Läsionen von Nervenwurzeln, von Plexus(-Anteilen) und von peripheren Nerven Karl Zeiler, Christoph Baumgartner Univ.-Klinik für Neurologie Wien Pseudoschlaffe, spastische und schlaffe Lähmung Parameter pseudoschlaffe Lähmung spastische Lähmung schlaffe Lähmung betroff. Neuron zentrales N. zentrales N. peripheres N. grobe Kraft reduziert reduziert reduziert Feinmotilität reduziert reduziert reduziert Atrophien nein nein ja Tonus reduziert gesteigert reduziert Eigenreflexe abgeschwächt gesteigert abgeschwächt Fremdreflexe abgeschwächt abgeschwächt abgeschwächt Pyramidenz. ja ja nein Faszikulat. nein nein ev. Läsionen einzelner Nervenwurzeln Läsionen einzelner Nervenwurzeln Anatomische Grundlagen Myotom: motorisches Versorgungsgebiet eines Segments bzw. einer Vorderwurzel Dermatom: sensibles Versorgungsgebiet eines Segments bzw. einer Hinterwurzel Verschiebung zwischen den Segmenten und den Austrittsstellen der Wurzeln aus dem Spinalkanal: ► zervikaler Bereich: max. 1 Segment ► oberer thorakaler Bereich: 2 Segmente ► lumbale Segmente: in Höhe Dornfortsatz 11./12. BWK ► sakrale Segmente: in Höhe Dornfortsatz 1. LWK ► Conus medullaris: in Höhe 1. LWK ► Ende des Rückenmarks: mittlere Höhe des 2. LWK Nervenwurzel-Läsionen Begriffe Monoradikuläre Symptomatik: durch die Läsion einer einzelnen Nervenwurzel verursacht Polyradikuläre Symptomatik: durch die Läsion mehrerer Nervenwurzeln verursacht Sonderfall: Cauda-Syndrom, durch eine Läsion der Cauda equina verursacht Pseudoradikuläre Beschwerden: werden nicht durch Läsionen von Nervenwurzeln verursacht Monoradikuläre Läsionen Motorische Ausfälle Läsion des peripheren motorischen Neurons: im Versorgungsgebiet des entsprechenden Myotoms schlaffe Parese, herabgesetzter Tonus, abgeschwächt bzw. nicht auslösbare Eigen- und Fremdreflexe, keine Pyramidenzeichen, ev. segmentale Faszikulationen; im weiteren Verlauf ev. Muskelatrophien Die meisten Muskeln werden über Nerven versorgt, die ihre Fasern über zwei oder mehr Vorderwurzeln beziehen; grobe Kraft daher oft nur mäßig-/mittelgradig beeinträchtigt, ev. ist kein motorischer Ausfall faßbar, ev. keine Muskelatrophien „Kennmuskeln“: werden vorwiegend oder weitgehend über nur eine einzige Wurzel versorgt; die Funktionsbeeinträchtigung eines „Kennmuskels“ weist auf die Läsion einer ganz bestimmten Wurzel hin Monoradikuläre Läsionen Sensible Ausfälle Die Verteilung der Sensibilitätsstörung entspricht den Dermatomen Subjektiv: oft segmentale Hypästhesien, Parästhesien, Dysästhesien Objektiv: am ehesten segmentale Hypalgesie bzw. Analgesie Überlappende Versorgung benachbarter Dermatome: ev. keine objektivierbaren sensiblen Ausfälle Keine vegetativen Funktionsstörungen (Schweißsekretion, Piloarrektion, Vasomotorik) im betroffenen Dermatom (Kompensation über benachbarte Ganglien im Grenzstrang) Monoradikuläre Läsionen Schmerzen Fast immer bestehen heftige Schmerzen: ► ziehend, bohrend ► meistens im betroffenen Dermatom ► sehr oft lage- und bewegungsabhängig ► typisch: Zunahme durch Husten, Niesen, Pressen Oft sind Dehnungsphänomene auslösbar „Wurzeltod“: plötzliches Nachlassen der Schmerzen, gleichzeitig oft Manifestation oder Zunahme einer Parese Wurzelläsion C5 Schmerzen, Sensibilitätsstörungen: Schulterwölbung (lateral), proximaler Oberarm (lateral, über dem M. deltoideus) motorische Ausfälle: M. deltoideus („Kennmuskel“), ev. auch M. biceps brachii Eigenreflexe: BSR und RPR ev. abgeschwächt auslösbar Wurzelläsion C6 Schmerzen, Sensibilitätsstörungen: distaler Oberarm (vorne), Unterarm (radial), Hand (radial), Daumen (volar und dorsal), ev. auch II. Finger (volar und dorsal) motorische Ausfälle: M. biceps brachii, M. brachioradialis („Kennmuskeln“) Eigenreflexe: BSR und RPR oft abgeschwächt oder nicht auslösbar Wurzelläsion C7 Schmerzen, Sensibilitätsstörungen: distaler Oberarm (lateral), Unterarm (Streckseite),Handrücken, Finger II-IV (dorsal), Finger II-IV (volar), Handfläche (bis zur Mitte) motorische Ausfälle: M. triceps brachii („Kennmuskel“), M. pectoralis maior (mittlerer Anteil), ev. M. pronator teres, ulnare Fingerstrecker, lange Fingerbeuger Eigenreflexe: TSR sehr oft abgeschwächt oder nicht auslösbar Wurzelläsion C8 Schmerzen, Sensibilitätsstörungen: distaler Oberarm (Streckseite), Unterarm (ulnar), Handkante (ulnar), V. Finger und ev. IV. Finger (dorsal und volar) motorische Ausfälle: Mm. des Hypothenar („Kennmuskel“: M. abductor digiti V), oft auch andere kleine Handmuskeln (z.B. Mm. interossei); ev. geringe Schwäche des M. triceps brachii Eigenreflexe: TSR ev. abgeschwächt auslösbar Wurzelläsion L3 Schmerzen, Sensibilitätsstörungen: vorderer Oberschenkel, von proximal lateral (über dem Trochanter maior) bis zur Medialseite des Kniegelenks motorische Ausfälle: M. quadriceps femoris („Kennmuskel“), ev. auch Adduktoren im Hüftgelenk Eigenreflexe: PSR sehr oft abgeschwächt oder nicht auslösbar Femoralis-Lasègue: oft sehr schmerzhaft Wurzelläsion L4 Schmerzen, Sensibilitätsstörungen: vorderer Oberschenkel (lateral), Knie, vorderer Unterschenkel (medial), bis zur Mitte des medialen Fußrandes motorische Ausfälle: ev. M. quadriceps femoris, dann oft auch M. tibialis anterior („Kennmuskel“: Parese mit Läsion L4 vereinbar, mit Läsion L3 aber nicht !) Eigenreflexe: PSR ev. abgeschwächt auslösbar Femoralis-Lasègue: ev. schmerzhaft Wurzelläsion L5 Schmerzen, Sensibilitätsstörungen: distaler Oberschenkel (lateral), Unterschenkel (lateral), Fußrücken, Zehen I-II motorische Ausfälle: M. extensor hallucis longus („Kennmuskel“), ev. auch Mm. tibialis anterior, extensor digitorum brevis, glutaeus medius Eigenreflexe: PSR und ASR nicht betroffen Lasègue: ev. schmerzhaft Wurzelläsion S1 Schmerzen, Sensibilitätsstörungen: Ober- und Unterschenkel (dorsolateral), Ferse (lateral), Fußrand (lateral), Zehen III-V motorische Ausfälle: Mm. peronaeus longus und peronaeus brevis („Kennmuskel“), ev. auch Mm. triceps surae, glutaeus maximus Eigenreflexe: ASR sehr oft abgeschwächt oder nicht auslösbar Lasègue: oft sehr schmerzhaft Ursachen monoradikulärer Läsionen Degenerative Erkrankungen der Wirbelsäule (Diskusprotrusion, -prolaps, knöcherne Appositionen, Vertebrostenose, Pseudospondylolisthese) Traumen (z.B. Schleudertrauma der HWS) Tumoren (v.a. Meningome, Neurinome, Metastasen) Herpes zoster Epidurale Abszesse Epidurale Hämatome (v.a. bei Antikoagulantien-Prophylaxe) Iatrogene Läsionen (Infiltrationen, Injektionen, Punktionen, Operationen) Akute Manifestation einer monoradikulären Symptomatik Diagnostik Methode der Wahl: spinale MRT, bei Nichtverfügbarkeit spinale CT Notfall: ► akute Manifestation einer nennenswerten Parese ► Zeichen der Irritation langer Bahnen (HWS, BWS) ► Zeichen der Irritation der Fasern der Cauda equina („Cauda-Syndrom“; LWS) Läsionen der Cauda equina Klinische Symptomatik des „Cauda-Syndroms“ Conus L2 L3 L4 L5 S1 S2-S5 Cauda-Syndrom Klinische Symptomatik (1) Läsion kaudal des Abgangs der Wurzeln S1: ► Sensibilitätsstörungen in der „Reithosen-Region“ (Versorgungsgebiet S2 bis S5) ► Blasen-, Mastdarm-, Sexualfunktionsstörungen Läsion kaudal des Abgangs der Wurzeln L5: zusätzlich ► Parese der Plantarflexion und Pronation des Vorfußes bds. ► Parese des M. glutaeus maximus bds. ► Ausfall des ASR bds. ► Sensibilitätsstörung im Dermatom S1 bds. Cauda-Syndrom Klinische Symptomatik (2) Läsion kranial des Abgangs der Wurzeln L3: ► keine aktive Bewegung im Bereich der Zehengelenke, Sprunggelenke und Kniegelenke bds. möglich ► PSR und ASR bds. nicht auslösbar ► Sensibilitätsstörung im Bereich der Dermatome L3 bis S5 bds. ► Blasen-, Mastdarm-, Sexualfunktionsstörung NB: keine vegetativen Funktionsstörungen (Schweißsekretion, Piloarrektion, Vasomotorik) im Bereich der Beine, da die sympathischen Fasern den Spinalkanal kranialwärts der Läsion verlassen ! Ursachen von Läsionen der Cauda equina Degenerative Erkrankungen der Wirbelsäule (Diskusprotrusion, -prolaps, Vertebrostenose, Pseudospondylolisthese) Traumen Tumoren (v.a. Meningome, Neurinome, Metastasen) Epidurale Abszesse (sehr selten) Epidurale Hämatome (v.a. bei Antikoagulantien-Prophylaxe; selten) Iatrogene Läsionen (Infiltrationen, Injektionen, Punktionen, Operationen) Entzündliche Affektionen der Cauda-Wurzeln Akute Manifestation eines Cauda-Syndroms Diagnostik Methode der Wahl: ► spinale MRT, bei Nichtverfügbarkeit spinale CT ► bei negativem Ergebnis Lumbalpunktion / Liquordiagnostik Notfall: umgehende Abklärung erforderlich Pseudoradikuläre Syndrome Ursachen ► lokale Überbelastung der Muskulatur ► traumatisch bedingte lokale Schmerzen ► Gelenkserkrankungen ► Überbeanspruchung von Gelenkskapseln oder Bändern Klinisches Bild ► in Ruhe meistens dumpfe Schmerzen im Bereich von Muskeln, Sehnen, Sehnenansätzen, ev. einer ganzen Extremität, oft nicht präzise lokalisierbar ► bei aktiver Bewegung oder Dehnung Zunahme der Schmerzen (bohrend, brennend, reißend) ► erhöhte Druckdolenz der betroffenen Sehnen und Muskeln ► häufig Myogelosen (innerhalb einzelner Muskeln tastbare, sehr druckschmerzhaft Verhärtungen) Pseudoradikuläre Syndrome mit der Diagnose vereinbar: ► Beeinträchtigung der Muskelfunktion ► vorzeitige Ermüdung der Muskeln („Schwäche“) ► Tonus der Muskulatur ev. herabgesetzt, ev. gesteigert ► vereinzelte Faszikulationen ► trophische Störungen der Muskulatur ► diffuse Dysästhesien über den betroffenen Muskeln mit der Diagnose nicht vereinbar: ► ausgesprochene Paresen ► Störungen der Reflextätigkeit ► Sensibilitätsstörungen, deren Verteilung den Dermatomen entspricht