenz • Unterschied: – Rehearsal (s.u.) kategoriale Wahrnehmung • Kennzeichen: – Stimuluskontinua werden nicht kontinuierlich, sondern in Kategorien eingeteilt wahrgenommen • Kategoriegrenzen • typische Kategorievertreter – scharfe Übergänge an den Kategoriengrenzen – Zunahme der Unterscheidungsfähigkeit an den Kategoriengrenzen John R. Anderson, Kognitive Psychologie, Kapitel 2, S. 56-58 kategoriale Wahrnehmung • b - d - g Kontinuum: Änderung von Formant f2 kategoriale Wahrnehmung • b - d - g Kontinuum: Identifizierung kategoriale Wahrnehmung • b - d - g Kontinuum: Diskrimination – Triaden 2 same - 1 different, Abweichler finden – 33% Zufallstreffer. Chirps: nur f2 darbieten. Rehearsal für akategoriale und kategoriale Information Sensorisches Rehearsal Kategoriales Rehearsal • keine Verbesserung der Behaltensleistung für akategoriale (sensorische) Information durch Rehearsal Rehearsal Rehearsal von Tonhöhe Kaernbach und Schlemmer • • • • Shepard-Töne (Tonklasse gut definiert, Oktave mehrdeutig) S1-S2 Paradigma, 6 s (0.5 s) Retentionsintervall, 3 Instruktionen: kein / stilles / offenes Rehearsal Tonaufnahme während offenem Rehearsal. Durchschnittswerte 3 VPn 0.5 s 4.9 0.5 cent 6.0 s kein Reh.: 10.3 1.7 cent 6.0 s stilles Reh.: 9.0 1.5 cent 6.0 s offenes Reh.: 11.8 0.4 cent Rehearsal Rehearsal