Vorstellungen zu Gesundheit und Krankheit Vorlesung „Gesundheitsbezogene Sozialarbeit – Aufgabenfelder und Grundlagen“ Prof. Dr. Ralph Viehhauser Definitionen zu „Krankheit“ Dorsch (1987): Beeinträchtigung des physischen oder psychischen Gleichgewichts (Homöostase) und somit Störung der normalen Funktionen der Organe und Organsysteme. Die Abgrenzung von Krankheit gegenüber der Norm erfolgt gewöhnlich durch Symptome. Brockhaus (2004): Störungen im Ablauf der normalen Lebensvorgänge in Organen und Organsystemen durch einen Reiz, der zu einer von der Norm abweichenden vorübergehenden Beeinträchtigung der physischen Funktionen und/oder der psychischen Befindlichkeit, gegebenenfalls auch zu wahrnehmbaren körperlichen Veränderungen, im Extremfall zu Tod führt. „Krankheit“ nach BSG und Krankenversicherung Für das Bundessozialgericht (BSG) ist Krankheit ein regelwidriger körperlicher oder geistiger Zustand, der einer Heilbehandlung bedarf oder/und mit welchem Arbeitsunfähigkeit einhergeht. Beides kann verbindlich nur durch einen Arzt festgelegt werden. In der Gesetzlichen Krankenversicherung z.B. ist Krankheit ein rechtlicher Zweckbegriff, der von seiner Funktion geprägt wird, nämlich das versicherte Risiko zu definieren und den Tatbestand zu bestimmen, welcher die Leistungspflicht der Träger der Gesetzlichen Krankenversicherung auslöst. Definitionsversuche zu „Gesundheit“ Gesundheit ist die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen (biomedizinische Definition). Gesundheit, latein. sanitas, der Zustand, in dem sich Lebewesen befinden, wenn all ihre Organe ungestört tätig sind und harmonisch zur Erhaltung ihres ganzen Wesens zusammenwirken sowie ihre Fortpflanzung gewährleisten (Brockhaus, 1969). Gesundheit im positiven Sinn besteht in der Fähigkeit des Organismus, ein Gleichgewicht aufrecht zu erhalten, das ihm erlaubt, mehr oder weniger frei von starkem Schmerz, Unbehagen, Handlungsunfähigkeit oder -einschränkung zu leben (Engel, 1960). Gesundheit nach Sigmund Freud: Lieben und arbeiten können. Gesundheit kann definiert werden als der Zustand optimaler Leistungsfähigkeit eines Individuums für die wirksame Erfüllung der Rollen und Aufgaben, für die es sozialisiert worden ist (Parsons, 1967). Gesundheit ist ein Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen (WHO, 1946). Ein Zustand, gekennzeichnet durch relativ gute Anpassung, Gefühle des Wohlbefindens und die Verwirklichung der eigenen Potenziale und Fähigkeiten (Wolman, 1973). Gesundheit ist nicht das Nichtvorhandensein von Krankheit: Gesundheit ist die Möglichkeit, die physischen und psychischen Anlagen voll auszuschöpfen, d.h. die Fähigkeit, den eigenen Körper optimal zu gebrauchen (Jervis, 1978). Dimensionen der Gesundheit Abriss der Medizingeschichte Historische Erklärungs- und Behandlungsversuche für Gesundheit und Krankheit Archaik (bis etwa 500 v. Chr.) Bevor es wissenschaftliche Forschung in unserem Sinne gab, galten alle guten oder bösen Kräfte, die der Kontrolle des Menschen entzogen waren als etwas Übernatürliches. Dazu gehörten auch schwere Krankheiten, somatischer oder psychischer Natur. Z.T. praktizierte man bei Krankheit eine Art Exorzismus um die bösen Geister auszutreiben. Antike (500 v. Chr. bis 500 n. Chr.) Einen wesentlichen Fortschritt im Umgang mit dem Thema Krankheit und Gesundheit gab es in der Antike, v.a. durch die Lehren von Hippokrates (460377 v. Chr.) und seinen Schülern (z.B. Galen, 130-200 n. Chr.). Hippokrates hielt die genaue Beobachtung für die entscheidende Grundlage, um mehr über Erkrankungen und deren Behandlung zu verstehen. Er verwarf die zu seiner Zeit auch in Griechenland vorherrschende Ansicht, dass schwere Krankheit und seelische Verwirrung Strafe der Götter seien und bestand darauf, dass solche Krankheiten natürliche Ursachen hatten. Für das normale Funktionieren des Körpers machte er das delikate Gleichgewicht der vier Körperflüssigkeiten „Blut“, „schwarze Galle“, „gelbe Galle“ und „Schleim“ verantwortlich. Gesundheit wurde als das Ergebnis der rechten Lebensführung (Diätetik) verstanden. Fehler in der Lebensführung stören das Gleichgewicht und die natürliche Harmonie. Dementsprechend war die Heilkunst (der Antike) darauf ausgerichtet, Entgleisungen der angestrebten Harmonie zu korrigieren und Gesundheit durch rechte Lebensführung zu fördern. Mittelalter (ca. 500 bis 1500) Die mittelalterliche Medizin lag weitgehend in den Händen von Geistlichen und Mönchen. Magie und Aberglauben hatten einen großen Einfluss. Krankheit wurde vielfach als Strafe für begangene Sünden, als Besessenheit durch den Teufel oder aber als Folge von Hexerei verstanden. Mit der Erklärung „Die Kirche vergießt kein Blut“, auf dem Konzil von Tours (1163) wurde (selbst) die Chirurgie aus den Händen der Ärzte genommen, die (bis dahin) ja zumeist Geistliche waren, und den Badern, Barbieren, Henkern und Quacksalbern jeder Art überlassen. In Punkto medizinischen Fortschritts war das Mittelalter eine Zeit des Stillstandes (oder gar Rückschrittes). 17./18. Jahrhundert Erst das 17. Jhd. bringt einige wichtige Fortschritte in den Wissenschaften. Es ist die Epoche der großen Mathematiker, Physiker und Philosophen (z.B. Descartes, Leibnitz, Pascal, Galilei, Kepler, Bacon). Die moderne, empirische Naturwissenschaft wird geboren. Auf dieser Grundlage entwickelt sich auch die Medizin rasant weiter: Die Anatomie wird um die Physiologie erweitert. Morgagni begründet 1761 die anatomisch fundierte Organpathologie. Exkurs: Cartesischer Dualismus Durch die aufkommende Naturwissenschaft war das Weltbild der Kirche stark gefährdet. René Descartes gelang es 1648, Ordnung in die Kompetenzstreitigkeiten von Religion und Wissenschaft zu bringen. Er unterscheidet zwischen der res cogitans (Geistiges) und res extensa (Körperliches). Auf der einen Seite steht die Welt der Materie (Körper), eine perfekte Maschine, die mathematisch beschreibbar ist, auf der anderen Seite steht die unsterbliche Seele (Geist), die unser Denken, Wünsche und unsere geistigen Funktionen bestimmt. Sie unterliege nicht den Gesetzen der Physik. Sie sei mit den Methoden der Naturwissenschaft von daher auch nicht fassbar. So kam es, dass sich die naturwissenschaftliche Erforschung des Menschen zunächst ausschließlich auf die Erforschung des Materialen, des Körpers beschränkte. Die Medizin bekam eine starke materialistisch-mechanistische Orientierung. 19. Jahrhundert Etablierung der Zellularpathologie (durch Rudolf Virchow, 1858) Etablierung der Mikrobiologie durch Louis Pasteur und Robert Koch (v.a. in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts) Die Entwicklung der Mikrobiologie hat (zusammen mit der Organ- und Zellularpathologie) das damalige medizinische Weltbild revolutioniert. Es entstand damit eine Vorstellung von Krankheit und Gesundheit, die bis heute die Sichtweise in der Medizin und in unserem Gesundheitssystem stark beeinflusst: das pathogenetische Paradigma bzw. biomedizinische Krankheitsmodell.