Das Genfer Ärztegelöbnis Prof. Dr. Dr. Daniel Schäfer Institut für Geschichte und Ethik der Medizin Universität zu Köln Folien-Download siehe uk-online, Homepage D. Schäfer, Lehrmaterialien Gelöbnis am Beginn des Medizinstudiums? Gelöbnisse traditionell bei Beginn einer Lehrausbildung (in Köln bei Staatsexamensfeier am Ende des Studiums) Übernahme von Verantwortung – von Anfang an Bewusstsein für ärztliches Ethos früh schärfen Als Teil (Präambel) der Berufsordnung für alle deutschen Ärzte bindend: „Für jede Ärztin und jeden Arzt gilt folgendes Gelöbnis …“ Daniel Schäfer Genfer Gelöbnis 2 Agenda Text und Entstehungsgeschichte Bezug zum „Hippokratischen Eid“ Sinn und Unsinn von Gelöbnissen Was ist relevant für einen modernen ethischen Kodex? Daniel Schäfer Genfer Gelöbnis 3 Genfer Gelöbnis (1) Bei meiner Aufnahme in den ärztlichen Berufsstand gelobe ich feierlich, mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen. Daniel Schäfer Genfer Gelöbnis 4 Genfer Gelöbnis (2) Ich werde meinen Beruf mit Gewissenhaftigkeit und Würde ausüben. Daniel Schäfer Genfer Gelöbnis 5 Genfer Gelöbnis (3) Die Gesundheit meines Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein. Daniel Schäfer Genfer Gelöbnis 6 Genfer Gelöbnis (4) Ich werde alle mir anvertrauten Geheimnisse auch über den Tod des Patienten hinaus wahren. Daniel Schäfer Genfer Gelöbnis 7 Genfer Gelöbnis (5) Ich werde mit allen meinen Kräften die Ehre und die edle Überlieferung des ärztlichen Berufes aufrechterhalten. Daniel Schäfer Genfer Gelöbnis 8 Genfer Gelöbnis (6) Ich werde mich in meinen ärztlichen Pflichten meinem Patienten gegenüber nicht beeinflussen lassen durch Alter, Krankheit oder Behinderung, Konfession, ethnische Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politische Zugehörigkeit, Rasse, sexuelle Orientierung oder soziale Stellung. Daniel Schäfer Genfer Gelöbnis 9 Genfer Gelöbnis (7) Ich werde jedem Menschenleben von seinem Beginn an Ehrfurcht entgegenbringen und selbst unter Bedrohung meine ärztliche Kunst nicht in Widerspruch zu den Geboten der Menschlichkeit anwenden. Daniel Schäfer Genfer Gelöbnis 10 Genfer Gelöbnis (8) Meine Kolleginnen und Kollegen sollen meine Schwestern und Brüder sein. Ich werde meinen Lehrern die schuldige Achtung und Dankbarkeit erweisen. Dies alles verspreche ich auf meine Ehre. (Declaration of Geneva, Übersetzung nach der Version der 46. Generalversammlung 1994) Daniel Schäfer Genfer Gelöbnis 11 Entstehungsgeschichte des Genfer Gelöbnisses Dokument der Globalisierung: Grundlagentext des Weltärztebundes (WMA), 1948 verabschiedet (ein Jahr nach Gründung der WMA, fast zeitgleich zur Gründung der UNO, WHO etc.) Suche nach gemeinsamer Grundlage für ärztliches Handeln in einer pluralen, multikulturellen Welt Dokument der Rückbesinnung: Verlust ethischer Standards im NS-Staat und in anderen totalitären Staaten Traditionsbetontes Gelöbnis als Selbstvergewisserung. Erinnerung an ältere Genfer Konvention (Int. Rotes Kreuz) Dokument der Neuorientierung: Nürnberger Kriegsverbrecherprozess gegen Ärzte (1947/48): Berufung des Angeklagten Karl Brandt auf den «Hippokratischen Eid» hat als ethischer Kodex ausgedient Daniel Schäfer Gender Gelöbnis 12 Enger Bezug zum „Eid des Hippokrates“ Stammt aus dem Corpus Hippocraticum, wurde aber wahrscheinlich nicht von Hippokrates (460-370 v. Chr.?), sondern erst sehr viel später verfasst Schwur auf den Eid (oft im Kombination mit anderen Schriften) bei Promotion/Approbation seit dem 16. Jahrhundert. Erweiterte/gekürzte, christianisierte/islamisierte/ jüdische Versionen Seit vielen Jahrhunderten historischer Steinbruch mit Brisanz, aber veraltete Passagen: z.B. religiöser Schwur; Verbote von Blasensteinschnitt, Abtreibung, Auftragstötung/Sterbehilfe; Verpflichtung zur Versorgung der Lehrer Genfer Gelöbnis: „entschärfter Eid“, inhaltsärmer, viel weniger im Bewusstsein der deutschen Ärzte als „Hippokratischer Eid“ Daniel Schäfer Genfer Gelöbnis 13 Genfer Gelöbnis: Inhaltsanalyse (1) Allgemeine Standesverpflichtungen (1) Bei meiner Aufnahme in den ärztlichen Berufsstand gelobe ich feierlich, mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen. (2) Ich werde meinen Beruf mit Gewissenhaftigkeit und Würde ausüben […] (5) Ich werde mit allen meinen Kräften die Ehre und die edle Überlieferung des ärztlichen Berufes aufrechterhalten […] (7) [Ich werde] selbst unter Bedrohung meine ärztlichen Kunst nicht in Widerspruch zu den Geboten der Menschlichkeit anwenden. Vgl. Hipp. Eid: Rein und heilig werde ich mein Leben und meine Kunst bewahren. Übereinstimmung von Leben und Beruf? Korrekte Berufsausübung womöglich wichtiger als (bedrohtes) persönliches Leben, vgl. (7). Übergeordnetes Ziel der ärztlichen Tätigkeit: „Dienst (an) der Menschlichkeit“ (= an den Menschen?). Im engl. Text inzwischen eindeutiger Bezug zu den Menschenrechten: not to violate human rights and civil liberties) Wichtige Berufsattribute: „Gewissenhaftigkeit und Würde“ Verpflichtung gegenüber „Standesehre“ und Traditionen Daniel Schäfer Genfer Gelöbnis 14 Genfer Gelöbnis: Inhaltsanalyse (2) Hauptziel ärztlichen Handelns (3) Die Gesundheit meines Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein. Vgl. Hipp. Eid: Maßnahmen werde ich zum Nutzen der Kranken entsprechend meiner Kraft und meinem Urteilsvermögen anwenden; vor Schaden und Unrecht werde ich sie bewahren. Hauptziel des ärztlichen „Dienstes an der Menschlichkeit“: Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit salus aegroti suprema lex Wunsch/Interessen/Sichtweisen des Patienten bleiben unerwähnt (voluntas aegroti suprema lex) Patientenautonomie Gesundheit als alleiniges oberstes Ziel blendet weite Bereiche der Versorgung chronischer Patienten aus: Leidensminderung! Patientengesundheit soll wichtiger sein als Profit, Bürokratie, persönliches Ansehen etc. Hipp. Eid bietet demgegenüber differenziert zwei entscheidende Fundamente einer Arzt-Patient-Beziehung: • • Gebot des therapeutischen Nutzens Verbot, durch Medizin Schaden zuzufügen Daniel Schäfer Genfer Gelöbnis 15 Genfer Gelöbnis: Inhaltsanalyse (3) Schweigepflicht (4) Ich werde alle mir anvertrauten Geheimnisse auch über den Tod des Patienten hinaus wahren. Vgl. Hipp. Eid: Was auch immer ich bei der Behandlung oder auch unabhängig von der Behandlung im Leben der Menschen sehe oder höre, werde ich, soweit es niemals nach außen verbreitet werden darf, verschweigen, in der Überzeugung, dass derartige Dinge unaussprechbar sind. Schweigepflicht als wichtiger Bestandteil einer ArztPatienten-Beziehung, auch gegenüber Verwandten, Freunden, Lebensgefährten, Versicherungen, Arbeitgeber, Staat … Erweiterung („über den Tod hinaus“): spiegelt fortschreitende Verrechtlichung ärztlicher Praxis im 20. Jahrhundert Daniel Schäfer Genfer Gelöbnis 16 Genfer Gelöbnis: Inhaltsanalyse (4) Behandlung ohne Unterschiede (6) Ich werde mich in meinen ärztlichen Pflichten meinem Patienten gegenüber nicht beeinflussen lassen durch Alter, Krankheit oder Behinderung, Konfession, ethnische Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politische Zugehörigkeit, Rasse, sexuelle Orientierung oder soziale Stellung. Vgl. Hipp. Eid: In alle Häuser, die ich betrete, werde ich eintreten zum Nutzen der Kranken, frei von jedem absichtlichen Unrecht […] an weiblichen und männlichen Personen, sowohl Freien als auch Sklaven. Kein Unterschied in der Behandlung sozialer Gruppen; erweitert um Religion, Nationalität, Rasse, Partei Kontext des 20. Jahrhunderts Neuere Ergänzungen um gender, age, disease typisch für spätes 20. Jahrhundert (Diskriminierungsdebatten) Daniel Schäfer Genfer Gelöbnis 17 Genfer Gelöbnis: Inhaltsanalyse (5) Lebensschutz (7) Ich werde jedem Menschenleben von seinem Beginn an Ehrfurcht entgegenbringen. Vgl. Hipp. Eid: Auch werde ich niemandem auf seine Bitte hin ein tödlich wirkendes Mittel geben, noch werde ich einen derartigen Rat erteilen; in gleicher Weise werde ich auch keiner Frau ein fruchtabtreibendes Zäpfchen geben. Verzicht auf Konkretion des Lebensschutzes (Sterbehilfe, Abtreibung), stattdessen: Nicht spezifizierte Ehrfurcht gegenüber dem Leben: speziell deutsche Wendung, geht auf Albert Schweitzer (Arzt, Theologe, Friedensnobelpreisträger 1952) zurück. „von seinem Beginn an“: im deutschen Text stehengeblieben; englische Version inzwischen allgemeiner: respect for human life (beginnt für manche Gesellschaften erst mit oder nach der Geburt) Daniel Schäfer Genfer Gelöbnis 18 Genfer Gelöbnis: Inhaltsanalyse (6) Kollegialität (8) Meine Kolleginnen und Kollegen sollen meine Schwestern und Brüder sein. Ich werde meinen Lehrern die schuldige Achtung und Dankbarkeit erweisen. […] Vgl. Hipp. Eid: [Ich schwöre,] denjenigen, der mich diese Kunst gelehrt hat, gleich zu achten meinen Eltern […] Ausbildungskontext: Lehrer-Schüler-Verhältnis, ursprünglich: Aufnahme in Familie des Lehrherren, materielle Verpflichtung gegenüber Lehrherren Medizin immer noch von persönlicher Vermittlung geprägt (manuelle Techniken, klinische Erfahrung) Gegenseitiger Respekt, Abhängigkeit von Kollegen (lebenslang), aber keine Gleichstellung mit Blutsverwandten! (ist inzwischen gestrichen) Daniel Schäfer Genfer Gelöbnis 19 Kritik am Genfer Gelöbnis Generell: Gelöbnisse … … sind eine antiquierte Ausdrucksform moralischer Verpflichtung: nur in bestimmten Bereichen juristisch relevant (Beamte, Soldaten, eidesstattliche Erklärungen etc.). … sind als Entscheidungsgrundlage für komplexe ethische Situationen im Alltag nicht geeignet: Erforderlich sind Reflektion und Abwägung von Normen im Diskurs zwischen Betroffenen, keine starre Festlegung … können zwar im Einzelfall helfen, emotional das Ethos zu stärken oder ohne Nachdenken einer einmal getroffenen Überzeugung treu zu bleiben (z.B. bei Notfällen) … behindern aber im Normalfall die kritische Reflektion: Besser nachdenken und sich fortbilden als schwören! … sind kein Ersatz für Verlust eines gemeinsamen Wertekanons Daniel Schäfer Genfer Gelöbnis 20 Kritik am Genfer Gelöbnis Konkret: Das Genfer Gelöbnis … … ist nicht zeitlos, sondern Ausdruck einer bestimmten historischen Situation Mitte des 20. Jahrhunderts bzw. der Antike … ist dementsprechend trotz etlicher Revisionen sprachlich und sachlich antiquiert, v.a. in der deutschen Übertragung: Worthülsen wie „Menschlichkeit“, „Würde“, „edle Überlieferung“, „Ehre“, „Ehrfurcht“, „Gebote“, „schuldige Achtung“ sind Luftnummern, solange sie nicht mit Inhalt gefüllt werden … ist einerseits wegen ethischem Pluralismus in entscheidenden Passagen sehr vage, vertritt andererseits immer noch ein zu paternalistisches Arztbild: • • • • Keine Work-Life-Balance (Arzt soll sich ggf. für seinen Beruf opfern) Verschworene Gemeinschaft? (Kollegen als Brüder und Schwestern?) Patientenwohl zu sehr an objektivem Gesundheitsbegriff orientiert Der ärztlichen Tradition zu folgen („Ehre und edle Überlieferung“) kann genauso falsch wie richtig sein (Lehre aus der Medizingeschichte) Daniel Schäfer Genfer Gelöbnis 21 Zusammenfassung: Das Genfer Gelöbnis ist nicht … … eine Zusammenfassung grundlegende Aspekte der modernen Medizinethik (z.B. fehlen die Aspekte: Honorierung von Hilfe, Lernen am kranken Patienten, Umgang mit Ungeborenen/Sterbenden, Patientenautonomie, Forschungsethik, …) … ein ethischer Kodex, sondern ein Ausdruck für bestimmtes ärztliches Ethos (sittliche Gesinnung): Sammlung von einigen handlungsrelevanten Anweisungen aus einem historischen Kontext der Medizin, die zum Teil überholt sind. … in irgendeiner Weise für heutige Ärzte verbindlich, auch wenn es aus folkloristischen Gründen an verschiedenen Universitäten geschworen wird (Kompensation für Verlust gemeinsamer Werte?). Als Teil der Musterberufsordnung ist es für deutsche Ärzte nur eine rechtsunverbindliche Absichtserklärung. Daniel Schäfer Genfer Gelöbnis 22 Zusammenfassung: Das Genfer Gelöbnis … … enthält trotz vieler Lücken und Antiquiertheiten einige fundamentale Aspekte für das sich ständig wandelnde Selbstverständnis der Medizin, über die es sich immer wieder nachzudenken lohnt (gerade auch am Beginn des Medizinstudiums) Diese Aspekte sind bis heute wichtig, auch wenn sie in jedem Fall genau zu hinterfragen sind: Daniel Schäfer Genfer Gelöbnis 23 Heutige (erweiterte) Bedeutung des Genfer Gelöbnisses: Sieben Antworten 1. 2. 3. 4. „Hilfe zur Gesundheit“/Leidensminderung und „Menschlichkeit“/Menschenrechte als übergeordnete Ziele ärztlichen Handelns Achtung der Lehrer, Kollegen (und auch der Kommilitoninnen und Kommilitonen!); sie sind nicht durch Bücher oder Medien zu ersetzen. Notwendige Spezialisierung; Ärzte sind keine Allround-Genies, sondern Teamworker Fundamentale Bedeutung der vertraulichen Arzt-Patient-Beziehung (inkl. Schweigegebot) Daniel Schäfer Genfer Gelöbnis 24 Heutige (erweiterte) Bedeutung des Genfer Gelöbnisses: Sieben Antworten 5. 6. 7. Gleichbehandlung aller Menschen Schutz des Lebens (besonders an seinem Anfang und Ende) Enger Bezug zwischen Beruf und Lebensführung; moralische Integrität des Arztes Daniel Schäfer Genfer Gelöbnis 25 Das Genfer Ärztegelöbnis Danke für Ihre Aufmerksamkeit! Prof. Dr. Dr. Daniel Schäfer Institut für Geschichte und Ethik der Medizin Universität zu Köln Folien-Download: Homepage in uk-online (Lehrmaterialien)