Fachinformation 31 (08/10) | Reproduktionsgenetik

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Fachinformation 31 (08/10) | Reproduktionsgenetik
Infertilität
OMIM-Nummern: Erkrankung (schwarze Schrift), Gene (blaue Schrift, kursiv): s. unten
Dr. med. Julia Höfele, Dr. med. Dagmar Wahl, Dr. rer. nat. Annett Wagner
Wissenschaftlicher Hintergrund
In den westlichen Industrienationen sind etwa 15% der Paare im reproduktionsfähigen Alter
infertil. Nach Schätzungen der WHO liegt in 40-50% die Ursache bei der Frau und in 35-40%
beim Mann. Bei 10-15% der betroffenen Paare kann keine Ursache festgestellt werden. Zu
den wichtigsten Sterilitätsursachen bei der Frau zählen in ca. 40% pathologische Veränderungen der Eileiter und in bis zu 40% ovarielle Funktionsstörungen. Letztere sind durch
Störungen im Hypothalamus-Hypophyse-Ovar-Regelkreis bedingt, wodurch es zu
Amenorrhoe, Follikelreifungsstörungen oder vorzeitiger Ovarialinsuffizienz (POF) kommt.
Beim Mann spielen hormonell bedingte Reifungsstörungen in der Spermatogenese (ca.
10% der Fälle) eine Rolle. Weitere Infertilitätsursachen beim Mann sind u.a. Mutationen in
den AZF-Genen, wodurch es zu Störungen in den unterschiedlichen Phasen der Spermienreifung kommt sowie im CFTR-Gen, wodurch ein angeborener bi- oder unilateraler
Verschluss der Samenleiter verursacht wird.
Mutationen in folgenden Genen können ursächlich für Fertilitätsstörungen sein und bei
Vorliegen bestimmter klinisch-diagnostischer Kriterien untersucht werden:
Weibliche Infertilität:
FMR1-Gen (300624, 309550): Eine Prämutation mit Triplett-Repeat-Expansion im FMR1Gen (Fragiles X-Mentale Retardierung), welches die häufigste monogen vererbte Ursache
für mentale Retardierung im männlichen Geschlecht ist, führt bei ca. 20% der Frauen zur vorzeitigen Ovarialinsuffizienz (POF) mit späterer Osteoporose. Biochemisch sind erhöhte
FSH- und LH-Serumkonzentrationen nachweisbar (hypergonadotrope Ovarialinsuffizienz).
Männer mit Prämutationen im FMR1-Gen zeigen keine Einschränkungen der Fertilität,
haben aber ab ca. 50 Jahren ein erhöhtes Risiko für das Auftreten eines Fragilen X-TremorAtaxie-Syndroms (FXTAS). Dieses Risiko wiederum ist bei Frauen nur geringfügig erhöht.
BMP15-Gen (300510, 300247): Ursächlich für POF sind auch Mutationen im X-chromosomal
lokalisierten Bone Morphogenetic Protein-15-Gen (BMP15), welches für einen Oozytenspezifischen Wachstums- und Differenzierungsfaktor kodiert, der die Follikulogenese und
das Granulosazellwachstum stimuliert. Bei ca. 5% der Frauen mit POF kann eine Mutation
im BMP15-Gen nachgewiesen werden.
CYP21-/CYP11B1-Gen (201910, 201910, 610613): Mutationen in diesen beiden Genen führen
zu einer Funktionseinschränkung der Nebennierenrinden-Enzyme 21- bzw. (selten) 11ßHydroxylase und können über eine Hyperandrogenämie Zyklus- und Fertilitätsstörungen verursachen. Das Krankheitsbild wird als late-onset-adrenogenitales Syndrom (late-onset-AGS)
bezeichnet und folgt einem autosomal-rezessiven Erbgang. Im Gegensatz zum klassischen
AGS wird das late-onset-AGS durch Vorliegen zweier „milder“ Mutationen oder einer „milden“
und einer „schweren“ Mutation hervorgerufen. Eine milde Hyperandrogenämie kann auch bei
Nachweis nur einer Mutation bestehen. Bei Vorliegen eines late-onset-AGS kann - abhängig
von der Schwere der Mutationen bei der Frau - die molekulargenetische Untersuchung des
Partners zum Ausschluss von Mutationen im CYP21-/CYP11B1-Gen indiziert sein.
Männliche Infertilität:
AZF-Gene (415000, 601486, 400006): Bei infertilen Männern können in ca. 7%, bei bestätigter
Azoospermie in mehr als 60% Mikrodeletionen im Y-Chromosom nachgewiesen werden. In
der Azoospermiefaktor-Region (AZF) liegen die Gene „Deleted in Azoospermia“ (DAZ) und
„RNA-Bindung Motif Protein“ (RBM), welche für die Spermatogenese unentbehrlich sind.
Z ENTRUM FÜR H UMANGENETIK UND L ABORATORIUMSMEDIZIN
Dr. Klein und Dr. Rost
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LOCHHAMER STR . 29
82152 M ARTINSRIED
Tel. +49.89.895578-0
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Deletionen in diesem Bereich führen zur Bildung unreifer, kondensierter Spermien oder zu
testikulärem Maturationsarrest der Spermatogonien.
CFTR-Gen (277180, 602421): Bei infertilen Männern mit Azoospermie oder hochgradiger
Oligozoospermie kann eine Obstruktion der Samenleiter (bei Azoospermie beidseitig,
CBAVD - bei hochgradiger Oligozoospermie einseitig, CUAVD) vorliegen. Die klinische
Diagnose beruht auf dem urologischen Untersuchungsbefund, dem Spermiogramm und der
Bestimmung der Gonadotropin- und Testosteron-Serumkonzentration. Typisch für die
CBAVD bzw. CUAVD ist das Vorliegen einer „schweren“ (z.B. Delta F508) und einer „milden“
(z.B. R117H) Mutation im CFTR-Gen. Bei Vorliegen einer genetisch gesicherten CBAVD bzw.
CUAVD beim Mann ist die molekulargenetische Untersuchung der Partnerin zum Ausschluss
von Mutationen im CFTR-Gen indiziert.
AR-Gen (300068, 313700): Die auch als Androgenresistenz bezeichnete Erkrankung zeigt
sich bei einem XY-Karyotyp durch Feminisierung des äußeren Genitales bei Geburt, eine
gestörte Sexualentwicklung in der Pubertät und eine daraus resultierende Infertilität. Es werden
drei Phänotypen unterschieden: CAIS (komplett), PAIS (partiell) und MAIS (minimal).
Beide Geschlechter:
FSHR-Gen (233300, 608115, 136435): FSH ist bei der Frau an der hypothalamisch-hypophysär
gesteuerten Eizellreifung im Ovar und beim Mann an der Reifung der Spermatozoen in den
Testes beteiligt. Mutationen im FSH-Rezeptor-Gen (FSHR) können in 3 Gruppen unterteilt
werden: Aktivierende, inaktivierende und neutrale Mutationen. Aktivierende Mutationen
bewirken bei der Frau ein gesteigertes Ansprechen des FSH-Rezeptors auf FSH, was zu
polyzystischen Ovarien und in seltenen Fällen zum ovariellen Hyperstimulationssyndrom
(OHSS) führen kann. Ein OHSS kann sowohl spontan als auch durch
Stimulationsbehandlung, z.B. im Rahmen einer künstlichen Befruchtung auftreten.
Inaktivierende Mutationen hingegen führen zu einer verminderten FSH-Antwort, was in der
Regel einen kompensatorischen Anstieg von FSH im Serum zur Folge hat (hypergonadotroper Hypogonadismus). Inaktivierende Mutationen führen funktionell zu einer FSHDefizienz, die im weiblichen Geschlecht zu primärer Amenorrhoe, verzögerter Pubertät und
Infertilität, beim Mann zur Störung der Spermatogenese und Azoospermie führen. Neutrale
Mutationen haben nach dem derzeitigen Stand der Kenntnis keine funktionelle Bedeutung.
Bei medikamentöser FSH-Stimulation der Frau im Zuge einer IVF- oder ICSI-Behandlung
scheint eine genetische Variante in Exon 10 des FSHR-Gens eine Rolle zu spielen.
Homozygote Anlageträgerinnen für p.S680S (Ser/Ser) benötigen für eine erfolgreiche
Ovulationsinduktion eine deutlich höhere FSH-Dosis als Patientinnen, die heterozygot für
p.S680N (Ser/Asn) oder homozygot für p.N680N (Asn/Asn) sind. Durch Kenntnis des
Genotyps kann eine individuell angepasste Dosierung erfolgen und das Risiko für das
Auftreten eines OHSS verringert werden, welches bei bis zu 5% der Frauen nach FSHStimulation auftritt.
Kallmann-Syndrom-Gene (308700, 308700, 147950, 136350, 244200, 607123, 610628,
607002): Das Kallmann-Syndrom ist gekennzeichnet durch die Leitsymptome Anosmie (fehlender/verminderter Geruchssinn) und hypogonadotroper Hypogonadismus. Die Häufigkeit
liegt bei 1:8.000 (Männer) und 1:40.000 (Frauen). Es gibt die X-chromosomal-rezessive Form
mit Mutationen bzw. Deletionen im KAL1-Gen (ca. 8%), die autosomal-dominante Form mit
Mutationen im FGFR1-oder im FGF8-Gen (ca. 10%) und die autosomal-rezessive Form mit
Mutationen im PROKR2- und PROK2-Gen (ca. 9%). Folglich können derzeit nur bei ca. 30%
der Patienten mit Kallmann-Syndrom Mutationen bzw. Deletionen gefunden werden.
Indikation
Mutationsnachweis/-suche im FMR1-, BMP15-, CYP21-/CYP11B1-, AZF-, AR-, CFTR-,
FSHR-, KAL1-, FGFR11-, FGF8-, PROKR2- oder PROK2-Gen.
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Frauen mit primärer Amenorrhoe, verzögerter Pubertät, Follikelreifungsstörung, vorzeitiger
Ovarialinsuffizienz, vor Durchführung einer Stimulation mit rekombinantem FSH im Rahmen
von IVF oder ICSI.
Männer mit Störungen der Spermatogenese und/oder der Gonadotropine.
Unabhängig von o. g. molekulargenetischen Untersuchungen, die einer individuellen
Indikationsstellung bedürfen, empfiehlt die Arbeitsgemeinschaft für Reproduktionsgenetik der
DGRM die Durchführung einer klassichen Chromosomenanalyse beider Partner eines
Paares, bei dem eine IVF-/ICSI-Behandlung indiziert ist. Auch Frauen mit primärer
Amenorrhoe (z.B. bei Turner-Syndrom) oder rezidivierenden Aborten bzw. Männer mit
Azoospermie (z.B. bei Klinefelter-Syndrom) sollten chromosomal untersucht werden .
Anforderung
Mutationsnachweis/-suche im entsprechenden Gen bzw. Chromosomenanalyse bei V.a.
Fertilitätsstörung, humangenetisches Gutachten (GKV: weißer Laborschein Muster 10 mit
Ausnahmeziffer 32010 und blauer Untersuchungsauftrag „Fertilität/Sterilität“ mit unterschriebener Einwilligungserklärung; PKV: blauer Untersuchungsauftrag „Fertilität/Sterilität“ mit
unterschriebener Einwilligungserklärung). Ab 01.01.2011 ist die Angabe des ICD-Code auf
dem Laborschein erforderlich.
Material
1-2 ml EDTA-Blut (Mutationsnachweis/-suche); 2 ml Heparin-Blut (Chromosomenanalyse).
Methode
Chromosomenanalyse: Aus Heparinblut werden nach Kultivierung Chromosomen präpariert, mittels GTG-Technik angefärbt und mikroskopisch ausgewertet. Mutationsnachweis/suche: Aus einer EDTA-Blutprobe wird genomische DNA isoliert und und die entsprechenden Gene amplifiziert. Der Mutationsnachweis erfolgt mittels DNA-Sequenzanalyse der
Amplifikationsprodukte.
Versand
Normaler Postweg (Transport nicht zeitkritisch)
Dauer der Untersuchungen
ca. 2-4 Wochen nach Probeneingang
Kosten
Die Kosten der Untersuchung sind bei ärztlicher Indikation Bestandteil der humangenetischen Diagnostik und nicht vom Laborbudget betroffen.
Literatur
FMR1: Toniolo et al, Curr Opin Genet Dev 16:293 (2006), BMP15: Rossetti et al, Hum Mutat
30:804 (2009), CYP21/CYP11B1: Höppner, Med Genet 16/3:292 (2004) / Keegan et Killeen,
J Mol Diagn 3:49 (2001) / Lee, Clin Genet 59:293 (2001) / White et Speiser, Endocr Rev 21:245
(2000), AZF: Krausz et al, Front Biosci 11:3049 (2006) / Ferlin et al, J Med Genet 42:209
(2005) / Foresta et al, Hum Mol Genet 9:1161 (2000), CFTR: Krausz et al, Front Biosci
11:3049 (2006) / Ferlin et al, J Med Genet 42:209 (2005) / Foresta et al, Hum Mol Genet
9:1161 (2000), FSHR: Loutradis et al, Assist Reprod Genet 23:177 (2006) / Daelemans et al,
J Clin Endocrinol Metab 89:6310 (2004) / Mayorga et al, J Clin Endocrinol Metab 85:3365
(2000), Kallmann-Syndrom: Dode et al, Eur J Hum Genet 17:139 (2009)
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