Diego – OP in letzter Minute Diego ist einer der glücklichen Hunde

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Diego – OP in letzter Minute
Diego ist einer der glücklichen Hunde, die Asyl bei einer deutschen Frau der Tierhilfe Antalya
gefunden haben. Gemeinsam mit vielen anderen Vierbeinern lebt er dort. Im Internet
versuchen die Tierschützer dann, für die Tiere ein neues Zuhause in Deutschland zu finden.
Dabei sind die Auswahlkriterien, die ein neuer Besitzer erfüllen muss, sehr hoch angebunden,
denn die Tiere sollen nicht nach kurzer Zeit wieder in einem Heim landen oder gar ausgesetzt
werden.
Für viele dieser ehemaligen Streuner beginnt mit dem Weg zum Flughafen auch der Weg in
ein neues und besseres Leben.
Es war noch recht früh am Morgen, als mein Telefon klingelte. Auf dem Display konnte ich
sehen, dass es mein Sohn war. Wenn er anrief, war entweder etwas in der Familie passiert
oder er brauchte meine Hilfe, meist finanzieller Art.
„Hallo Mom. Guten Morgen.“
„Ach. Guten Morgen, Tom. Das ist schön, dass du anrufst. Was gibt es Neues?“, fragte ich
meinen Sohn. Stellte mich dabei erst einmal dumm.
„Du hast doch Kontakt zur Tierhilfe?“ Ohne Zögern kam er sofort zum Punkt seines Anrufs.
Doch heute war es komisch. Keine Havarie in der Familie, keine finanzielle Notlage. Tierhilfe
Antalya war die Frage. Warum das denn?
„Ja, ich fahre heute wieder hin. Warum?“
„Wir haben da einen wunderschönen Hund auf der Seite im Internet gesehen. Gern würden
wir ihn zu uns nach Hause holen. Kannst du nicht mal schauen.“
„Das kann ich machen. Sag mir, wie er heißt“, forderte ich meinen Sohn auf.
„Diego“, war die kurze wie entschiedene Antwort. Typisch. Seine Antworten fielen immer
sehr knapp aus.
„Oh Diego. Er ist sehr scheu, aber ansonsten ein wundervoller Hund. Ich werde mit Mira
sprechen“, versicherte ich ihm.
„Woher kennst du ihn denn?“, kam die überraschte Rückfrage.
„Weil er mich immer begrüßt, wenn ich Mira besuche. Und mittlerweile kann ich ihn auch
schon ab und zu mal streicheln“, erklärte ich. „Seit wann wollt ihr denn einen Hund?“, wollte
ich noch wissen. Dabei dehnte ich bewusst das Wort „ihr“. Dass Tom sich schon seit
Kindertagen einen Hund wünschte, war mir hinlänglich bekannt. Gab es zu diesem Thema
doch immer sehr ausgiebige und meist mit Tränen endende Diskussionen. Doch nun sprach er
von „wir“. Hatte er seine Frau so lange bequasselt, dass sie ihm zustimmte? Mir schwante
nichts Gutes. Wusste ich doch, wie überzeugend er sein konnte, wenn er seinen Willen
durchsetzen wollte.
„Du weißt doch, dass ich schon seit meiner Kindheit so eine Fellnase wollte. Und jetzt habe
ich Jackie noch davon überzeugt“, erklärte er mir. Sollte ich Recht haben?
Seine Frau Jaqueline war nicht immer so überzeugt von all den Tieren, die wir zu Hause in
Deutschland hatten. Noch mehr Angst hatte sie aber vor den Hunden, die ich jeden Tag an den
Futterstellen versorgte. Dabei wollten die immer nur etwas Futter und die eine oder andere
Streicheleinheit. Und die gab ich ihnen gern. Tierlieb war Jackie. Jetzt also hatte Tom sie
überzeugt, einen dieser lieben Straßenhunde nach Deutschland zu holen. Ich freute mich für
beide Seiten. Wenn meine Freude auch etwas verhalten war.
„Aber ich hoffe, ihr habt auch bedacht, dass so ein Hund seine täglichen Forderungen hat. Er
will nicht nur Futter“, mahnte ich.
„Mom, wir sind beide alt genug. Das wissen wir. Jetzt, wo wir mit unserem Studium fertig
sind, können wir uns einen Hund finanziell leisten und haben auch die entsprechende Zeit.
Außerdem kennst du doch unsere neue Wohnung.“
Ich nickte, als könnte er das sehen. „Ja ich weiß. Er hätte einen Garten, wo er sich austoben
könnte. Das wäre schon schön für ihn“, überlegte ich laut. Andererseits kannte ich auch ihre
vielen Aktivitäten. Tom selbst spielte in einer Band, war also viel unterwegs. Dann würde die
Hundepflege auf Jackie sitzen bleiben. Hatten sie auch diesen Umstand bedacht?
„Außerdem sind wir auch sehr aktiv. Unsere Radtouren würden ihm bestimmt riesigen Spaß
machen.“ Was ich hörte, gefiel mir. Sie hatten alles gut geplant und besprochen. Was sollte ich
tun? In meiner Brust kämpften zwei Seelen. Die eine wünschte dem scheuen Tier ein neues
schönes Zuhause. Mit den anderen Mitbewohnern verstand er sich zwar, sein Wesen führte
aber stets dazu, dass er sein Futter separat bekam, da er nicht so drängeln konnte wie seine
Kumpane.
Diego war ein sehr scheuer Hund. Kamen Gäste zu Mira, versteckte er sich. Die anderen
Hunde begrüßten neugierig die Ankömmlinge. Er stand abseits und betrachtete das Geschehen
aus sicherer Entfernung. Ich wollte ihn auch bei meinem ersten Besuch streicheln. Leider
hatte ich keine Chance. Immer wieder flüchtete er. Es dauerte drei Besuche und eine
Bestechung mit Leckerli, bis er sich von mir anfassen ließ. Dafür hatte ich jetzt bei allen
meinen Besuchen einen Beschützer und Schatten. Denn wenn er einmal seinen Menschen
gefunden hatte, verteidigte er ihn mit ganzem Körpereinsatz. Er war wundervoll.
Während ich noch so in meinen Erinnerungen schwelgte, klingelte mein Telefon erneut.
„Hallo, guten Morgen Mira“, begrüßte ich die Anruferin.
„Hallo, guten Morgen, Sandra.“ Miras Stimme klang sehr bedrückt.
„Was ist denn los. Warum klingst du so besorgt?“, wollte ich wissen.
„Ich habe gestern Abend Diego noch zu Doktor Talat gebracht. Du weißt, ich habe dir erzählt,
dass er seit Tagen nicht mehr frisst.“
„Ja ich weiß. Wir dachten, dass er seelisch irgendwie etwas verarbeitet.“ Plötzlich waren die
Fakten wieder präsent.
„Ja, das dachten wir. Doch gerade hatte mich der Doktor angerufen.“ Ihre Stimme wurde
immer zittriger. Sie gab sich zwar nach außen hin immer sehr robust, verdeckte damit ihren
weichen Kern. Sobald irgendetwas mit einem ihrer Schützlinge nicht in Ordnung war, litt sie
Höllenqualen. Mit ganzer Seele hatte sie sich dem Leben der Straßenhunde verschrieben.
„Mira, was ist?“ Ich ahnte das Schlimmste. Bohrte wieder und wieder nach. Gerade jetzt, wo
sich ein neues Zuhause für Diego anbahnte. Wie oft hatten wir darüber gesprochen, dass es
schön wäre, könnte er eine neue Familie finden. Dieser Wunsch sollte nun wahr werden.
Allerdings sprachen die Neuigkeiten, die ich noch nicht vollständig kannte, eine andere
Sprache.
„Ich kann es dir nicht erzählen. Bitte komm zu Doktor Talat“, bat sie mich und legte auf. Ein
tiefer Schluchzer war alles, was ich vor dem Klicken wahrnahm.
Ich kannte Mira lange genug, um zu wissen, dass sie aufgelegt hatte, weil sie weinte. Ich griff
meine Autoschlüssel und fuhr los. Nach zwanzig Minuten Fahrt stand ich vor der Praxis des
Tierarztes. Mit ungutem Gefühl trat ich ein. Herzschlag im Hals. Bedächtiger Schritt. Die
Schwester, die mir mit betrübtem Gesicht entgegenkam, brachte mich in den
Untersuchungsraum. Da lag Diego auf dem Tisch. Mein Herz krampfte sich zusammen. Es
war ein Bild des Grauens, was sich mir darbot. Abgemagert bis auf die Knochen. Große
braune und traurige Augen blickten mich an. Schnell drehte ich mich weg, denn mir schossen
ebenfalls die Tränen in die Augen. Mira stand vor seinem Kopf und schluchzte. Flüsterte
unaufhörlich, hielt liebevoll den Kopf des Tieres.
„Er soll eingeschläfert werden“, stieß sie unter Tränen hervor.
„Warum?“, wollte ich wissen. Entsetzen packte mich. Nicht jetzt. Das geht nicht, schrie ich
innerlich.
„Sein Darm hat sich verschlungen. Wir müssten ihn jetzt sofort notoperieren. Ob er das
übersteht, wissen wir nicht. Er ist schon so schwach“, erklärte der Arzt. „Außerdem hat Mira
nicht mehr genug Geld. Sie hat in diesem Jahr schon so viel ausgegeben, um Tiere zu retten“,
fügte er hinzu.
Ich blickte Mira an. Sie nickte. Dabei streichelte sie sanft über Diegos Kopf.
„Diegolein“, flüsterte sie kaum hörbar.
„Aber …“, setzte ich an. „Das geht nicht. Nicht jetzt.“ Ein Tränenschleier behinderte meine
Sicht. Die weiteren Worte, die ich noch sagen wollte, blieben mir im Hals stecken. Schnell
ging ich aus dem Raum. Die verständnislosen Blicke von Mira und dem Arzt spürte ich im
Nacken.
Ich fischte mein Handy aus der Tasche und rief Tom an. Mit wenigen Worten hatte ich ihm die
Situation erklärt. An seiner Reaktion konnte ich schnell erkennen, dass das soeben Gehörte
ihn sehr traurig stimmte.
„Gibt es keine Chance?“, fragte er recht tonlos.
Da schoss mir ein Gedanke durch den Kopf.
„Ich rufe dich gleich zurück“, sagte ich und legte auf.
Ich ging zurück in den Behandlungsraum.
„Mira, kannst du bitte mal kommen“, bat ich sie.
Sie sah mich verwirrt an, kam aber sofort.
„Was ist?“, fragte sie. Ihre Augen waren vom vielen Weinen gerötet.
„Ich muss dir was sagen“, begann ich.
„Mein Sohn hat mich heute Morgen angerufen und gebeten, dass ich mit dir reden soll. Er
möchte gern Diego haben. Wie viel Geld ist noch in der Kasse?“, wollte ich wissen.
„Es deckt nur die Hälfte der Operationskosten“, schätzte sie ein.
„Gut, ich werde die andere Hälfte bezahlen. Dafür nehme ich dann Diego mit. Mit meinem
Sohn werde ich reden. Er tritt oft mit seiner Band auf. Sie müssen ganz einfach ein
Benefizkonzert für unseren Diego organisieren. Ist das ein Vorschlag?“ Ich war total
euphorisch.
Mira sah mich an, glaubte ihren Ohren nicht trauen zu können. Schien mich zu fragen: „Das
ist jetzt nicht wahr, was du da eben gesagt hast?“ Ich nickte kräftig und langsam mit dem
Kopf, so als wollte ich das eben Ausgesprochene noch einmal untermauern. Ein kaum
merkliches Grinsen huschte über ihr Gesicht.
„Das ist eine tolle Idee.“ Überwältigt schlang sie mir ihre Arme um den Hals. „Aber du musst
dir bewusst sein, dass du das Geld auch in den Sand setzen kannst, wenn er die OP nicht
übersteht. Auch dann will der Doktor trotzdem seine Bezahlung“, gab sie mir zu bedenken.
Ich setzte zu einem Nicken an.
„Nein“, hörten wir eine Stimme hinter uns und ich stoppte meine begonnene Kopfbewegung.
Wir hatten nicht bemerkt, dass Doktor Talat hinter uns stand, wussten auch nicht, wie lange er
schon unser Gespräch belauscht hatte.
Erschrocken sahen wir uns um.
„Ich bin damit einverstanden. Die Summe wird aber erst fällig, wenn ich Diego hier aus der
Klinik entlassen kann. Ist das für euch akzeptabel?“
Wie auf Kommando blickten wir einander an. Antworteten mit einer heftig nickenden
Bewegung. Das war ein Vorschlag, mit dem wir leben konnten. Jedoch nie im Leben erwartet
hätten.
„Wir müssen uns beeilen“, mahnte er uns. „Es zählt jede Minute. Ihr wollt einen gesunden
Hund wiederhaben und ich will Geld verdienen“, scherzte er und ging zurück in den
Behandlungsraum. Noch einmal wurde Diego untersucht. Er ließ alles über sich ergehen, war
viel zu schwach, um sich zu sträuben. Die Schwester legte behutsam den Zugang für die
Narkose. Mira und ich standen am Kopf des Tieres. Sie streichelte ihn, redete ihm gut zu. Ich
hatte beide Hände unter seinen Kopf gelegt, wollte, dass er nicht auf dem kalten und harten
Metall lag. Doktor Talat begann das Fell vom Bauch zu rasieren, während wir alle warteten,
dass die Narkose wirkte. Die Stille im OP war kaum zu ertragen. Durch die angemahnte Eile
hatte ich vergessen, noch einmal Tom zurückzurufen.
Bevor er mit dem Skalpell den Bauch aufschnitt, sah er noch einmal auf das Röntgenbild, um
an der richtigen Stelle zu schneiden. Mit geübten Handgriffen hatte er schnell die überstülpte
Stelle gefunden und konnte sie entfernen. Diegos Funktionen begannen auf einmal zu sinken.
Die Schwester folgte den Anweisungen ihres Chefs und gab Diego etwas zum Stabilisieren.
Doch es schien nicht anzuschlagen. Ich ging in die Hocke, sodass ich ganz nah an Diegos Ohr
war.
„Halte durch, mein Schatz. Du musst wieder gesund werden. Ich werde dich mit nach
Deutschland nehmen. Dort bekommst du ein Zuhause nur für dich allein. Wir werden uns oft
sehen. Tom und Jackie werden gut für dich sorgen. Du kannst dann mit ihnen durch den Wald
rennen, kannst jeden Tag in einem schönen Garten toben. Tom kannst du begleiten, wenn er
mit dem Rad unterwegs ist. Es wird toll werden. Das verspreche ich dir. Aber bitte halte
durch. Du willst doch bestimmt auch wissen, wie Schnee aussieht? Den hast du hier noch nie
gesehen.“
Ich redete ununterbrochen wie ein Wasserfall. Doch er schien nicht leben zu wollen.
„Tom und Jackie warten auf dich. Streng dich an, Diego“, hauchte ich ihm ins Ohr.
Plötzlich öffnete sich die Tür des Operationsraumes. Wir sahen auf. Ich konnte nicht glauben,
wer da stand. Es musste ein Traum sein. Tom und Jackie. Nein, das war eine Fata Morgana.
Ich sah sie fragend an. Sie gingen um den Tisch herum und stellten sich zwischen uns.
„Hallo Diego, hier sind deine neue Mama und dein neuer Papa. Wir wollen, dass du dich jetzt
anstrengst, dass du dir Mühe gibst, wieder gesund zu werden“, hörte ich meinen Sohn
eindringlich reden. Sein Wille, den Hund mitzunehmen, schwang in seinen Worten mit.
Eindringlich. Fest entschlossen.
Doktor Talat schüttelte den Kopf. Jackie wandte sich von dem Tisch ab. Sie kämpfte mit sich
und ihren Tränen.
Zögernd hob Tom seinen Arm, legte seine Hand hinter Diegos Ohr und beugte sich herab.
„Hör mal zu, mein Freund. Ich akzeptiere nicht, dass du dich jetzt auf den Weg zum
Regenbogen begibst. Wir sind nicht so weit geflogen, um dir beim Sterben zuzusehen. Also
streng dich an, mach mit. Wir haben noch so viel Schönes vor.“ Er schien mir oft so
tollpatschig in seinen Gefühlen. Seine soeben gesagten Worte klangen warm in die Totenstille
des Raumes. Waren so mit Gefühlen angehäuft, dass dem Tier eigentlich gar nichts anderes
übrig blieb, als zu leben.
Mira, Jackie und ich konnten vor Tränen nichts mehr sehen. Gebanntes Lauschen.
Doktor Talat und seine Schwester sahen wie gebannt auf den Monitor.
Stille im Raum. Nur Toms Flüstern. Immer und immer wieder. Es war eine gefühlte Ewigkeit.
Plötzlich zeigte die Schwester mit dem Finger auf den Monitor. Auch ein befreiender Ton war
zu hören. Diegos Vitalfunktionen hatten wieder eingesetzt. Doktor Talat arbeitete schnell
weiter, schloss die Wunde. Dominoähnlich begannen wir zu lächeln.
Dann hoben die beiden Männer den noch schlafenden Hund vom Tisch und legten ihn auf ein
dickes Kissen.
„Wir können jetzt nur noch hoffen“, sagte er und ging kopfschüttelnd aus dem Raum. Das
soeben Erlebte schien auch ihn zu berühren. Wir blieben neben Diego.
Ich sah meinen Sohn und meine Schwiegertochter fragend an.
„Wo kommt ihr denn her?“, fragte ich flüsternd. Tom grinste, auch wenn es ihm angesichts
des Elends schwer fiel.
„Als wir dich heute Morgen angerufen hatten, waren wir bereits auf dem Weg zum Flughafen.
Du hast mich dann gerade noch beim Boarding erwischt“, erklärte er mir.
„Aber woher wusstest du, wo du hin musst?“, hakte ich weiter nach.
„Ganz einfach. Du hast schon so viel von dem tollen Doc erzählt. Wir haben im Internet
geschaut und die Adresse gefunden. Dann steigt man in ein Taxi und lässt sich fahren.“
„Ihr seid vielleicht Klasse“, strahlte ich. Mira schüttelte den Kopf. Damit hatte sie nicht
gerechnet.
„Hoffentlich schafft es der Kerl“, sagte sie. „Ich glaube, ich habe mich in all den Jahren noch
nie so darauf gefreut, dass einer meiner Schützlinge ein neues Zuhause bekommt. Ich habe so
ein gutes Gefühl“, fügte sie hinzu. Anerkennend klopfte sie Tom auf die Schulter.
„Setzt du deinen Willen immer so rabiat durch?“, kam scherzhaft die Frage.
„Meist“, antwortete er tonlos.
Mira musste zurück, denn die anderen Tiere warteten auf sie. Wir einigten uns mit dem Arzt,
blieben bei dem Hund. Er gab uns Decken, dass es nicht so hart war. Tom und Jackie lehnten
dankend ab. Sie waren schließlich Abenteuer gewöhnt, hatten immer in ihren Rucksäcken
Schlafsack und Isomatte dabei. Abwinkend verließ der Doktor den Raum. Noch nie hatte er so
unkomplizierte und entschlossene junge Menschen kennen gelernt. Wir richteten es uns den
Möglichkeiten entsprechend gemütlich ein. Warteten.
Als es zu dämmern begann, erwachte Diego aus seiner Narkose. Tom träufelte etwas Wasser
auf sein Maul. Die Nacht über wachten wir abwechselnd. Irgendwann gegen Morgen muss
uns dann der Schlaf übermannt haben, als wir merkten, dass Diego seine OP gut überstanden
hatte und sich schlafend von den Strapazen erholte.
Gegen sieben Uhr morgens weckte uns Doktor Talat. Wir sahen zu Diego. Er lag eingerollt
neben uns und schaute mit seinen braunen Augen ziemlich ängstlich. Tom und Jackie stellten
sich noch einmal vor. Und streichelten ihn vorsichtig. Der Tierarzt untersuchte seinen
Patienten noch einmal.
„Es sieht gut aus“, nickte er. „Diego hat euch sein Leben zu verdanken.“ Anerkennendes
Schulterklopfen. Er lachte die beiden jungen Leute an. Stolz grinsten sie zurück.
„Nun müssen wir anfangen, ihn zu füttern.“ Yilmaz Talat holte eine kleine Dose mit
Hundefutter. In der anderen Hand hielt er einen kleinen Löffel.
„Er bekommt erst einmal einen Löffel voll. Aber nicht mit einem Mal“, wies er die neuen
Eltern an. Noch ziemlich misstrauisch besah sich Diego das Häppchen, das ihm von Jackie
gereicht wurde. Sie wollte ihre mütterlichen Fähigkeiten unter Beweis stellen. Zögernd nahm
er es mit seinen Lippen. Dann erhielt er noch ein wenig Wasser. Tom und Jackie sahen sich
glücklich an. Liebevoll umfasste Tom die Schulter seiner Frau, die ihren Kopf an seine
Schulter lehnte.
„So und nun geht ihr erst einmal mit zu eurer Mutter. Ihr könnt dann später wiederkommen“,
ordnete der Doktor an. Sein Blick verhinderte, dass Tom widersprach, auch wenn er schon
angesetzt hatte.
Auf dem Weg nach Hause sprachen wir noch einmal über ihre Aktion. Es sollte eine
Überraschung werden für mich und ihren neuen Hund. Dass das Schicksal es anders gemeint
hatte, konnten sie zum Zeitpunkt der Abreise nicht wissen.
Lange hielt es uns nicht in meiner Wohnung. Duschen, Frühstück und eine Stunde Schlaf war
alles, was wir uns gönnten. Dann fuhren wir wieder zurück, um nach dem Patienten zu sehen.
Er schlief, und das war gut so. Auch die nächsten Tage verbrachten Tom und Jackie in der
Praxis, kümmerten sich liebevoll um Diego.
Von Tag zu Tag ging es ihm besser. Er konnte immer besser fressen, machte seine ersten
Spaziergänge mit seinen Eltern. Es war eine Wonne zuzusehen, wie er sich von seiner
schweren Operation recht schnell erholte. Die Freundschaft zwischen ihm und seinen neuen
Pflegern wuchs zusehends. Nach einer Woche nahmen wir ihn mit zu mir nach Hause. Da ich
hin und wieder auch Straßenhunden ein Zuhause gab, hatte ich bereits ein Hundekörbchen,
das er auch sofort in Beschlag nahm. Die drei unternahmen lange und ausgedehnte
Spaziergänge am Strand, tobten und spielten mit ihm, in dem Maß, wie seine Kraft es zuließ.
Diese Zuwendung schien ihm gut zu tun. Er blühte regelrecht auf, genoss die ungeteilte Liebe.
Fast kam es mir vor, als würde jetzt die Genesung noch schneller vorangehen. Diego erwies
sich auch als Wasserratte, denn sobald Jackie ihr T-Shirt über den Kopf zog, war er schon im
Meer. Auch ich hatte ein gutes Gefühl. Es war eine richtige Entscheidung.
Eines Abends, als wir noch auf dem Balkon saßen, sprach ich Tom auf meine Idee an.
„Tom, wir müssen da noch was besprechen. Und es ist gut, dass Jackie mit dabei ist“, begann
ich. Mein Plan war in den letzten Tagen in den Hintergrund gerutscht.
Beide sahen mich verwundert an.
„Was gibt’s?“ fragten sie wie aus der Pistole geschossen.
„Mira hatte nicht genügend Geld für die OP. Ich habe den Rest aus meiner Tasche bezahlt …“
„… und jetzt willst du von uns das Geld?“, fragte Jackie mit einem grimmigen
Gesichtsausdruck. Sie war sehr sparsam, was ich an meiner Schwiegertochter sehr schätzte.
Doch wenn es um außergewöhnliche Ausgaben ging, dann mutierte sie zum Geizkragen.
„Nein“, antwortete ich. „Bleib mal ganz ruhig und lass mich erst mal ausreden“, bat ich sie.
Sie jedoch rutschte schon auf ihrem Stuhl nach vorn, um ihr gemeinsames Konto wie eine
Wölfin zu verteidigen. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.
„So, jetzt hört mir bitte erst einmal zu, bevor ihr mich wieder unterbrecht“, bat ich.
Tom nickte, Jackie riss die Augen auf.
„Also noch mal. Ich habe die restliche Summe für die OP bezahlt. Nun habe ich eine Idee.
Tom hat immer mal ein Konzert. Vielleicht kannst du deine Mitstreiter dafür gewinnen, dass
ihr mal ein sogenanntes Benefizkonzert gebt. Die Einnahmen könnten dann zu Gunsten der
Tierhilfe gespendet werden. Wenn Mira nämlich nicht bald wieder Geld bekommt, dann stirbt
die ganze Hilfsaktion für die Straßenhunde. Was haltet ihr davon?“ Ich blickte von einem zum
anderen, war auf die Reaktion gespannt. Ließ ihnen Zeit, den Vorschlag zu verdauen.
Tom überlegte, das konnte ich an seinem Gesichtsausdruck sehen. Jackie schien sich für das
Projekt „Musik für die Straßenhunde“ begeistern zu können.
Nach einer Weile verzog Tom sein Gesicht.
„Hm“, begann er. „Das klingt nicht schlecht. Bestimmt werden die Jungs mitmachen. Und
genug Publikum würden wir auch zusammenbekommen, wenn Jackie die Werbung mit
übernimmt“, reagierte er darauf. Jackie nickte sofort zustimmend.
„Na klar mache ich das.“
„Ich habe da noch eine Idee“, setzte Tom an.
„Wir hören“, kam es wie aus einem Mund von uns.
„Wir haben doch Fotos gemacht von Diego.“ Wir nickten.
„Diese Bilder werden wir in die Werbung mit einbauen und für das Konzert eine Präsentation
vorbereiten, wo wir noch mehr Bilder von der Arbeit der Frauen hier vor Ort zeigen und auch
von dem Drama der Straßenhunde. Was haltet ihr davon?“, schlug er vor.
Das war eine Super-Idee. Doch das bedeutete für uns, dass wir noch mal zu Mira mussten, um
Fotos zu machen. Außerdem hieß es auch, die Stellen abzufahren, wo sich die meisten Hunde
aufhielten. Gesagt, getan.
Als wir Mira in unseren Plan einweihten, war sie sprachlos. Rührung stand in ihrem Gesicht
geschrieben.
„Ich dachte schon, ich müsste am Ende des Jahres zurück nach Deutschland, denn das Geld ist
aufgebraucht. Ich kann auch von dort keine finanzielle Unterstützung mehr bekommen, weder
für die Hunde noch für mich“, klärte sie uns auf. Die Situation war also ernster als ich je
gedacht hatte.
Als Diego transportfähig war, händigte Mira Tom und Jackie die notwendigen Papiere aus.
Wir buchten den nächsten Rückflug. Ich brachte die drei an den Flughafen. Diego wurde
eingecheckt und bevor er verschwand, gab es noch eine innige Umarmung von mir.
„Alles Gute Diego. Du hast es verdient, ein neues und schönes Zuhause zu bekommen. Hast
gekämpft. Lass es dir gutgehen. Wir sehen uns schon bald wieder.“
Eine Träne der Wehmut rollte mir aus den Augen. Doch ich wusste, er würde ein tolles
Zuhause mit tollen Menschen bekommen. Behutsam wischte Jackie die Träne weg, lächelte
mich an. Die Augen schließend, nickte ich, gab ihnen zu verstehen, dass ich mit der Lösung
einverstanden bin.
Schon drei Wochen später erhielt ich eine Überweisung von mehr als 3.000 Euro. So viel
hatten die jungen Leute mit dem Konzert eingenommen. Sie selbst hatten nicht einen Cent für
sich beansprucht, obwohl sie noch in der Gründungsphase waren. Und als Ehrengast thronte
Diego auf der Bühne. Als ich Mira das Geld und das per Mail geschickte Bild überreichte,
konnte sie nur strahlen. Worte brachte sie nicht über die Lippen.
Was aus Diego geworden ist? Er hat sich schnell an sein neues Zuhause gewöhnt, wurde auch
der „Band-Hund“. Und er hat sich zu einem tollen Gefährten, Beschützer und Kuschelhund
entwickelt. Ich würde sagen, er ist rundherum glücklich, genau wie seine Besitzer, die nie
bereut haben, diese tolle Fellnase nach Deutschland geholt zu haben.
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