Linagliptin - Pharmazeutische Chemie Linagliptin (Trajenta ) Die Arzneistoffklasse der Dipeptidyl-Peptidase-4-Inhibitoren (DPP-4Inhibitoren) ist noch relativ jung. Sitagliptin (Januvia, Xelevia) war 2007 das erste Gliptin, das zugelassen wurde. Ihm folgten Vildagliptin (Galvus, Jalra) und Saxagliptin (Onglyza) (Strukturformeln s. Abbildung 4). Mit Linagliptin (Trajenta) erhielt nun im Oktober 2011 das vierte Gliptin die Zulassung (Strukturformel s. Abbildung 1). Als peroral verfügbares Antidiabetikum ist es indiziert bei Typ-2-Diabetes mellitus in Kombination mit Metformin bzw. in Kombination mit Metformin und einem Sulfonylharnstoff oder als Monotherapie, wenn Metformin kontraindiziert ist oder nicht vertragen wird. Die Einnahme der Filmtabletten erfolgt einmal täglich. Trajenta kann zu jeder Tageszeit und unabhängig von den Mahlzeiten eingenommen werden (Fachinformation Trajenta 2011). Wegen der geringen Elimination über die Niere (< 7 %) könnte Linagliptin besonders interessant für niereninsuffiziente Typ-2-Diabetiker sein (Zettl und Steinhilber 2010). O N N N N N O N N NH2 Linagliptin Abbildung 1 DPP-4-Inhibitoren gehören neben den GLP-1-Analoga (GLP-1 = glucagon-like peptide 1) zu den Arzneistoffen, die am Inkretinsystem angreifen. Inkretine sind Peptidhormone, die im Darm nur wenige Minuten nach einer Kohlenhydrataufnahme freigesetzt werden. Durch Bindung an spezifische Rezeptoren der β-Zellen des Pankreas wird die Insulinfreisetzung erhöht. Dieser sogenannte Inkretin-Effekt macht ca. 50% der postprandialen Insulinausschüttung aus (Kieffer und Habener 1999). Zu den Inkretinen zählen das schon erwähnte GLP-1 sowie das GIP (gastric inhibitory peptide). Die Inaktivierung beider Hormone erfolgt sehr schnell. GLP-1 besitzt ein Halbwertszeit von weniger als zwei Minuten, GIP eine von fünf bis sieben Minuten (Deacon et al. 2000). Somit ist klar, dass die körpereigenen Inkretine therapeutisch wegen ihrer schnellen Inaktivierung nicht eingesetzt werden können. Die Verhinderung des 1 CA 1.12.2011 Linagliptin - Pharmazeutische Chemie Abbaus der Inkretine durch DPP-4-Hemmung hat sich neben der chemischen Strukturmodifizierung der Inkretinmoleküle, d.h. der Entwicklung von GLP-1Analoga, die nicht durch DPP-4 abgebaut werden, als praktikables und erfolgversprechendes Konzept herausgestellt. Verantwortlich für die rasche Inaktivierung ist die Dipeptidyl-Peptidase-4 (DPP4). Bisher sind neun verschiedene Dipeptidyl-Peptidasen bekannt. Bis auf die DPP-4 sind alle anderen DPPs bislang nur unzureichend charakterisiert und die natürlichen Substrate größtenteils nicht identifiziert (Havale und Pal 2009). DPP-4 wird konstitutiv auf den Membranen verschiedener Gewebe exprimiert, darunter Dünndarm, Leber und Niere. Zusätzlich ist das Enzym in gelöster im Plasma nachweisbar. Bei dem auf aktivierten T-Lymphozyten exprimierten Oberflächenantigen CD26 handelt es sich ebenfalls um DPP-4, allerdings liegt bislang kein Beweis vor, dass die Enzymaktivität für die Immunfunktion des Körpers von Bedeutung ist (Thornberry und Gallwitz 2009). Linagliptin besitzt eine sehr hohe Selektivität für die DPP-4. Nahe verwandte Dipeptidylpeptidasen wie DPP-8 und DPP-9 werden durch Linagliptin kaum gehemmt (Thomas et al. 2008). DPP-4 hat viele physiologische Substrate wie beispielsweise Substanz P, Neuropeptid Y, IGF-1 (insulin-like growth factor 1) und eben die Inkretine. Das Enzym ist verantwortlich für die Inaktivierung all dieser Peptide. DPP-4 ist eine nichtklassische Serin-Protease, d.h. es liegt eine inverse Anordnung der katalytischen Triade Ser-Asp-His vor. Dipeptidylpeptidase-4 His Ala Glu Thr Gly Phe Thr Ser Asp Val N-Terminus Ser Lys Ala Ala Gln Trp Leu Gly Glu Leu Tyr Ser Arg Gly Arg Gly Glu Phe Ile Ala Val C-Terminus Abbildung 2: Angriff von DPP-4 innerhalb der Aminosäuresequenz von GLP-1 (nach Havale und Pal 2009) 2 CA 1.12.2011 Linagliptin - Pharmazeutische Chemie Das Enzym katalysiert die N-terminale Abspaltung eines Dipeptids aus den aktiven Substraten. Bevorzugt werden solche Peptide gespalten, die an Position 2 des N-terminalen Endes ein Prolin oder ein Alanin enthalten. GIP und GLP-1 besitzen beide ein Alanin an dieser Stelle und sind ideale Substrate für DPP-4 (Mentlein et al. 1993, Havale und Pal 2009) (s. Abbildung 2). Von der chemischen Struktur aus betrachtet sind die DPP-4-Inhibitoren eine sehr heterogene Substanzklasse. Sie werden grob in zwei verschiedene Klassen eingeteilt: peptidomimetische und nicht-peptidomimetische Inhibitoren. Die bislang zugelassenen Substanzen Sitagliptin, Vildagliptin und Saxagliptin zählen - obwohl von der chemischen Struktur auch sehr unterschiedlich - zu den peptidomimetischen Inhibitoren. Linagliptin dagegen gehört zu den nichtpeptidomimetischen Inhibitoren (Havale und Pal 2009) (s. Tabelle 1). Zusätzlich können alle DPP-4-Hemmer hinsichtlich ihres Bindungsmodus im aktiven Zentrum unterteilt werden in kovalent bindende und nicht-kovalent bindende Inhibitoren. Vildagliptin und Saxagliptin gehören zu den Inhibitoren, die eine kovalente Bindung im aktiven Zentrum ausbilden, Sitagliptin und das neue Linagliptin gehören zu den nicht-kovalent bindenden Inhibitoren (Gupta et al. 2009). 2-Butin an N7 4-Methylchinazolinmethyl an N1 O N N N 7 1 N 8 N O N N 3 (R) 9 NH2 H Methyl an N3 (R)-3-Aminopiperidin an C8 Xanthin Abbildung 3: Linagliptin: der zentrale Baustein Xanthin trägt vier Substituenten Ausgangspunkt für dessen Entwicklung war ein High Throughput Screening von Xanthin-Derivaten (Eckhardt et al. 2007). Systematische Strukturmodifikationen am zentralen Baustein, dem Xanthin, führten dann letztlich zu Linagliptin. Der Xanthin-Heterozyklus trägt vier Substituenten. An C-Atom 8 befindet sich ein 3 CA 1.12.2011 Linagliptin - Pharmazeutische Chemie basischer 3-Aminopiperidinring mit einem chiralen C-Atom, wobei Linagliptin das reine (3R)-Enatiomer ist. N-Atom 7 trägt einen 2-Butinyl-Rest, N-Atom 3 eine Methylgruppe und N-Atom 1 eine 4-Methylchinazolinmethyl-Gruppe (s. Abbildung 3). Die Kristallstruktur von Linagliptin im aktiven Zentrum der DPP-4 zeigt, dass zahlreiche (nicht-kovalente) stabilisierende Wechselwirkungen zwischen Enzym und Inhibitor existieren. Der Aminopiperidin-Rest an C-Atom 8 ist in der S2Tasche des aktiven Zentrums positioniert. Die protonierte, primäre Aminogruppe bildet H-Brücken zu drei verschiedenen Aminosäuren aus (Glu205, Glu206, Tyr662). Der Butinyl-Rest an N-Atom 7 besetzt die hydrophobe S1-Tasche. Das Xanthin-Gerüst ist so positioniert, dass die Pyrimidindion-Untereinheit π-π-Wechselwirkungen mit dem aromatischen Ring eines Tyrosins (Tyr547) eingeht. Die Carbonyl-Gruppe an C-Atom 6 des Xanthins bildet eine H-Brücke zu einer NH-Gruppe des Aminosäure-Rückgrats aus (Eckhardt et al. 2007). Die Peptidomimetika (Strukturformeln s. Abbildung 4) unter den DPP-4Hemmern besitzen vielfach ein Pyrrolidin, welches das Substrat-Prolin an P1Position im aktiven Zentrum imitiert. Beispiele hierfür sind Vildagliptin und Saxagliptin. Beide Substanzen enthalten eine 2-Cyanopyrrolidin-Partialstruktur, wobei die Cyano-Gruppe als Elektrophil fungiert und durch die räumliche Nähe zur Hydroxyl-Gruppe des Serins im aktiven Zentrum eine reversible kovalente Bindung in Form eines Imidoesters ausbildet (s. Abbildung 5). Die S2-Tasche wird bei diesen beiden Inhibitoren von einer Glycin-Untereinheit („α-Serie“) besetzt, die zusätzlich stabilisierende H-Brücken ausbildet. Arzneistoff DPP-4-Inhibitor-Klasse Linagliptin nicht-peptidomimetisch, Xanthin-Derivat Sitagliptin Vildagliptin Saxagliptin Tabelle 1: peptidomimetisch, β-Serie (β-Alanin), Triazolopiperazin peptidomimetisch, α-Serie (Glycin), Cyanopyrrolidin peptidomimetisch, α-Serie (Glycin), Cyanopyrrolidin Art der DPP-4Hemmung reversibel, kompetitiv, nicht-kovalent, langwirksam reversibel, nicht-kovalent langwirksam reversibel, kovalent reversibel, kovalent DPP-4-Inhibitoren (nach Gupta et al. 2009) 4 CA 1.12.2011 Linagliptin - Pharmazeutische Chemie peptidomimetische Inhibitoren F beta-Alanin (beta-Serie) F NH2 O Triazolopiperazin N N N F N Sitagliptin F F F OH Glycin (alpha-Serie) O N N H N Vildagliptin Cyanopyrrolidin Glycin (alpha-Serie) N O HO N NH2 Saxagliptin Abbildung 4: Cyanopyrrolidin Strukturcharakteristika peptidomimetischer DPP-4-Inhibitoren 5 CA 1.12.2011 Linagliptin - Pharmazeutische Chemie Sitagliptin ist kein elektrophiles Cyanopyrrolidin, sondern es enthält einen Triazolopiperazin-Ring, der nicht-kovalent im aktiven Zentrum bindet. Anstelle der Glycin-ähnlichen Struktur besitzt Sitagliptin einen Bauplan, der eine βAlanin-Partialstruktur (ein zusätzliches C-Atom zwischen Amino- und Carbonyl-Gruppe im Vergleich zur Glycin-Struktur) enthält („β-Serie“). OH O N N H N Ser HO Vildagliptin O NH N H N O Ser Imidoester Abbildung 5: Bildung eines reversiblen kovalenten Imidoesters der Cyanopyrrolidine (hier: Vildagliptin) im aktiven Zentrum der DPP-4 Zahlreiche weitere DDP-4-Hemmer befinden sich derzeit in der klinischen Prüfung (s. Übersichtsartikel zu DPP-4-Hemmern: u.a. Green et al. 2006, Havale und Pal 2009, Gupta et al. 2009, Lotfy et al. 2011). Literatur: Deacon, C.F. et al. J Clin Endocrinol Metab 2000, 85, 3575 Eckhardt, M. et al. J Med Chem 2007, 50, 6450 6 CA 1.12.2011 Linagliptin - Pharmazeutische Chemie Fachinformation Trajenta 2011 Boehringer Ingelheim International GmbH Green, B.D. et al. Diab Vasc Dis Res 2006, 3, 159 Gupta, R. et al. Curr Drug Targets 2009, 10, 71 Havale, S.H. und Pal, M. Bioorg Med Chem 2009, 17, 1783 Kieffer, T.J. und Habener, J.F. Endocr Rev 1999, 20, 876 Lotfy, M. et al. Open Med Chem J 2011, 5(Suppl 2), 82 Mentlein, R. et al. Eur J Biochem 1993, 214, 829 Thomas, L. et al. J Pharmacol Exp Ther 2008, 325, 175 Thornberry, N.A und Gallwitz, B. Best Pract Res Clin Endocrinol Metab 2009, 23, 479 Zettl, H. und Steinhilber, D. Pharm unserer Zeit 2010, 39, 108 7 CA 1.12.2011