Soziale Gerechtigkeit in Deutschland – soziologische Perspektiven

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Soziale Gerechtigkeit in Deutschland – soziologische Perspektiven
Karls­Universität Prag, Sommersemester 2007
Dozent: Ulf Tranow, M.A.
E­Mail: tranow@phil­fak.uni­duesseldorf.de
Die Stabilität unserer freiheitlichen Demokratien hängt in zentraler Weise davon ab, dass die Bürgerinnen und Bürger die sozialen und politischen Verhältnisse mehrheitlich als ‚gerecht‘ bewerten. Gerade in Zeiten gesellschaftlichen Wandels und ökonomischen Umbruchs rücken Gerechtigkeitsfragen verstärkt in den Mittelpunkt öffentlicher Debatten. In Deutschland wird dieses in den scharfen Auseinandersetzungen um sozialpolitische Reformen, in den medialen Empörungen über die Höhe von Managergehältern oder in der Diskussion um das sogenannte Prekariat deutlich. Vor diesem Hintergrund wurde die aktuelle politische Stimmung in der Bundesrepublik von dem ehemaligen Bundestagspräsident Wolfgang Thierse treffend mit folgenden Worten beschrieben: „Die Gerechtigkeitsfrage ist in die Gesellschaft zurückgekehrt“. In dem Seminar werden wir uns dem Thema ‚soziale Gerechtigkeit in Deutschland‘ aus einer soziologischen Perspektive annähern. Dabei geht es weniger um die Diskussion der normativen Frage‚ ob die Verhältnisse in Deutschland gerecht oder ungerecht sind, sondern um eine analytische und empirische Sicht auf Gerechtigkeit. Nach einer kurzen Einführung in die grundlegenden soziologischen Zugänge zu diesem Thema, werden wir uns mit den aktuellen Gerechtigkeitseinstellungen, ­konflikten und ­diskursen in Deutschland beschäftigen. Folgende Fragen werden dabei eine zentrale Rolle spielen: Was sind die Themen der aktuellen Gerechtigkeitsdebatten? Auf welche Gerechtigkeitssemantiken wird in den öffentlichen Debatten zurückgegriffen, um Reformprojekte zu legitimieren? Welche Vorstellungen von Gerechtigkeit haben die Bürgerinnen und Bürger und wie haben sie sich im Zeitverlauf entwickelt?
I.
Einführung
29.3.
Worum geht es bei sozialer Gerechtigkeit?
Soziale Gerechtigkeit ist ein Thema, das bei allen politischen Diskussionen, ob in der Familie, im Parlament oder in den Medien, ganz weit oben steht. Doch worüber wird eigentlich diskutiert, wenn es um soziale Gerechtigkeit geht? In der ersten Einführungssitzung geht es darum, sich dem Begriff der sozialen Gerechtigkeit anzunähern. Zentrale Themen sind dabei der Anspruch der Bürgerinnen und Bürger, dass es in der Gesellschaft ›gerecht‹ zugeht und die Differenzierung zwischen verschiedenen normativen Prinzipien der Gerechtigkeit. 30.3. Der soziologische Blick auf soziale Gerechtigkeit
Bei Gerechtigkeit handelt es sich um ein ethisches Leitbild und normatives Konzept. Als empirisch ausgerichtete Wissenschaft hat die Soziologie keine Kompetenz darüber zu urteilen, was gerecht oder ungerecht ist. Doch was ha die Soziologie dann zur Gerechtigkeit zu sagen? In der zweiten Sitzung werden soziologische Perspektiven auf die Gerechtigkeitsthematik aufgezeigt. Dabei geht es zum einen um die Frage, unter welchen Bedingungen in der Gesellschaft Ansprüche nach Gerechtigkeit entstehen und zum anderen um empirische Zugänge zum Thema. Darüber hinaus werden Ergebnisse der Einstellungsforschung diskutiert, welche Aufschluss über die gegenwärtigen Gerechtigkeitsorientierungen in Deutschland geben. II.
Problemfelder der sozialen Gerechtigkeit
14.4.
Gerechtigkeit in der Sozialpolitik Die sozialen Sicherungssysteme (Gesetzliche Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Sozialhilfe) leisten einen wichtigen Beitrag zur Absicherung gegenüber Lebensrisiken. Bei der Finanzierung dieser Sicherungssysteme kommt es zu erheblichen Umverteilungen. Ihre Stabilität und Legitimität ist daher ganz wesentlich davon abhängig, dass die Bürgerinnen und Bürger diese Systeme als ›gerecht‹ empfinden. In dieser Sitzung wird vorgestellt, nach welchen Gerechtigkeitsregeln zentrale Institutionen des deutschen Wohlfahrtsstaates aufgebaut sind und wie diese von der Bevölkerung unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten bewertet werden. 15.4.
Gerechtigkeit in der Umweltpolitik
Viele umweltpolitische Maßnahmen zielen darauf ab, das individuelle Umwelthandeln zu verändern (z.B. Autofahren) und machen zu diesem Zweck von dem Preismechanismus gebrauch. Dieses kann dazu führen, dass vor allem die ökonomisch schlechter gestellten Bevölkerungsgruppen zu einer Änderung ihres Lebensstils gezwungen sind, während die gut verdienenden Bevölkerungsschichten ihre umweltschädliche Lebensweise fortsetzen können. Dieser Umstand kann von ökonomisch schlechter gestellten Bevölkerungsgruppen leicht als ›ungerecht‹ interpretiert werden und der Grund für eine Delegitimierung einer effektiven Umweltpolitik sein. In dieser Sitzung wird in die Gerechtigkeitsproblematik sozial ungleicher Effekte von Umweltpolitik eingeführt und anhand der aktuellen Klimawandeldebatte in Deutschland diskutiert. 26.4. Gerechtigkeit zwischen den Generationen Bei der Generationengerechtigkeit geht es um die Lastenverteilung zwischen den verschiedenen heute lebenden Altersgruppen (temporale Generationengerechtigkeit) sowie zwischen den gegenwärtigen und zukünftigen Generationen (intertemporale Generationengerechtigkeit). Bei der Debatte um die temporale Generationengerechtigkeit geht es vor allem um die gerechte Finanzierung der Kosten der Altersabsicherung (Generationenvertrag). In der Debatte um die intertemporale Generationengerechtigkeit geht es darum, welche (finanz­)politischen Maßnahmen notwendig sind (bspw. Schuldenabbau), um den zukünftigen Generationen einen ähnlichen Wohlstand zu ermöglichen wie den heute lebenden. In der Sitzung werden die Fragen behandelt, wie die deutsche Bevölkerung die derzeitige Gerechtigkeit zwischen den Generationen einschätzt und was die strukturellen Probleme einer generationengerechten Politik sind. 27.4. Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern In rechtlicher Hinsicht sind Frauen und Männer in Deutschland gleichgestellt. Was allerdings eine gerechte Gleichstellung zwischen den Geschlechtern bedeutet und wie diese herzustellen ist, bleibt sehr umstritten. Während die Frauenbewegung und aktuell auch die Familienministerin van der Leyen (CDU) verstärkte Bemühungen in Richtung einer Realisierung von wirklicher Chancengleichheit und gleicher Teilhabe fordern, gibt es auch Stimmen in der deutschen Öffentlichkeit, die einer Gleichstellungspolitik sehr kritisch gegenüberstehen und eine Rückbesinnung auf traditionelle Rollenaufteilungen fordern. In dieser Sitzung geht es um die Frage, welche Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern in Deutschland tatsächlich existieren und welche Argumente im aktuellen Diskurs um Geschlechtergerechtigkeit auftauchen. 10.5.
Gerechtigkeit in der EU
Die Europäische Union hat sich das Ziel gesetzt, die sozialen und ökonomischen Ungleichheiten zwischen ihren Mitgliedsländern abzubauen. Dieses Ziel verlangt eine EU­weite Solidarität, d.h. Umverteilungen und Transferleistungen zwischen den Mitgliedsstaaten. Eine solche Solidarität hat nur dann Bestand, wenn erstens das Ziel einer Angleichung von Lebensverhältnissen und zweitens die konkreten Kostenaufteilungen zur Realisierung desselben von den Mitgliedsländern und ihrer Bevölkerung als gerecht empfunden werden. In der Sitzung wird vorgestellt, nach welchen Verteilungsnormen die bereits bestehenden Strukturfonds aufgebaut sind und welche Rolle (Gerechtigkeits­)Motive für die Geberländer ausschlaggebend sind, diesen Transfers zugunsten der rückständigen Länder und Regionen zuzustimmen. 11.05. Zusammenfassung/Abschlussdiskussion
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