Vorlesung Entwicklungspsychologie I Vorgeburtliche Entwicklung, Entwicklung von Wahrnehmung und Psychomotorik J. Gowert Masche 10.05.2006 Prüfungsvorbesprechung Vordiplom Psychologie Montag, 22.05., 13:00 Uhr sine tempore, Dekanatssaal Semesterüberblick 26.04.: Grundbegriffe der Entwicklungspsychologie 10.05.: Vorgeburtliche Entwicklung, Entwicklung von Wahrnehmung und Psychomotorik 17.05.: Frühe Eltern-Kind-Interaktion, Bindungstheorie 24.05.: Soziale Kognition 31.05.: Kognitive Entwicklung nach Jean Piaget 07.06.: Begriffliches Wissen, Problemlösen 14.06.: Lerntheorien 21.06.: Motivation, Emotion, Handlungsregulation 05.07.: Entwicklung unter ökologischer Perspektive 12.07.: Familienentwicklung 19.07.: „Zurück zur Natur“: Biologische Entwicklungsgrundlagen 10.05.: Vorgeburtliche Entwicklung Entwicklung von Wahrnehmung und Psychomotorik • Vorgeburtliche Entwicklung • Entwicklung der Wahrnehmung • Entwicklung der Psychomotorik Literatur zu heute: Teile von Kapitel 5, Kapitel 10 aus Oerter & Montada (2002) Literatur zur vergangenen Stunde: Teile von Kapitel 1 und weitere Literatur (aus Trautner-Lehrbuch, beide Bände) Literatur zur folgenden Stunde: weitere Teile von Kapitel 5 sowie Texte, die nicht Prüfungsliteratur sind. Vorgeburtliche Entwicklung Definitionen • Gestationsalter (GA): Zeit seit Zeugung • Gestationszeit: Dauer, während der das Kind im Mutterleib bleibt, gerechnet ab der letzten Regel • Embryo: Keim im Gestationsalter 8-12 Wochen • Fötus (Fetus): werdendes Kind ab Gestationsalter 3 Monate • Lebensalter: Zeit seit Geburt • Korrigiertes Lebensalter: Bei Frühgeburt Lebensalter abzüglich der Zeitspanne, die an den üblichen 40 Wochen fehlt • Infant: Kind, das noch nicht sprechen kann (etwa bis 2;0) • Toddler: Kind, das noch unsicher läuft: (1-2 Jahre) Entwicklung des Zentralen Nervensystems • 18-24 Tage GA: Neurulation = Bildung des Neuralrohres • 6.-24. Woche GA: Zellwanderung an die entsprechenden Stellen des ZNS • 3.-5. Monat GA: erster Wachstumsschub: Vermehrung der Nervenzellen und ihrer Ausläufer (Axone) • wenige Wochen vor Geburt, Höhepunkt 0;2-0;4: zweiter Wachstumsschub: Ausbildung von Dendriten und Synapsen • 2-3: dritter Wachstumsschub: Höhepunkt der Myelinisierung (endet z. T. erst mit knapp 30), erlaubt erheblich schnellere Reizleitung. Entwicklung des Zentralen Nervensystems (2) • Bei Geburt erst 23% des Hirnvolumens von Erwachsenen, mit 3;0 70%. • Allgemeine Entwicklungsprinzipien: – Zunahme von Nervenzellen, Dendriten, Synapsen – Abnahme: Absterben von Nervenzellen, Dendriten, Synapsen – Selektion: Nicht benötigte Zellen usw. eine Zeit lang als „Reserve“, dann deren Absterben – Heterochronie: Hirnbereiche, Sinnesorgane entwickeln sich unterschiedlich schnell, z. B. Verschaltung von Gehirn und Sinnesorganen erst in 23.-37. Gestationswoche – erfahrungsabhängige Entwicklung: Erfahrungen Wachstum – erfahrungserwartende Entwicklung: Überproduktion von Zellen und Synapsen, dann Auslese entsprechend Erfahrung • Vorgeburtliches Lernen: kulturtypische Geschmacksrichtungen, Silbenstrukturen und Betonungsmuster der Sprache • Geschlechtsdifferenzierung: Spermium des Vaters bestimmt Chromosomenkombination XX (♀) oder XY (♂). Weibliche Entwicklung „Basismodell“. Testosteronproduktion vor allem vom 2.-4. Monat GA führt zur männlichen Variante. 2.-4. Monat innere + äußere Geschlechtsorgane, bis 7. Monat GA zunächst Gehirnstrukturen für Fortpflanzung/sexuelle Orientierung, dann für geschlechtstypisches Verhalten Vorgeburtliche Risiken • Zwei Drittel aller Schwangerschaften enden durch Fehlgeburt bis 16. Gestationswoche, oft unbemerkt. Grund: Entwicklungsfehler. • Genetische Risiken v.a. bei extrem jungen oder Frauen ab 35 • Teratogene (schädigende) Einflüsse: – Krankheiten, z. B. Diabetes, Bluthochdruck, Nierenversagen – Medikamentengebrauch – Umwelt: Gifte, Strahlen – Alkohol, Nikotin, andere Drogen, Fehlernährung – schwere psychische Belastungen – plazentare Mangelversorgung (häufig in letzten Monaten) • 30-80% Risikoschwangerschaften • Folgen: erste 3 Monate: Organschäden, danach Gehirnentwicklung und -aktivität Frühgeburt • Frühgeburt = Geburt vor 37. Woche oder < 2,5 kg. Betrifft 7% aller Lebendgeburten. Normal: 3,5 kg. • Extrem frühgeboren: vor 32 Wochen, < 1,5 kg. Manche überleben ab 500 g und 24-25 Wochen, Chance bei < 1 kg nur 50-60%. • Unmittelbar: Probleme mit Atmung, Kreislauf, Ernährung, Verdauung, Wärmeregulierung • Langfristig: zunächst Vorteile in visueller und akustischer Wahrnehmung, aber Nachteile , vor allem falls < 1 kg – Erregungskontrolle – Informationsverarbeitung – komplexere Leistungen wie Spracherwerb, Schulprobleme – Muskelkraft (Laufenlernen) • Verbesserung durch Känguru-Methode: Kind auf Körper der Eltern gelegt: Wärmen, bessere Vertrautheit • Allgemein erhöhte Vulnerabilität gegenüber sozialen Problemen im Elternhaus Entwicklung der Wahrnehmung Riechen, Schmecken, Hautsinne • Sinnesempfindung (sensation): Reizaufnahme und –registrierung • Wahrnehmung (perception): Organisation und Interpretation der Reizinformation: Erkennen • Riechen: Neugeborene reagieren verschieden auf Erdbeer-, Bananen-, Vanilleduft versus Geruch fauler Eier, Fisch. Mit 1 Woche Unterscheidung Brustgeruch Mutter/andere Frauen • Geschmack: 2h nach Geburt verschiedener Gesichtsausdruck nach süßen, sauren, salzigen, bitteren Flüssigkeiten • Empfindsamkeit für Berührung und Schmerz ab Geburt Hören • Ab 24. Gestationswoche Reaktionen auf Gehörtes • Versuch DeCasper & Spence (1986): – Mütter lasen in letzten 6 Schwangerschaftswochen 2x täglich eine Geschichte laut vor – ein paar Tage nach Geburt wurde Säuglingen diese und eine andere Geschichte auf Tonband abgespielt (andere Frauenstimme) – Wenn Babies Saugfrequenz am Nuckel änderten, stellte sich Tonband an/ab – Babies hörten bevorzugt die vertraute Geschichte • Stimme der Mutter, nicht aber des Vaters im Vgl. zu anderen Frauen/Männerstimmen bevorzugt • Kategoriale Lautwahrnehmung: – Im ersten Lebensmonat Unterscheidung „b“/„p“, obwohl Unterschied nur in der Voice Onset Time, und innerhalb der „b“/„p“ große Vielfalt. Gefunden mit Habituationsversuchen. – Mit 6 Monaten Unterscheidung aller Laute. Bleibt aber nur für die Laute der jeweiligen Sprache erhalten. • Richtungshören: mit 0;6 auf 15° genau, mit 1;6 auf 4-5° Sehen • Sehschärfe/Kontrast: – Präferenzmethode: Säuglinge sehen länger auf Muster als auf graue Flächen – Sehschärfe schwach bei Geburt, steigert sich bis 1;0 auf Erwachsenenniveau – Geringe Sehschärfe liegt nicht an fehlender Akkommodation des Auges, sondern ist deren Ursache: Säuglinge sehen in jeder Entfernung schlecht – Kontrastsensitivität steigert sich von 0;3 bis 0;6 fast um Faktor 50 • Distanzwahrnehmung – Visuelle Klippe: Tisch mit Glasplatte, Schachbrettmuster direkt unter der einen Hälfte, auf dem Fußboden unter der anderen Hälfte. Babies weigern sich, über den „Abgrund“ zu krabbeln – Mit 0;2 keine Angst, sondern eher Neugier bei „Abgrund“ (langsamere Herzrate) – offenbar Nutzung kinetischer Hinweisreize (aus Bewegung) – Größerwerden von Objekten: Abwehrreaktion schon ab 0;1 – binokulare Hinweisreize erst im dritten Monat, wenn genügende Sehschärfe – Bildreize: Verdeckungen, Größe vertrauter Objekte lassen Entfernung erkennen. Bevorzugtes Greifen nach „nahen“ Objekten ab 0;6 Gesichterwahrnehmung • Orientierung auf Gesichter – Neugeborene bis 4-6 Wochen wenden sich gesichtsähnlichen Stimuli zu und versuchen, mit Blick zu folgen. – Entscheidend ist Anordnung von Hals, Kopf, Augen und Mund • Gesichterwahrnehmung – Schon mit 4 Tagen Alter können Neugeborene Mutter von Fremden unterscheiden. – Wiedererkennen der Mutter auch bei größenveränderten, ins Negativ verkehrten oder gedrehten Abbildungen • Sekundäres visuelles System: rechte Hemisphäre: ab 0;2-0;3 Verarbeitung von Merkmalskonfigurationen • Primäres visuelles System: linke Hemisphäre: ab 0;3-0;4 visuelles „Abtasten“ des Gesichts, Verfolgen von Lippenbewegungen • Visuelle Kategorisierung: ab 0;5 arbeiten sekundäres und primäres System zusammen Wiedererkennen von Personen auf Fotos, Kategorien von Geschlecht und Alter Form- und Objektwahrnehmung • Form- und Größenkonstanz: Bereits bei Neugeborenen • Visuelle Form- und Objektwahrnehmung • Mit 0;7 wurde linkes Muster länger betrachtet. Andere Versuche belegen Formwahrnehmung spätestens ab 0;3-0;4. • Objekte als getrennt wahrgenommen: - ab 0;3 falls Abstand oder falls unterschiedliche Bewegung - gemeinsam bewegte Teilstücke als zusammenhängend erlebt - ab 0;4 falls unähnlich - ab 0;4,5 Vorerfahrungen eingesetzt, ab 0;8 physikalisches Wissen (Statik) - Intermodale Wahrnehmung - mindestens ab 0;3-0;4 wissen Kinder, dass sie Objekte wahrnehmen entsprechende Greifbewegungen - Visuelles Wiedererkennen von im Mund explorierten Objekten bereits im Alter weniger Wochen • • • • • Das Märchen vom Trend von ganzheitlicher zur analytischen Wahrnehmung Behauptung: Kinder nehmen zunächst „primitive Ganzqualitäten“ war, bis sie Einzelheiten differenzieren Integrale Reize: nicht differenzierbar, z. B. Farbton, Helligkeit und Sättigung eines Farbtons Separable Reize: differenzierbar, z. B. Größe und Helligkeit einer Form Separabilitätshypothese: Kinder nehmen bis 5-6 Jahren alle Reize als integrale Reize wahr Versuch: Welche beiden passen am besten zusammen? Erwachsene Kinder • Kinder neigen dazu, sich auf ein Merkmal zu konzentrieren, können mit 5 Jahren Lautstärke, Rhythmus und Klangfarbe einer Melodie differenzieren. • Gesichtswahrnehmung: zunächst Einzelmerkmale, später hieraus Gesamtbild aufgebaut Entwicklung der Psychomotorik Motorische Entwicklung des Fötus • Spontane Aktivität, Aktivitätsmuster – ab 8.-12. Gestationswoche generalisierte Zuckungen – ab 10. Gestationswoche Atembewegungen, Berührungen des Gesichts mit Hand – 12.-16. Woche Räkeln, Strecken und Gähnen – ab 28. Woche Zunahme des Muskeltonus – selbst nach Geburt bis 0;2 fast nur fötale Bewegungen, angepasst an Schwerkraft • Zyklisierung der Aktivität – ab 14. Gestationswoche Aktivität und Ruhepausen – 38.-40. Woche verschiedene Wach- und Schlafzustände, gekoppelt an Rhythmus der Mutter • Aktivitätsniveau – im zweiten Gestationsdrittel am aktivsten – gegen Ende der Gestationszeit Atembewegungen und Herzrate höher bei Aktivität Entwicklung des Säuglings • Neugeborene bewegen ganzen Körper, stoßen mit Beinen etc., meist spontan. • Augen-, Kopf- und Saugbewegungen am frühesten als Reaktion auf bestimmte Reize • Saugen: Pumpsaugen (Unterdruck), Lecksaugen (Ausstreichen der Brustwarze mit Zunge und Lippen). Bis 0;4-0;6 gleichzeitiges Saugen und Atmen möglich. • Frühes Greifen, Kriechen, Schreiten (falls gehalten und Füße Boden berühren), Schwimmbewegungen, Saugen usw. durch bestimmte Reize ausgelöst; verlieren sich mit 0;2-0;4 und kommen erst später wieder. Auge-Hand-Koordination • • • Armbewegungen von Neugeborenen – Falls Arm/Hand in Richtung auf ein Objekt bewegt, wird dieses meist gerade angeschaut – Neugeborene versuchen, Hand im Blickfeld zu halten, selbst dann, falls die Hand indirekt über Video zu sehen ist Synergie von Hand/Arm – bis 0;2 Beugen/Strecken von Hand und Arm gleichzeitig – 0;2-0;3: Faustballen beim Armausstrecken, keine Auge-HandKoordination mehr – ab 0;3: wieder Auge-Hand-Koordination, Greifversuche Gezieltes Greifen – Neugeborene: Blicken auf Objekt grobe Richtung der Bewegung – später abwechselndes Schauen auf Hand und Objekt, visuelle Führung der Bewegung – ab 18 Wochen sogar Greifen nach bewegten Objekten 30cm/s, Bewegung auf antizipierten „Treffpunkt“ ausgerichtet – mit 34-36 Wochen sogar Fangen von Objekten mit 1.2m/s – ab 0;9 Anpassung der Greifbewegung an Objektgröße Weitere Entwicklung der AugeHand-Koordination • Benötigte Teilkompetenzen: – motorisch: Ausführen – kognitiv: Erwerb und Planung der jeweiligen Handlung (z. B. Schuhebinden, Schreiben) – perzeptuell: z. B. Feinkorrektur der Handlung • Verbesserungen: – Geschwindigkeit der Bewegungen – räumliche/zeitliche Genauigkeit – Zuverlässigkeit der Bewegungsausführung • Manchmal vorübergehende Leistungseinbußen, die auf Umstrukturierungen deuten. Z. B. während Schreibenlernens geringere Leistungen beim Kreise-Malen, Gewichteheben usw. • Oft besseres Handlungs- als deklaratives Wissen: Beim waagerechten Wurf aus unterschiedlicher Höhe in unterschiedliche Weite kaum Unterschiede zwischen 5-6, 10 und Erwachsenen, wohl aber in Angaben, wie schnell man werfen müsse. Laufenlernen • körperliche Voraussetzungen: veränderte Proportionen, beweglichere Gelenke, Muskelkraft, Balance, Integration von Informationen aus Gleichgewichtssinn und aus eigenen Bewegungen • Problem, wie man zu einem Ziel kommt, anfänglich sehr unterschiedlich gelöst, späteres Laufen dagegen sehr ähnlich. wohl mehr Problemlösen als reiner Reifungsvorgang • Entwicklungsaufgabe: Babies, die das Laufenlernen früh bewältigten, in der Regel unternehmungslustiger und weniger ängstlich