Plastizität des auditorischen Mittelhirns

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7. DGA Jahrestagung 2004
Die Plastizität des auditorischen Hirnstamms nach
einseitiger Schwerhörigkeit oder Ertaubung
Illing R.-B., Meidinger M.A., Kraus K.S.
Neurobiologisches Forschungslabor, Hals-Nasen-Ohrenklinik, Universität Freiburg, Killianstr. 5, 79106
Freiburg, E-mail: [email protected]
Hintergrund und Fragestellung
Das auditorische System des Menschen ist plastisch. Für die Identifikation der Richtung, aus der ein
Geräusch kommt, müssen wir die Signale, die uns von
beiden Ohren vermittelt werden, vergleichen und
verrechnen. Eine wichtige physikalische Größe für
diese Verrechnung ist der binaurale Lautstärkeunterschied. Bei Versuchspersonen kann man diese Größe
dadurch stören, dass man den Außenohrkanal einer
Seite mit einem schalldämmenden Ohrenstöpsel ausfüllt. Dies hat zur Folge, dass die Versuchsperson eine
unsichtbare Schallquelle zunächst falsch lokalisiert.
Erst im Laufe von etwa einer Woche hat sich das
zentrale auditorische System den veränderten Bedingungen angepasst und die Versuchsperson lokalisiert
Schallquellen wieder richtig (Florentine, 1976). Welche Vorgänge dabei im Gehirn ablaufen wissen wir
jedoch nicht.
Auch an Patienten, die postlingual ertaubt sind und
ein Cochlear Implantat erhalten haben, kann man
binaurale Plastizitätsphänomene beobachten. Haben
diese Patienten ein Resthören auf dem anderen Ohr,
das sie z.B. vermittels eines Hörgerätes nutzen, entscheidet sich meist binnen einer Woche, ob die Signale beider Ohren miteinander integriert werden können
oder ob der betreffende Patient bevorzugt, nur eines
der Geräte anzuschalten. Auch die Einbeziehung der
Elektroden im Hochtonbereich ist für die Patienten
unmittelbar nach der Implantation oft schwierig; ob
sie genutzt werden können erweist sich zumeist innerhalb von zwei Wochen.
Beide Plastizitätsphänomene betreffen die binaurale Integration. Die erste Station entlang der aufsteigenden Hörbahn, in der binaurale Integration stattfinden kann, ist der Obere Olivenkomplex. Die Olive
empfängt nicht nur Signale vom Ohr über den Cochleariskern, sie projiziert auch zurück ins Ohr, und
zwar entlang zweier Hauptsysteme: dem lateralen
olivocochleären oder LOC System und dem medialen
olivocochleären oder MOC System.
Material und Methoden
Wir haben unsere Untersuchungen an der adulten
Ratte durchgeführt und zwei Ertaubungsmodelle eingesetzt: das einseitige Schalltrauma (Michler und
Illing, 2002) und die Cochleotomie (Illing et al.,
1997). Immunhistochemie wurde unter Einsatz von
Antikörpern gegen Neurofilamente, Calretinin, Synaptophysin und das wachstumsassoziierte Protein GAP43 ausgeführt (Illing et al., 1997). Der Nachweis von
GAP-43 mRNA erfolgte durch in situ-Hybridisierung
mit einer etwa 1 kb langen Sonde (Illing et al., 1999).
Als axonale Tracer wurden Meerrettich-Peroxidase
(Illing et al., 1997), Fast Blue und Diamidino Yellow
(Horváth et al., 2000) verwendet. Läsionen der Oberen
Olive wurden durch stereotaktische Injektionen von
Kainat erzielt (Kraus und Illing, 2004).
Ergebnisse
Eine partielle Schädigung der Cochlea, wie sie
durch ein Schalltrauma entstehen kann, führt zu einem
Verlust eines Teils ihrer zentralen Projektion (Michler
und Illing, 2003). Eine Cochleotomie führt dagegen zu
einem vollständigen Verlust des Spiralganglions und
seiner Axone im Cochleariskern, also zu einer totalen
Taubheit. Im Cochleariskern erkennt man dies an der
Degeneration der Nervenfasern (Illing et al., 1997). In
beiden Fällen, sowohl nach Schalltrauma als auch
nach Cochelotomie, kommt es im Cochleariskern aber
nicht nur zu Phänomenen der Degeneration, sondern
auch zu Rekonstruktionsprozessen.
Um Rekonstruktionsprozesse zu identifizieren bedienen wir uns molekularer Marker. Das wachstumsund plastizitätsassoziierte Protein GAP-43 ist ein
solcher Marker, der von Neuronen exprimiert wird,
die sich im Zustand der Axogenese und Synaptogenese befinden (Benowitz und Routenberg, 1997). Im
Cochleariskern der Ratte auf der Seite einer Cochleotomie ist nach 7 Tagen Überlebenszeit ein deutlicher
Anstieg der GAP-43 Immunoreaktivität eingetreten.
Diese Zunahme erwies sich nach einer Quantifizierung durch densitometrische Messungen als statistisch
signifikant.
Natürlich wissen wir damit noch nichts darüber, in
welchen zellulären Elementen GAP-43 lokalisiert ist.
Bei hoher lichtmikroskopischer Vergrößerung finden
wir GAP-43 nicht in Zellkörpern, nicht in Dendriten,
auch kaum in Axonen, sondern vor allem in Boutons.
Mit dem Lichtmikroskop können wir jedoch nicht
nachweisen, ob diese Boutons tatsächlich präsynaptische Endigungen sind, deshalb haben wir das Elektronenmikroskop eingesetzt. Dabei hat sich der Verdacht
bestätigt, dass GAP-43 vor allem in präsynaptischen
Endigungen lokalisiert ist.
Vergleicht man die Dichte der GAP-43 positiven
Boutons im Cochleariskern mit der Gesamtpopulation
präsynaptischer Endigungen, dargestellt durch das
synaptische Protein Synaptohysin, erkennt man, dass
der prozentuale Anteil der Synapsen, die sich nach
einer Cochleotomie durch GAP-43 anfärben lassen,
erheblich ist.
Nun war natürlich von Interesse herauszufinden,
woher das GAP-43 der präsynaptischen Endigungen
im Cochleariskern stammt, d.h. in welchen Zellkör-
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pern es produziert wird. Aus dem Cochleariskern
selbst stammt es nicht: es gibt dort keine GAP-43
positiven Zellkörper. Es gibt dort auch keine Zellkörper, die nach einer Cochleotomie GAP-43 mRNA
produzieren (Illing et al., 1999). Im Gegensatz zum
Cochleariskern gibt es aber GAP-43 Produzenten in
der lateralen Oberen Olive. Sieben Tage nach einer
Cochleotomie waren dort GAP-43 positive Nervenzellkörper erkennbar. Nach einer Cochleotomie war
auch die GAP-43 mRNA in einigen Neuronen besonders stark exprimiert. Diese Neurone erwiesen sich in
Doppelfärbungsexperimenten als identisch mit den
immunreaktiven Neuronen (Illing et al., 1999). Wir
konnten auch zeigen, dass es sich bei diesen Neuronen
um LOC-Neurone handelt, denn sie konnten
gleichzeitig mit dem axonalen Tracer MeerettichPeroxidase aus der Cochlea markiert werden.
Als Ursprung für die im Cochleariskern beobachtete ertaubungsabhängige GAP-43 Expression kämen
die LOC-Neurone jedoch nur in Frage, wenn sie Kollaterale in dieses Kerngebiet sendeten. Das tun sie im
normalen erwachsenen Tier jedoch nicht (Horváth et
al., 2000). Wir haben vor einer Cochleotomie einen
gelbfluoreszierenden Tracer (Diamidino Yellow) in
die Cochlea und einen blaufluoreszierenden axonalen
Tracer (Fast Blue) in den Cochleariskern injiziert.
Olivocochleäre Zellen mit Axonkollateralen in den
Cochleariskern müssten jetzt doppelt gefärbt werden.
LOC-Neurone waren aber nur in extrem wenigen
Fällen (durchschnittlich nur ein Neuron pro Experiment) doppelt markiert. Nun wäre es denkbar, dass sie
solche Axonkollaterale infolge einer Ertaubung auswachsen lassen. Wir haben aber zeigen können, dass
dies nicht der Fall ist. Ihre Anzahl hat auch nach einer
Cochleotomie nicht zugenommen (Kraus und Illing,
2004), also können LOC Neurone nicht für die Zunahme von GAP-43 im Cochleariskern nach einer
Ertaubung verantwortlich sein.
Anstelle doppelt markierter LOC-Neurone haben
wir in diesen Experimenten zahlreiche doppeltmarkierte MOC-Neurone gefunden (Horváth et al., 2000).
Diese Zellen erwiesen sich nach einer Cochleotomie
auch als positiv für GAP-43 mRNA. Wenn nun MOCNeurone für die im Cochleariskern beobachtete ertaubungsabhängige GAP-43 Zunahme verantwortlich
wären, müsste diese ausbleiben, wenn zuvor die
MOC-Neurone entfernt würden. Diesen Zusammenhang haben wir durch lokale Injektion des Nervengiftes Kainat in den Oberen Olivenkomplex versucht zu
beantworten. Die unmittelbare Wirkung solcher Injektionen lässt sich am Verlust neuronaler Zellkörper
überprüfen. In einer Serie solcher Experimente haben
wir verschiedene Teile des oberen Olivenkomplexes
lädiert, und zwar jeweils vor einer gleichseitigen oder
gegenüberliegenden Cochleotomie, oder die Läsion
der Olive erfolgte bilateral (Kraus und Illing 2004).
Die Wirkung des Verlustes von MOC-Neuronen
auf die GAP-43 Expression im VCN war sofort erkennbar. Mit densitometrischen Messungen haben wir
zeigen können, dass es vor allem die Projektion von
den contralateralen MOC-Neuronen ist, über die
GAP-43 in den Cochleariskern gelangt, aber erst im
Falle einer bilateralen Läsion der Olive bleibt die
GAP-43 Expression infolge einer Cochleotomie völlig
aus. Für die Zunahme von GAP-43 im Cochleariskern
nach Ertaubung sind also MOC-Neurone verantwortlich.
Wir wissen nun, welcher Umstand die ertaubungsabhängige GAP-43 Expression im Cochleariskern
induziert und von welchen Neuronen es dorthin gebracht wird. Wir wissen aber noch nicht, ob die GAP43 positiven präsynaptischen Endigungen schon vor
der Cochleotomie vorhanden waren und jetzt modifiziert werden, oder ob es Neubildungen synaptischer
Kontrakte sind. Wir glauben zeigen zu können, dass
das Letztere der Fall ist. Nach einer Cochleotomie
erscheinen im gleichseitigen Cochleariskern GAP-43
positive unreife Nervenfasern, die mit Vesikeln gefüllt
sind. In günstigen Fällen erkennt man sogar voll ausgebildete Wachstumskegel, deutlich zu erkennen an
ihren Filopodien. Zahlreiche dieser Filopodien enthalten GAP-43. Mit diesen Filopodien suchen Wachstumskegel nach geeigneten postsynaptischen Profilen
für die Ausbildung synaptischer Kontakte.
Können wir schließlich etwas über die postsynaptischen Zellen aussagen, an denen diese neuen präsynaptischen Endigungen sitzen? Wir haben gefunden,
dass GAP-43 positive Boutons nur an Zellkörpern
sitzen, die den Neurotransmitter Glutamat oder das
Kalzium-bindende Protein Calretinin enthalten, aber
nicht an GABAergen Neuronen (Illing et al., 1997).
Der Verlust sensorischer Erregung infolge einer Ertaubung führt im Cochleariskern also offenkundig zu
einer Neubildung von Synapsen vorwiegend an erregenden Neuronen.
Diskussion
Auf der Grundlage dieser Befunde können wir eine
hypothetische Erklärung für das eingangs erwähnte
Phänomen der Korrektur des Richtungshörens geben.
Richtungshören basiert u.a. auf dem Lautstärkevergleich beider Ohren. MOC-Neurone erhalten Signale
von den Cochleariskernen beider Seiten. Wenn die
sensorische Aktivierung im Cochleariskern auf der
einen Seite nachlässt, bilden die cholinergen MOCNeurone dort neue synaptische Kontakte an exzitatorischen Neuronen. Dies könnte dazu dienen, die binaurale Integration wieder auszubalancieren und ein korrektes Muster neuronaler Aktivität trotz asymmetrischen Hörens in der aufsteigenden Hörbahn wieder
herzustellen. Dass dieser Vorgang nur dann zum Erfolg führen kann, wenn auf dem beeinträchtigten Ohr
ein Resthören besteht, ist offenkundig.
Zusammenfassung
Nach Schalltrauma oder Cochleotomie kommt es
zu einer massiven Expression von GAP-43 im ventralen Cochleariskern. GAP-43 ist in zahlreichen präsynaptischen Endigungen lokalisiert, deren Ursprungszellen nicht im Cochleariskern liegen. Nach Cochleotomie kommt es zur Hochregulation von GAP-43
mRNA nur in den Zellkörpern olivocochleärer Neuro-
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nen des Oberen Olivenkomplexes; diese Zellen müssen deshalb Ursprung des GAP-43 Proteins im VCN
sein. LOC-Neurone entsenden keine Axonkollaterale
in den VCN; sie entwickeln auch keine nach einer
Cochleotomie, fallen also als Ursprung für die GAP43 Expression im VCN aus. MOC-Neurone entsenden
Axonkollaterale in den Cochleariskern. Werden die
MOC-Neurone vor der Cochleotomie entfernt, bleibt
die GAP-43 Expression im VCN aus. Dieser Befund
veranlasst uns zu der Schlussfolgerung, dass MOCNeurone Ursprung der ertaubungsabhängigen GAP-43
Expression im VCN sind. Infolge einer Ertaubung
kommt es zur GAP-43 Expression nicht nur in bestehenden, sondern auch in neu gebildeten präsynaptischen Endigungen, wie das Erscheinen unreifer Neuriten und Wachstumskegeln anzeigt. GAP-43 positive
Synapsen finden sich an glutamatergen, aber nicht an
GABAergen postsynaptischen Profilen, d.h. die Reinnervation ist zielgerichtet. Die ertaubungsbedingte
Reorganisation des Cochleariskerns führt offenbar zu
einer selektiven Innervation exzitatorischer Neurone,
möglicherweise als Kompensation für die ausbleibende sensorische Stimulation.
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