35 D IE FÜNF H AUPTABSCHNITTE DES GEHIRNS bei der Schmerz- und Angstvermittlung hat. Außerdem verläuft die Formatio reticularis durch das Mesenzephalon. Das dorsal gelegene Tectum besteht aus vier Hügeln und wird daher auch Vierhügelplatte genannt. Die inferioren Hügel vermitteln auditive, die superioren Hügel visuelle Funktionen. Tectum Das Dienzephalon | 3.7.4 Das Dienzephalon besteht aus zwei Strukturen, dem Thalamus und Hypothalamus mit seinem Ausführungsorgan, der Hypophyse. Thalamus: Der Thalamus besteht aus paarweise angelegten taubeneigroßen Kernen, die durch die Adhesio interthalamica verbunden sind. Er ist eines der komplexesten Gebilde des ZNS. Sein wichtigstes Merkmal sind die intensiven wechselseitigen Faserverbindungen zum Kortex. Er moduliert ein- und ausgehende Informationen zum Kortex und wird deshalb Tor zum Kortex genannt. Es werden spezifische und unspezifische Thalamuskerne unterschieden. Die spezifischen Thalamuskerne projizieren je nach Sinnesqualität zu abgrenzbaren Bereichen der Kortexrinde und stellen die letzte sensorische (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken), sensible (Tasten, Vibration, Schmerz) und motorische Umschaltstelle vor dem Eingang in die Großhirnrinde dar. Die Verschaltung ist dabei reziprok, d. h. der Kortex steuert deszendierend das Erregungsniveau der spezifischen Thalamuskerne und damit seinen Informationsinput. Die unspezifischen Thalamuskerne leiten das Erregungsniveau der Formatio reticularis an den Kortex weiter. Indem sie die spezifischen Thalamuskerne aktivieren, kommt es zu einer unspezifischen Vorerregung der Hirnareale, die durch die spezifischen Thalamuskerne innerviert werden. Der Thalamus verfügt außerdem über ein eigenes Arousalsystem, das thalamische Retikulärsystem. Es sitzt dem Thalamus als Netzwerk von Dendriten wie eine Kappe auf. Das thalamische Retikulärsystem wird vom Kortex gemäß einer Kopie der durch die spezifischen Thalamuskerne erregten Hirnareale innerviert. Es senkt das Erregungsniveau der spezifischen Thalamuskerne und damit ihre Durchlässigkeit für Information. Über diese negative Feedbackschleife verhindert der Kortex Überaktivierung durch die sich reziprok verstärkenden Arousalmechanismen der spezifischen und unspezifischen Thalamuskerne. spezifische Thalamuskerne unspezifische Thalamuskerne thalamisches Retikulärsystem Rockstroh, Biologische Psychologie © 2011 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München 36 NEUROANATOMIE Hypothalamus: Der Hypothalamus steuert über chemische Botenstoffe das vegetative Nervensystem und das endokrine System. Dabei integriert er den Output aus vielen Hirnarealen wie dem limbischen System und dem thalamokortikalen System und vermittelt diese Information über Botenstoffe an die Peripherie. Sein Ausführungsorgan ist die Hypophyse. Der Hypothalamus reguliert folgende Funktionen des vegetativen Nervensystems: ˘ Aufrechterhaltung der Homöostase (Temperatur, Blutdruck, Osmolarität), ˘ Regulation der Nahrungs- und Wasseraufnahme, ˘ zirkadiane Rhythmik und Schlaf, ˘ Steuerung des Sexual- und Fortpflanzungsverhaltens. Hypophyse Hypophysenhinterlappen Neurosekretion Hypophysenvorderlappen Die Hypophyse ist mit dem Hypothalamus über den Hypophysenstiel verbunden. Sie unterteilt sich in zwei morphologisch und entwicklungsgeschichtlich unterschiedliche Strukturen, den Hinterlappen (Neurohypophyse), der Teil des Hypothalamus ist, und den Vorderlappen (Adenohypophyse), der eine endokrine Drüse ist. Der Hypophysenhinterlappen besteht aus Nervenfasern, die vom Hypothalamus produzierte Botenstoffe ins Blut abgeben. Hierzu gehören Vasopressin, ein Hormon, das die Wasserrückretention aus dem Urin steuert, und Oxytozin, das Kontraktionen des Uterus herbeiführt. Die Nerven des Hypophysenhinterlappens sind zur Sekretion von Botenstoffen in die Blutbahn in der Lage. Sie benutzen wie das endokrine System das Kreislaufsystem, um ihr Zielorgan zu erreichen. Mit der Neurosekretion erfolgt eine Umwandlung neuronaler Information in endokrine Signale. Sie stellt damit ein Bindeglied zwischen den chemischen Signalsystemen dar und ermöglicht es dem Gehirn, kontinuierlich Information an die Peripherie zu senden und am Zielorgan langfristige Regulationsprozesse zu bewirken. Der Hypophysenvorderlappen, eine endokrine Drüse, produziert einerseits Releasing- und Inhibiting-Hormone, die zur Freisetzung von Hormonen aus peripheren endokrinen Drüsen führen, beispielsweise der Definition Hormone werden in endogenen Drüsen oder Gewebe synthetisiert. Sie werden in die Blutbahn ausgeschüttet und benutzen das Kreislaufsystem, um die Zielzelle zu erreichen. Sie legen dabei eine große Distanz zwischen Signal- und Zielzelle zurück und entfalten an der Zielzelle eine langsame, kontinuierliche Wirkung. Rockstroh, Biologische Psychologie © 2011 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München 37 D IE FÜNF H AUPTABSCHNITTE DES GEHIRNS Schilddrüse, den Ovarien, Testes und der Nebennierenrinde. Andererseits produziert er Effektorhormone, die direkt auf das Effektororgan wirken, wie Prolactin und das Wachstumshormon. Das Telenzephalon | 3.7.5 Das Telenzephalon wiegt etwa 1.400 Gramm und besteht aus zwei Hemisphären. Sie sind durch einen tiefen Einschnitt, die Fissura longitudinalis cerebri, voneinander getrennt, jedoch durch einen dicken Nervenstrang, das Corpus callosum (Balken), miteinander verbunden. Die äußere graue 2–5 mm dicke Schicht, die das Telenzephalon wie eine Rinde umgibt, wird zerebraler Kortex oder Neokortex genannt. Er besteht aus grauer Substanz, weil er viele Nervenzellkörper enthält. Er weist eine starke Faltung auf mit kleinen Vertiefungen, den Sulci, und wenigen großen Einschnitten, den Fissuren. Die dazwischen liegenden Wölbungen heißen Gyri. Durch die Faltung kann die Oberfläche des Kortex auf 2.360 cm2 vergrößert werden, ohne dass eine physiologisch vertretbare Schädelgröße überschritten wird. Unter dem Kortex liegt die weiße Substanz, die aus vielen Millionen Nervenfasern besteht. Ihre Gesamtlänge umfasst den Abstand von der Erde zum Mond oder den 145-fachen Erdumfang. Wichtige Teilstrukturen des Telenzephalon sind das limbische System und die Basalganglien. Sie bestehen aus grauer Substanz, die unterhalb des Kortex liegt. Es handelt sich um subkortikale Teilstrukturen des Kortex. Der zerebrale Kortex besteht aus sechs Schichten. In die Schichten III, IV und V geht die Information aus den Sinnessystemen über die spezifischen Thalamuskerne ein, in die Schichten I und II Assoziationsfasern aus anderen ipsilateralen kortikalen Regionen, die Kommissurenfasern aus der kontralateralen Hemisphäre und die Eingänge aus den unspezifischen Thalamuskernen. Die Ausgänge erfolgen über die Schichten V und VI, die an die weiße Substanz angrenzen. Das Telenzephalon wird pro Hemisphäre in vier Lappen untergliedert: Den Frontallappen, den Parietallappen, den Okzipitallappen und den Temporallappen. Frontal- und Parietallappen trennt der Sulcus centralis, der Temporallappen wird durch den Gyrus temporalis superior vom Frontal- und Parietallappen getrennt. Die Information aus den Sinnesorganen wird nach Umschaltung auf die kontralaterale Hemisphäre im primären visuellen, auditorischen, motorischen und somatosensorischen Kortex gespeichert und verarbeitet. Um die primären Kortizes liegen die Assoziationsareale der Sinnesmodalitäten, in denen die Information aus den primären Korti- zerebraler Kortex (Neokortex) graue Substanz weiße Substanz 6 Schichten 2 x 4 Lappen primäre Kortizes und Assoziationsareale Rockstroh, Biologische Psychologie © 2011 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München 38 NEUROANATOMIE zes integriert und zu einem Gesamteindruck aus allen Sinnesmodalitäten verarbeitet wird. So ist es möglich, sich beim Anblick eines Gesichtes an den Klang der Stimme zu erinnern oder Körpersensationen mit einem visuellen Eindruck zu verbinden. Definition Der vorderste Bereich des motorischen Assoziationskortex wird präfrontaler Kortex genannt. Hier finden höhere kognitive Funktionen statt, wie schlussfolgerndes Denken und Handlungsplanung. Motorische und somatosensorische Information wird nicht entsprechend der Körperproportionen in den primären Kortizes abgelegt, sondern entsprechend der Stärke der Innervation der jeweiligen Körperregion. Dadurch sind Hand und Gesicht, speziell Mund und Zunge, überdimensional im Kortex repräsentiert. Definition Wegen der Unproportioniertheit der abgebildeten Körperverhältnisse wird vom motorischen bzw. somatosensorischen Homunculus gesprochen. Subkortikale Kerngruppen Zum Telenzephalon gehören subkortikal gelegene Kerngruppen: das limbische System und die Basalganglien. Gedächtnisfunktionen Limbisches System: Das limbische System bildet anatomisch den Saum (lat. limbus = Saum) um den Balken und ist die Grenze zwischen zerebralem Kortex und Hirnstamm. Markante Strukturen sind der Hippocampus mit Fornix, die Mamillarkörper, die Amygdala, der zinguläre Kortex und das Septum. Teilweise wird das Septum nicht dazugezählt. Funktionell ist das limbische System ein Schlagwort für Emotionslokalisation und -genese, was jedoch ungenau ist, da der Hippocampus Gedächtnisfunktionen vermittelt. Über Verbindungen zum Hypothalamus werden durch das limbische System auch endokrine und vegetative Funktionen gesteuert. Der zinguläre Kortex als Teilstruktur des limbischen Systems liegt dem Balken auf und geht in den Temporallappen über. Er weist im Gegensatz zum zerebralen Kortex nur drei Zellschichten auf und gehört zum entwicklungsgeschichtlich alten Archikortex, der bei Reptilien oberstes Integrationsorgan ist. Er vermittelt vegetative Funktionen. vegetative Funktionen Rockstroh, Biologische Psychologie © 2011 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München 39 D IE FÜNF H AUPTABSCHNITTE DES GEHIRNS Die Genese von Emotionen lässt sich in den Mamillarkörpern und der Amygdala lokalisieren. Über diese Strukturen werden jedoch auch vegetative und sexuelle Funktionen vermittelt. Informationen, die langfristig gespeichert werden, müssen den Hippocampus durchlaufen. Der Hippocampus ist eine nach innen eingerollte Rindenformation. Er ist die wichtigste Struktur des Archikortex. Bei seiner Zerstörung sind langfristige Speicherprozesse nicht mehr möglich. Alle Strukturen des limbischen Systems sind neuronal eng miteinander verschaltet. Der Papez-Neuronenkreis vom Hippocampus über Fornix, Mamillarkörper, Thalamus, Gyrus parahippocampalis zurück zum Hippocampus muss bei der Langzeitspeicherung durchlaufen werden. Basalganglien: Die Basalganglien liegen unterhalb des vorderen Teils der Seitenventrikel. Markante Strukturen sind der Nucleus caudatus, Putamen und Globus pallidus. Nucleus caudatus und Putamen werden wegen ihrer gestreiften Oberfläche auch als Striatum zusammengefasst. Das Striatum dient der Steuerung der Motorik im Sinne einer somatosensorischen Integration, wodurch organisiertes Verhalten möglich wird. Es erhält Afferenzen aus allen Teilen des Kortex (optisch, akustisch, taktil) und seinen Assoziationsarealen. Es ist die oberste Integrationsstelle des extrapyramidalen Systems. Beim Morbus Parkinson sind Neuronen in der Substantia nigra degeneriert, die zum Striatum ziehen. Hierdurch entsteht die typische Symptomtrias: Rigor (Steifheit), Tremor (Zittern) und Hypokinese (Bewegungsverarmung / -verlangsamung). Emotionsgenese Hippocampus Papez-Neuronenkreis Striatum Kasten Zusammenspiel bei Informationsverarbeitung und Erhaltung des Organismus Obwohl das Gehirn eine außerordentlich funktionstüchtige Informationszentrale ist, wäre es vollkommen überfordert, wenn nicht viele wichtige Funktionen der Informationsverarbeitung und der Erhaltung des Organismus subkortikal gesteuert würden. Dazu gehören die vitalen Funktionen, die im Myelenzephalon und Metenzephalon über Reflexe sehr rasch und effizient ablaufen. Wichtige Filterfunktionen für die Flut von eingehender Information aus der Peripherie hat der Thalamus im Dienzephalon. Die Selektion Rockstroh, Biologische Psychologie © 2011 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München 40 NEUROANATOMIE von Information zur langfristigen Speicherung und ihre Ergänzung durch emotionale und motivationale Inhalte geschieht im subkortikal gelegenen Hippocampus. Auch die Ansteuerung der Motorik durch Integration der zentralnervösen Information geschieht in einem subkortikalen Kerngebiet, dem Striatum. Die Synthese von chemischen Botenstoffen zur langfristigen Steuerung der Peripherie erfolgt ebenfalls subkortikal im Hypothalamus und der Hypophyse. 3.8 | Stütz- und Ernährungsgewebe Astrozyten Über 50 % der Zellen im Gehirn sind Stütz- und Ernährungsgewebe. Diese Zellen werden Gliazellen genannt. Hierzu gehören Astrozyten, Oligodendrozyten, Schwann’sche Zellen und Mikroglia. Dieses „Bindegewebe“ hat Ernährungs- und Stützfunktion und löst keine Nervenimpulse aus. Die Astrozyten erfüllen eine Vielzahl von Funktionen: ˘ Sie dienen der Ortsstabilisierung der Neuronen, indem sie eine Matrixstruktur bilden. ˘ Sie sind Müllabfuhr, weil sie Proteinfragmente und Stoffwechselprodukte entfernen. ˘ Sie isolieren die Synapsen und begrenzen damit die Neurotransmitteraktion. ˘ Sie ernähren die Nervenzellen, indem sie den Blutgefäßen Glukose und Aminosäuren entnehmen und dem Zellkörper zuführen. Sie speichern Glykogen. ˘ Sie regulieren das extrazelluläre Milieu. ˘ Sie bilden eine Lipidschicht um die Blutgefäße als Barriere für chemische Substanzen (Blut-Hirn-Schranke). ˘ Sie nehmen die Neurotransmitter Glutamat und GABA auf und speichern sie in Form ihres gemeinsamen Vorläufers Glutamin. ˘ Sie nehmen den Überschuss an Kalium-Ionen nach dem Aktionspotenzial auf, der von der Natrium-Kalium-Pumpe nicht ins Zellinnere befördert wird. ˘ Sie erhalten die Zusammensetzung der extrazellulären Flüssigkeit aufrecht, die die Neuronen umgibt. Oligodendrozyten Oligodendrozyten myelinisieren die Axone des zentralen Nervensystems. Die Myelinscheide isoliert die Neuronen voneinander und beschleunigt die Reizweiterleitung. Das Myelin besteht zu 80 % aus Rockstroh, Biologische Psychologie © 2011 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München