Tierversuche

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Vorlesung Forschungsethik der biomedizinischen
Wissenschaften
Master MLS/MIW, 2. Semester, SS 2011
Tierversuche in Recht und Ethik
25. Mai 2011
Christoph Rehmann-Sutter
Prof. für Theorie und Ethik der Biowissenschaften
[email protected]
www.imgwf.uni-luebeck.de
Patricia Piccinini: The young family (2002-3; Biennale Venezia)
Mensch-Tier: ein prekäres Verhältnis
Jean-Babtiste-Siméon Chardin (1699-1779): The Silver Tureen (c. 1728), Metrop. Mus. Mod. Art, New York
Culling von Geflügel zur Prävention von „Volgelgrippe“ 2006
Welcher Tierschutz ist möglich, wenn Menschen in Gefahr sind?
Tierversuche
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Gebrauch von Tieren in medizinischen Experimenten ist so alt wie die
wissenschaftliche Medizin.
Alkmaion von Kroton (500 v. Chr.): Funktion nervus opticus demonstriert
mit Durchschneiden am lebenden Tier, was zu Blindheit führte.
Galen (130-20; Arzt von Marc Aurel) beschrieb viele neue Techniken der
Vivisektion für physiologische Studien.
Die damals vorherrschende stoische Philosophie sah Tiere als Wesen
ohne Vernunft oder Seele an, als reine Sachen.
Wichtige Unterscheidungen: Bewusstsein (welche Tierarten?), Schmerz,
Freiheitsentzug etc. (welche Interventionen?)
Vivisektion für anatomische Demonstrationen begann wieder in den
medizinischen Schulen des 16. Jh. (Italien) und im 17. Jh. In ganz Europa.
Viele bahnbrechende Erkenntnisse der Medizin stammen aus
Tierversuchen: Blutkreislauf (William Harvey 1628), Lungenfunktion
(Robert Hooke 1667), Blutdruckmessung (Stephen Hales 1733)
 Tierversuche bilden einen aus dem Bewusstsein verdrängten Aspekt der
biomedizinischen Forschung.
EU:
1999
(5‘305‘513)
(2‘607‘349)
hen (292‘872)
(42‘101)
(227‘366)
(22‘033)
Mäuse
Ratten
Meerschweinc
Hamster
Kaninchen
Katzen (5‘506)
Hunde
Pferde, Esel
und Kreuzungen (2‘436)
Schweine
(66‘131)
Schafe
(28‘482)
Vögel
(364‘590)
Fische
(614‘234)
…
Insgesamt:
9‘814‘171
D: 2003
Wirbeltiere (2‘112‘341)
Mäuse (1‘180‘355)
Ratten (501‘228)
Fische (137‘680)
Kaninchen (104‘418)
Vögel (84‘002)
Meerschweinchen (42‘012)
Amphibien (19‘342)
Schweine (12‘250)
Hamster (10‘142)
Hunde (4‘886)
Rinder (3‘005)
Affen (1‘923)
Katzen (653)
(Quelle: Tierschutzbericht 2005;
www.bundestag.de; W. Ahne (2007), S. 18.
Wenn Tiere empfindungsfähig sind und bewusst, können sie
geschädigt/belastet werden durch:
– Schmerz
– Gefangenschaft
– Frustration
– Entzug der Mutterbeziehung (Deprivation, Privation)
– Angst
– Isolation
– Verlust des Lebens
„There is persuasive evidence that some animals –
mammals and possibly birds – have thoughts, feelings,
memories and intentions.“
(Gill Langley: „The case against the use of animals in medical
experiments“. In: Levinson/Reiss (eds.): Issues in Bioethics.
London/New York: Routledge 2003)
“Neue” Tierethik
Tom Regan (1983): The Case for Animal Rights
• Tiere haben inhärenten Wert, weil sie das „empfindende Subjekt
eines Lebens“ sind. Sie haben eine Biographie und eine Biologie. Alle
lebenden Tiere haben gleichen Wert und gleiche Rechte.
• Tierversuche sind prinzipiell falsch und sollten nicht erlaubt werden,
unabhängig vom Nutzen, den sie bringen mögen.
Peter Singer (1975): Animal liberation
• Utilitaristische Argumentation basiert darauf, dass Leiden nicht
unterschiedlich bewertet werden darf, wenn es für Tiere oder für
Menschen entsteht
(Speziesismus-Argument)
• Singers These: Es wäre ethisch akzeptabler, an einem schwer
hirngeschädigten menschlichen Neugeborenen, das kein Bewusstsein
hat, zu experimentieren als an einem gesunden Schimpansen.
Was geschieht hier in der Wahrnehmung zwischen Mensch und
Tier (nicht)?
Aus Peter S. Wenz: Environmental Ethics Today (2001), S. 119.
Was geschieht in der Wahrnehmung zwischen Mensch und
Tier?
• Macht es uns etwas aus, was dem Tier geschieht?
• Wenn es uns nichts ausmachen soll: Gebotene Gleichgültigkeit,
Instrumentalisierung, mechanistisches Modell des Tieres:
existiert ausschliesslich im Modus der Objektivität.
• Wenn es uns etwas ausmachen soll: Gebotene NichtGleichgültigkeit, Mitgefühl/Empathie, Tier ist ein anderes
Wesen, das im Modus der Subjektivität lebt.
• Voraussetzung für Nicht-Gleichgültigkeit: Anerkennung. (Was ist
das? - Klassifizierung oder Beziehung?)
• Wir Menschen sind auch Tiere. Reicht die uns selbst
zugeschriebene Besonderheit aus, um unsere moralische
Sonderstellung zu rechtfertigen?
Grundtypen der ökologischen Ethik
Menschen
Bereiche direkter menschlicher
Verantwortung
Höhere Tiere
Alle Lebewesen
Ganzheiten
Physiozentrik
Naturobjekte
Anthropozentrik
Pathozentrik
Biozentrik
Holismus
Kriterien
Existenz
Leben
Leidens- /
Empfindungsfähigkeit
Menschsein / Personalität
Knockout-Experimente:
Tiere werden konstitutionell experimentalisiert; Experiment ist nicht mehr
Intervention am lebenden Tier, sondern Herstellung geeigneter Tiere
normales Gen
„knockout“ = Inaktivierung des Gens
abnormales Gen
inaktives Produkt oder
kein Produkt
Knockout-Experiment ist aufschlussreich, wenn die Funktion eines Gens ganz
unbekannt ist. Die Inaktivierung des Gens macht es möglich zu sehen, in
welchen Geweben und Organen seine Aktivität nötig ist. Effekte sind völlig
unvorhersehbar. Methode entspricht den alten physiologischen Experimenten
seit Alkmaion.
Knockout-Tiere als Krankheitsmodelle für bekannte genetischen Defekte
(Diabetes, cystische Fibrose, Krebs).
Dietmar von der Pfordten: Eine ökologische Ethik der
Berücksichtigung anderer Lebewesen (2000; in: Ott/Gorke:
Spektrum der Umweltethik)
“Eine moralische Berücksichtigung anderer setzt voraus, dass sie
selbständige Strebungen entfalten. Die andere Entität muss
mehr sein und tun als leblose Materie, die nur physikalischen
Kräften oder externen Beeinflussungen unterliegt.” (54)
Quelle normativer Begründungskraft: “…, dass die in Frage
kommenden Strebungen nicht nur Tatsachen sind, sondern eine
Form des Selbstbezugs und des Selbsterhaltungsstrebens” (57)
Selbstbezug = Selbstentstehung, Selbstenfaltung, Selbsterhaltung
(61).
 Biozentrische Position: alle Lebewesen verdienen ethische
Berücksichtigung, mit hierarchischer Abstufung der Intensität.
 Beweislast für weitere Einschränkung liegt bei den Vertretern
einer pathozentrischen (sentientistischen) Position.
Dietmar von der Pfordten: Eine ökologische Ethik der
Berücksichtigung anderer Lebewesen (2000; in: Ott/Gorke:
Spektrum der Umweltethik) Forts.
“Erkennt der Mensch die biologischen Strebungen anderer
Entitäten, so ergibt sich - wenn er überhaupt gewillt ist, ethisch
und nicht nur eigenorientiert zu handeln -, dass alle diese
Strebungen in ihrem normativen Status gleich sind. Das
Fluchtverhalten eines Insekts erkennt er als prinzipiell genauso
eigenbezogen wie das Fluchtverhalten eines
empfindungsfähigen höheren Wirbeltiers.” (58)
“Für die Berücksichtigung Anderer im Rahmen einer ethischen
Theorie muss man in jedem Fall die Vorstellung einer reinen
Kausalgesetzlichkeit überschreiten.” (60)
G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen
Wissenschaften (1830), Teil II, C. Der tierische Organismus:
• §350. “Die organische Individualität existiert als Subjektivität,
insofern … der Organismus in seinem Prozesse nach außen die
selbstische Einheit in sich erhält.”
• §351, Zusatz: “Die Stimme ist ein hohes Vorrecht des Tiers, das
wunderbar erscheinen kann; sie ist die Aeusserung der
Empfindung, des Selbstgefühls. Dass das Tier in sich für sich
selbst ist, stellt es dar, und diese Darstellung ist die Stimme. Nur
das Empfindende kann aber darstellen, dass es empfindend ist.”
• Ibid: “Aristoteles spricht so von drei Seelen, der vegetabilischen,
tierischen und menschlichen, als den drei Bestimmungen der
Entwicklung des Begriffs. Als in sich reflektierte Einheit
verschiedener Einzelheiten, existiert das Tier als Zweck, der sich
selber hervorbringt…”
Vier Grundanliegen der Ethik
Freiheit /
Selbstbestimmung
Wohl /
Glück
Das Ethische
Tugend /
Exzellenz
Beziehung /
Alterität
Dimensionen der Tier-Ethik
Anerkennung von
Rechten des Tiers
(Freiheit /
Selbstbestimmung)
Tierisches Wohl und
Glück zählt auch
Das Ethische in
der Mensch-TierBeziehung
Verantwortungsfähigkeit als
Teilnehmer in der Natur
(Tugend / Exzellenz)
Fürsorge, bewusste
Beziehungspartnerschaft
(Beziehung / Alterität)
Ein Argument für die Würde
These: Das Wohl und die artgerechte Lebensentfaltung von Tieren sind
ein ethisches Gut; Leiden und Sterben von Tieren stellen ein
moralisch relevantes Uebel dar.
Begründung:
• Es gehört zur menschlichen Verantwortungsfähigkeit, die Würde von
Tieren moralisch anzuerkennen.
• Als körperliche Wesen spüren wir Menschen wie Tiere (wir sind wie
sie Subjekte).
• Die moralische Superiorität des Menschen innerhalb der Natur
besteht, wenn überhaupt, in einer besonderen Verpflichtung.
• Besondere Nutzungsrechte (Nutztiere) können nur aus besonderen
Pflichten der betroffenen Natur gegenüber entstehen.
• Tiere haben dadurch, dass Menschen Pflichten haben, moralische
Rechte gegenüber den Menschen. Sie entstehen durch
Anerkennung.
Würde des Menschen
• Faktisch: garantiert (auch
wenn sie verletzt wird)
• Inhalt:
– Als Zweck an sich selbst
behandelt werden
– Als Anderer respektiert
werden, den man nicht
verletzen darf
(einschliesslich
Tötungsverbot)
-
Würde des Tieres
• Faktisch: wird
zugesprochen, wenn es
beliebt und wo man es rel.
einfach kann
• Inhalt:
– Artgerecht leben können
– Um seiner selbst willen
geschützt werden (vor
Leiden, unnötigem Tod und
Aussterben)
Schweizerische BV, Art. 120 Gentechnologie im Ausserhumanbereich:
Der Bund erlässt Vorschriften über den Umgang mit Keim- und Erbgut
von Tieren, Pflanzen und anderen Organismen. Er trägt dabei der Würde
der Kreatur sowie der Sicherheit von Mensch, Tier und Umwelt Rechnung
und schüzt die genetische Vielfalt der Tier- und Pflanzenarten.
Regelungen (1)
Russell and Burch (1959): „The three Rs“
Reduce: Reduziere die Anzahl Tiere in jedem Experiment auf ein
Minimum, um signifikante Ergebnisse zu erzielen.
Replace: Verwende wo immer möglich Alternativmethoden (in vitro
Systeme)
Refine: Verbessere die Durchführung, um Schmerz und
minimieren.
Leiden zu
Werden heute als die ethischen Grundprinzipien des Wohls von
Labortieren anerkannt und in den meisten Regulierungen
festgeschrieben.
Regelungen (2)
Deutsches Tierschutzgesetz
§ 1: „Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Veranwortung
des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und
Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen
Grund Schmerzen, Leiden oder Schaden zufügen.“
Deutsches Tierschutzgesetz (Forts.)
§ 7.2: „Tierversuche dürfen nur durchgeführt werden, soweit
sie zu einem der folgenden Zwecke unerlässlich sind:
1.Vorbeugen, Erkennen oder Behandeln von Krankheiten, Leiden,
Körperschäden oder körperlichen Beschwerden oder Erkennen oder
Beeinflussen physiologischer Zustände oder Funktionen bei Mensch
oder Tier,
2.Erkennen von Umweltgefährdungen,
3.Prüfung von Stoffen oder Produkten auf ihre Unbedenklichkeit für die
Gesundheit von Mensch oder Tier oder auf ihre Wirksamkeit gegen
tierische Schädlinge,
4.Grundlagenforschung.
§ 7.3: „Versuche an Wirbeltieren dürfen nur durchgeführt
werden, wenn die zu erwartenden Schmerzen, Leiden oder Schäden der
Veruchstiere im Hinblick auf den Versuchszweck ethisch vertretbar sind.“
Deutsches Tierschutzgesetz (Forts.)
§ 9.2.8: „Nach Abschluss eines Tierversuchs ist jeder
verwendete und überlebende Affe, Halbaffe, Einhufer, Paarhufer, Hund,
Hamster sowie jede verwendete und überlebende Katze und jedes
verwendete und überlebende Kaninchen und Meerschweinchen
unverzüglich einem Tierarzt zur Untersuchung vorzustellen. Kann das
Tier nach dem Urteil des Tierarztes nur unter Schmerzen oder Leiden
weiterleben, so muss es unverzüglich schmerzlos getötet werden...“
Take home message
• Tierversuche stellen einen unlösbaren ethischen Konflikt dar,
der die Entwicklung der Medizin und der Biologie seit der Antike
begleitete.
• Es zeichnet sich in der Tierversuchsethik und im Tierschutzrecht
ein Konsens gemäss dem 3-R-Modell ab : Reduce, replace,
refine.
• Dieses Modell beinhaltet eine Anerkennung der Subjektivität
(Empfindungsfähigkeit, Strebensfähigkeit etc.) der Tiere, aber
keinen Spezies-Egalitarismus.
Literatur und Websites
Winfried Ahne: Tierversuche im Spannungsfeld von Praxis und Bioethik.
Stuttgart: Schattauer 2007
Grayson, L.: Animals in Research. For and Against. London: The British Library
2000
Rohr, Jeanette (ed.): Animal Rights: Opposing Viewpoints. San Diego:
Greenhaven Pr. 1989
James C. Whorton, Peter Singer, Jeffrey Kahn, Ralph Dell: „Animal Research“,
in: Stephen G. Post: Encyclopedia of Bioethics. New York 2004, 166-183.
H. H. Sambraus und A. Steiger: Das Buch vom Tierschutz. Stuttgart: Enke 1997
Research Defense Society
www.rds-online.org.uk
Dr. Hadwen Trust (über Alternativen zu Tierversuchen)
www-drhadwentrust.org.uk
British Union for the Abolition of Vivisection
www.buav.org
Eidgenössische Ethikkommission für die Biotechnologie im Ausserhumanbereich
www.ekah.ch
Pharmazeutische Industrie
www.tierversuche.bayer.de
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