01|Überuns scinexx.de-DasWissensmagazin scinexx®-sprich['saineks],eineKombinationaus“science”und“next generation”-bietetalsOnlinemagazinseit1998einenumfassenden Einblick in die Welt des Wissens und der Wissenschaft. Mit einem breiten Mix aus News, Trends, Ergebnissen und Entwicklungen präsentiert scinexx.de anschaulich Informationen aus Forschung undWissenschaft. DieSchwerpunktthemenliegenindenBereichenGeowissenschaften, Biologie und Biotechnologie, Medizin, Astronomie, Physik, Technik sowie Energie- und Umweltforschung. Das Internetmagazin spricht allewissbegierigenUseran-obinBeruf,StudiumoderFreizeit. scinexx wurde 1998 als Gemeinschaftsprojekt der MMCD NEW MEDIA GmbH in Düsseldorf und des Heidelberger Springer Verlags gegründet und ist heute Teil der Konradin Mediengruppe mit dem bekannten Magazin Bild der Wissenschaft sowie den Wissensangeboten:wissen.de,wissenschaft.de,scienceblogs.de, natur.deunddamals.de. 02|Inhalt 01 02 ÜBERUNS INHALT 03 DER“FEIND”INUNS Symbiotische Viren als Triebkräfte unsererEvolution? 04 IMPRESSUM 03|Der“Feind”inuns SymbiotischeVirenals Triebkräfteunserer Evolution? VONNADJAPODBREGAR Virengeltenals„Zellpiraten”undzerstörerischeParasiten.Abernach neuestenErkenntnissensindsienichtnurVernichter,sondernauch Schöpfer-kreativeTriebkräftederEvolution.Zeugnisdavongibt unsereigenesErbgut:Immerhin43Prozentdavonbestehtaus VirengenenundderenRelikten. PARTNERSTATTGEGNER K ann es eine echte Symbiose von Wirt und Virus geben? Rund 90 Prozent der Menschen tragen es in sich: das Humane Herpesvirus 1. Doch die wenigsten von uns merken etwas davon, da die Infektion mit diesem Erreger meist völlig ohne Symptome verläuft. Virus und Wirt leben quasi symbiotischmiteinander–zumindestsolangedasImmunsystemdes Wirtsintaktist. HerpesbläschenanderLippe©gemeinfrei Währendaggressive,akuteVirenwieInfluenza,EbolaoderAidssich inihrenWirtenrapidevermehren,ZellenundGewebezerstörenund im schlimmsten Fall den Tod verursachen, verhält sich das HerpesVirus anders. Es vermehrt sich nicht mehr ungezügelt und seine krankmachende Wirkung ist nur noch minimal. Erst wenn unsere Immunabwehr durch Stress oder Krankheit geschwächt ist, ändert sich dies und der „Eindringling“ macht sich durch Lippenbläschen oder Ekzeme bemerkbar. „Viren haben mehr als eine ÜberlebensStrategie: Nicht alle Viren sind sich rapide vermehrende, schnell verändernde Erreger von Krankheiten“, erklärt Luis Villarreal, Leiter des Center for Virus Research an der Universität von Kalifornien in Irvine. Stattdessen verbindet Mensch und Virus im Falle des Herpesvirus, wie auch bei anderen persistenten Viren, eine lange, vermutlichsogarJahrmillionendauerndegemeinsameGeschichte.In ihrem Verlauf wandelte sich der Erreger von einem akuten, seinen WirttötendenParasitenzueinemsymbiotischenMitbewohner. EchteSymbiosestatt„Wettrüsten“? So lautet jedenfalls die provozierende Theorie von Villarreal und einigen anderen Virenforschern. Wie der bekannte britische Wissenschaftsautor,ArztundEvolutionsbiologeFrankRyaninseinem neuen Buch „Virolution“ darlegt, widerspricht diese Sicht des symbiotischen Miteinanders von Mensch und Virus diametral den herkömmlichenVorstellungeneines„GleichgewichtsdesSchreckens“, der prekären Koexistenz auf Basis beiderseitiger Aufrüstungsmaßnahmen. Denn per Definition ist eine Symbiose eine Partnerschaft, bei der jede Seite von der Anwesenheit der anderen profitiert. Jeder Partner steuert eine Fähigkeit oder Eigenschaft bei, die dem anderen fehlt und ihm daher nützlich ist. „Was der Wirt im Falle einer Wirt-VirusBeziehung beiträgt, liegt auf Herpessimplex-Viren©CDC derHand:ErbietetdemVirus Obdach und stellt seine genetische Maschinerie zur Verfügung, so dass das Virus Kopien seiner selbst anfertigen kann“, erklärt Ryan. AberwassteuertdasVirusbei? DerFeindmeinesFeindesistmeinFreund Den entscheidenden Hinweis darauf brachten unter anderem Beobachtungen an Affen. Auch bei diesen gibt es Herpesviren, die extrem eng an jeweils eine Affenart angepasst sind und bei diesen keinerlei Krankheitssymptome auslösen. „Wenn man sie mit einer anderen Affenart in Kontakt bringt, wirken sie äußerst, wirklich äußerst letal“, erklärt Max Essex, Professor für Medizin an der HarvardUniversität,inRyansBuch.„Ichvermute,mankönntesogar nachweisen, dass genau jene Affen am empfindlichsten auf das jeweilige Virus reagieren, die dieselbe ökologische Nische besetzen und zum Beispiel dieselbe Nahrung bevorzugen, während andere Arten, die vielleicht im selben Revier leben aber etwas anderes fressen und somit eine andere Nische ausfüllen, nicht so leicht erkranken.“MitanderenWorten:DerTrägereinespersistentenVirus profitiert, weil sein Mitbewohner ihm auf sehr effektive Weise unliebsame Konkurrenz aus dem Weg räumt. Oder, wie es Ryan formuliert: „Bei Licht besehen haben auch Viren eine wichtige, wenngleich weniger augenfällige Fähigkeit, die ihren Wirten fehlt: IhnenwohnteinimmensesVernichtungspotenzialinne.“ Virus hilft Konkurrent Grauhörnchen gegen Wie gut das Beseitigen von Konkurrenz als Gegenleistung des Virus für seinen Parapox-Virenhelfendem Grauhörnchengegenden Konkurrenten,das Eichhörnchen.©Rayeye/CCby-sa2.0,gemeinfrei Wirt funktioniert, zeigt ein Beispiel aus England:HierbreitetsichseitJahrendas aus Amerika eingeschleppte Grauhörnchen (Sciurus carolinensis) immer weiter aus und bedroht inzwischen sogar den Fortbestand des heimischen Roten Eichhörnchens (Sciurus vulgaris). Lange Zeit hielt man den Einwanderer wegen seiner Größe und Aggressivität für so erfolgreich, doch inzwischen musste man sich eines Besseren belehren lassen, wie Ryan erzählt: „Inzwischen hat sich herausgestellt, dass die Grauhörnchen-Population mit einem Parapoxvirusdurchseuchtist,dasbeiseinemSymbiosepartnerkeine Krankheitssymptome hervorruft, für das Europäische Eichhörnchen aber tödlich ist.“ Um der grassierenden Parapocken-Übertragung Einhalt zu gewähren, werden seit 2007 in Schottland regelmäßig Grauhörnchengetötet. VIRENALSKOMPLIZEN D ieSachemitdemWespenei:Aberesgibtauchnocheine andereMöglichkeit,vondersymbiotischenPartnerschaft mit einem Virus zu profitieren. Ein Beispiel dafür sind parasitische Wespen, von denen es weltweit mehrere zehntausend Arten gibt. Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie andere Insektenalslebende„Brutkästen“fürihrenNachwuchsnutzen. ParasitischeWespelegtEiineineRaupe©USDA/ScottBauer Viele Wespen legen beispielsweise ihre Eier in Raupen von Schmetterlingen. Nach kurzer Zeit schlüpfen die Wespenlarven und beginnen, sich von den Stoffwechselprodukten und Geweben der Raupezuernähren.DabeifressensienichtnurdieRaupevoninnen heraus auf, sie setzen auch ihr Hormonsystem außer Kraft und verhindern damit, dass diese beginnt sich zu verpuppen. Sind die Wespenlarven dann alt genug, bohren sie sich durch die Haut ihres sterbenden Wirts und verpuppen sich. Soweit so bekannt. Doch die ganze Geschichte hat einen kleinen Schönheitsfehler: Eigentlich dürften die Wespeneier in den Raupen gar nicht überleben, geschweige denn Larven daraus schlüpfen. Denn das Immunsystem der Raupen ist durchaus auf solche Eindringlinge vorbereitet und müsste die als fremd erkennbaren Eier normalerweise sofort vernichten.Dochgenaudiesgeschiehtnicht.Aberwarum? VirushilftWespenei Des Rätsels Lösung sind – wieder einmal – Viren: Die parasitischen Brack- und Schlupfwespen sind im Laufe einer Millionen Jahre alten Entwicklungsgeschichte eine Symbiose mit verschiedenen Erregern aus der Familie der Polydnaviren eingegangen. Statt eine Krankheit auszulösen oder sich explosionsartig in ihrem Wirt ErstdieSymbiosemitdemVirusmachtdie ParasitierungderRaupemöglich© Ikehiker/CC-by-sa3.0 zu vermehren, wurden die Viren nun im Laufe der Zeit zu entscheidenden „Komplizen“ der parasitischen Wespen. „Die Beziehungen sind so eng geworden, dass viele der Erreger in die Keimbahn der Wespen eingedrungen sind und erst während der Eiablage als voll ausgereifte Virenpartikel zum Vorschein kommen“, erklärt Ryan in seinem Buch. Dadurch werden die Viren quasi automatischzusammenmitdenEiernindieRaupenübertragen.Und einmaldortangekommen,entfaltendieVirennunihrevolleWirkung: Als erstes lähmen sie das Immunsystem der Raupe und verhindern damiteinenAngriffaufihrenWirt,dieWespe.DannenternsieZellen, die zentrale Stoffwechselfunktionen steuern und verändern deren Genfunktion so, dass der Wespenlarve optimale Wachstumsbedingungen geboten werden. Die Raupe beginnt nun beispielsweise, große Mengen bestimmter Zuckerverbindungen herzustellen,diedenWespenlarvenalsNahrungdienen. BeginneinerlangenPartnerschaft „Es handelt sich um ein einmaliges Beispiel, wo Viren durch Wespen so domestiziertwurden,dasssiegenetische Information in den Wirt übertragen, die nur dem Überleben der Wespen dient“, erklärtBeatriceLanzrein,Professorinfür Zellbiologie an der Universität Bern. Gemeinsam mit Kollegen aus Tours in Polydnaviren©USDA Frankreich enträtselte sie im Jahr 2009 denUrsprungdiesersymbiotischenVerbindung–undauch,wieeng die Beziehung beider Partner dabei ist. Der Vergleich von VirenSignaturen in stammesgeschichtlich weit voneinander entfernten Brackwespenarten enthüllte, dass die allererste Aufnahme eines Polydnavirus durch eine Wespe schon vor 100 Millionen Jahren stattgefundenhabenmuss–imZeitalterderDinosaurier.Heuteliegt das Virus bei vielen parasitischen Wespen nicht einmal mehr als eigener Organismus vor, sondern ist sogar fest in das Genom der Wespen eingebaut. Pünktlich zur Eiablage werden dann die Virengene in Eierstockzellen des Wespenweibchens abgelesen und dieVirenerwachenzuneuemLeben.FürRyanunddieVertreterder Symbiose-TheorieistdiesesBeispieleinklarerBeweisdafür,dassdie Evolution hier nicht nur am Wirt oder am Virus, sondern eindeutig aufdieSymbiosederbeidenwirkt.„EsstehtwohlaußerFrage,dass die Selektion hier auf der Partnerschaftsebene ansetzt, denn die Gene und das Verhalten der Viren erhöhen die Überlebenschancen der Wespen immens“, erklärt Ryan. Er sieht daher in solchen symbiotischenVirennichtnureinfacheBegleiterihrerWirte,sondern sogartreibendeKräfteihrerEvolution. SPRUNGINDIEKEIMBAHN D asRätselderKoala-Seuche:Wieschwierigundopferreich die Anbahnung einer engen genetischen Partnerschaft zwischenVirusundWirtseinkann,aberauch,wieschnell dieser Prozess abläuft, zeigt ein Blick ans andere Ende derWelt,nachAustralien.GenauergesagtindieKüstenregionenOstund Südaustraliens. Denn hier lebt der Koala, ein wegen seines niedlichen Aussehens vor allem bei Kindern weltweit beliebtes und bekanntesBeuteltier. BlutkrebsdurchRetrovirus Doch der einst häufig vorkommende knuddelige „Teddybär“ wird heuteimmerseltener,inNewSouthWalesundSüdaustraliengilter bereits offiziell als bedroht. Nicht nur das Schrumpfen seines natürlichen Lebensraums macht ihm zu schaffen, sondern seit rund 40 Jahren auch eine Häufung von verschiedenen Arten von Blutkrebs. Immer mehr Tiere im Freiland, aber auch in Zoos und Wildparks erkranken und sterben an Leukämie und Lymphomen. Alarmiert durch die hohen Todesraten, die innerhalb von 15 Jahren sogar zur völligen Ausrottung der Tiere in Queensland führen könnten, gingen Wissenschaftler um Jon Hanger von der Universität von Queensland der Sache nach. Wegen der seuchenartigen Ausbreitung tippten sie auf eine durch einen viralen Erreger ausgelöste Krebserkrankung und leiteten die „Fahndung“ ein. Mit Hilfe von elektronenmikroskopischen Aufnahmen und genetischen Analysen ging ihnen schließlich tatsächlich ein Virus ins Netz: ein Retrovirus, das sie Koala-Retrovirus, kurz KoERV, tauften. Retroviren, eine vermutlich schon vor mehr als 250 Millionen Jahren entstandene Virenform, speichern ihre genetische Information nicht als DNA, sondern in Form eines kurzen RNA-Strangs, bestehend aus drei Genen, ab. Eines davon kodiert unter WeiblicherKoalaim“Billabong KoalaandAussieWildlifePark” anderem das Enzym Reverse inNewSouthWales©Quartl/ CC-by-sa3.0 Transkriptase, mit dessen Hilfe die RetrovirenihrRNA-ErbgutinDNAumschreibenundessoproblemlos indieZellmaschinerieihresWirtseinschleusenkönnen. DerSprungindieKeimbahn „Die Forscher machten zudem eine ziemlich seltsame Entdeckung: Das Virus, das die Leukämien und Lymphome auslöste, war mit Sequenzen identisch, die man in den Chromosomen der Koalas fand“, schildert Frank Ryan in seinem Buch „Virolution“ die Entdeckungsjagd der Australier. Das erscheint zunächst nur wenig erstaunlich, eröffnet doch das Enzym Reverse Transkriptase den RetrovirennocheineweitereMöglichkeit:DieIntegrationihrerGene nicht nur in normale Körperzellen, sondern auch in Zellen der Keimbahn und damit bereits direkt in Zellen der nächsten Wirtsgeneration. „Das Virus verwandelt sich dadurch in einen BestandteildesneuenGenoms,esgibtseineFreiheitaufunderlangt dafür Langlebigkeit, ja vielleicht eine Form der Unsterblichkeit“, erklärt Ryan. Durch diese so genannte „Endogenisierung“ stellt das Retrovirussicher,dassesvon nun an als integraler Teil des Genoms an alle Nachkommen seines Wirts weitervererbt wird. Dafür SpermiumundEizelle:TragensiedasVirus, allerdings muss es auch wirdesandienächsteGeneration weitergegeben.©gemeinfrei Opferbringen:Esbüßtinder Regel seine krankmachende Wirkung und auch seine Fähigkeit zur ÜbertragungaufandereWirteein. Paradox:endogenunddochaktiv? Und genau das war das Problem bei der Seuche der Koalas: Normalerweise ist eine akute Krankheit immer auf exogene, von außeneingedrungeneVirenzurückzuführen.Nursievermehrensich noch ungezügelt im Körper und schädigen aktiv ihre Wirtszellen, so jedenfalls die gängige Lehrmeinung. Persistente Viren, die bereits eine Symbiose mit ihrem Wirt eingegangen sind, sollten dagegen in der Regel keinen solchen Schaden mehr anrichten. Und endogene Retroviren,diesichbereitsindasGenomdesWirtsintegrierthaben, erst recht nicht. „Wir waren also ein bisschen in der Zwickmühle“, erklärt die Virologin Rachel Tarlington, die Ende der 1990er Jahre ihre Doktorarbeit über die Koala-Epidemie geschrieben hat im InterviewmitRyan.„WirhattenesmiteinemaktivenViruszutun,das dennochvererbtwurde.“Wiekonntedasmöglichsein? EVOLUTIONINECHTZEIT V ersuchundIrrtumimWirtsgenom:Warumverhieltsichdas Koala-Retrovirus wie ein akut infektiöser Erreger, obwohl es längst im Koalagenom verankert war? Um die Ursache für dieses scheinbar paradoxe Verhalten herauszufinden, beschlossen die Forscher um Rachel Tarlington und Jon Hanger von derUniversitätvonQueenslandzuklären,wanndieEndogenisierung des KoERV stattgefunden hatte. Als sie die Populationen der australischen Koalas nun systematisch nach den Virengenen durchmusterten, erlebten die Forscher gleich zwei Überraschungen: Zum einen unterschieden sich Anzahl und Einfügungsorte der retroviralenSequenzenextremstarkzwischendeneinzelnenKoalas. „DieViruskopienzahlgehtvonTierzuTiermassivauseinander–fast als würde das Virus das Genom gerade auskundschaften“, erklärt Tarlington.„DasdeutetaufeinensehraktivenVorganghin,aufeinen sehrdynamischenevolutionärenWandel.“ BlickübereinenTeilvonKangarooIsland©Roo72/cc-by-sa2.0 Infektionerstseit100Jahren Völlig perplex aber waren die Wissenschaftler, als sie feststellten, dassdieKoalasinQueenslandzwarrelativgleichmäßigdurchseucht waren, die Infektionsrate aber Richtung Südwesten immer weiter abnahm. Auf der Insel Kangaroo Island schließlich fanden sich bei keinem der untersuchten Tiere Spuren von Blutkrebs und auch die Sequenzen des Koala-Retrovirus suchten die Forscher in ihrem Genom vergebens. Des Rätsels Lösung brachte ein Blick in die Geschichte: „Die Koalas kamen irgendwann in den 1920er Jahren nach Kangaroo-Island, aber sie stammten von einer anderen Insel, aufdersiebereitsseitEndedes19.Jahrhundertsisoliertwaren“,so Tarlington. Für Tarlington und ihre Kollegen lag daher der Schluss nahe,dassdasKoala-RetrovirusziemlichneuistunddieKoalaserst seit rund 100 Jahren infiziert. Auch für den Ursprung des Virus gibt es bereits erste Indizien: Tarlingtons Kollege Greg Simmonds entdeckte, dass einige Nagetiere in Südostasien ein sehr ähnliches Virus haben. Möglicherweise wurden infizierte Tiere eingeschleppt undgabendenErregerdannandieKoalasweiter. Evolution durch Versuch und Irrtum Was aber bedeutet dies nun für die betroffenen Koalas? „Gegenwärtig löscht das Koala-Retrovirus jene Angehörigen der Wirtsart aus, die nicht mit ihm leben können. Zu seiner präadaptierten Strategie KoalasaufKangarooIslandsindvirenfrei© CodyPope/CC-by-sa2.5 gehören die jüngst beobachteteInvasionunddie vielfacheInsertionindieKoala-Keimbahn“,erklärtRyan.DerErreger befindetsichdamitquasinochineinerArtExperimentierstadiumvon VersuchundIrrtum.IndiesemProzessderSelektionüberlebendann letztlichdieKombinationenausendogenemRetrovirusundKoala,bei denen Erreger und Wirt in einer für beide günstigen Form miteinander verschmolzen sind: „Für mich verdichteten sich die Hinweise, dass wir die verschiedenen Stufen einer aggressiven Symbiose gerade in Echtzeit miterleben durften“, so Ryan. „Den ÜbergangvomWüteneinesexogenenVirusindenerstenIndividuen eines neuen Wirts über die Ausmerzung großer Teile der Wirtspopulation hin zu einer Partnerschaft auf dem Niveau einer innigen Symbiogenese, gefolgt von einer vollständigen Genomverschmelzung. Bald werden die glücklichen Überlebenden – im Unterschied zu jenen Tieren, die geografisch von diesen Populationen isoliert sind – eine neue, holobiontische Einheit aus KoalaundVirusdarstellen.“HolobiontischheißtindiesemFalle,dass beispielsweise die Selektion und andere evolutionäre Einflüsse zukünftignichtmehranbeidenPartnerngetrenntansetzen,sondern nurnochamgemeinsamenGanzen. BLINDEPASSAGIEREINUNSEREMGENOM D ie Entdeckung viraler Gene und Genfragmente im menschlichen Erbgut: 12. Februar 2001, Washington D.C.: Vor der versammelten internationalen Presse verkünden Vertreter des internationalen Humangenomprojekts (HGP) und Craig Venter, Leiter des privaten Gentech-Unternehmens Celera die erste komplette Sequenzierung des menschlichen Erbguts. Nach mehr als zehn Jahren fieberhafter Arbeit in Instituten und Forschungslabors weltweit - zusätzlich angeheizt durch den Wettlauf zwischen dem staatlichen Projekt und dem Privatunternehmen Celera - liegt nun erstmals der genetische CodeunsererSpeziesalsArbeitsversionvor. DieBasenabfolgederDNAspeichertunsereErbinformation©NHGRI Die1,5Prozent-Überraschung DiescheinbarunendlichlangeAbfolgevonviersimplenBuchstaben, die die vier Basenpaare Adenin, Thymin, Cytosin und Guanin symbolisieren, ergibt zwar noch lange keinen Sinn, die Worte im „Buch des Lebens“ sind noch nicht enträtselt. Aber die rund 3,2 Milliarden sequenzierten Basenpaare erweisen sich auch in ihrer Rohfassung schon als echter Sprengstoff. Denn gleich in mehreren Punkten widersprechen die Ergebnisse allen vorherigen Erwartungen: „Am seltsamsten war die statistische Verteilung der Bestandteile des Humangenoms, die sich allmählich aus all den hektischen Sequenzierarbeiten herauskristallisierte“, schildert Frank Ryan,AutordesBuches„Virolution“seineEindrücke.Soumfasstdas menschliche Genom nur rund 20.000 bis 25.000 proteinkodierende Gene – dies entspricht gerade einmal 1,5 Prozent des gesamten Erbguts.Mehrals50Prozentbestehendagegenausaufdenersten BlickscheinbarsinnlosenWiederholungenvonGenenundGenteilen, der„Junk-DNA“. ViraleSignaturen Doch die eigentliche Überraschungverbirgtsichin den restlichen Bestandteilen unseres Genoms. Denn die Wissenschaftler entdecken zu ihrem großen Erstaunen TypischerAufbaueinesRetrovirus-Erbguts 600.000 Basenabfolgen im ©Gleiberg/CC-by-sa2.0/de menschlichen Erbgut, die eindeutig nicht menschlichen, sondern viralen Ursprungs sind. Die Virengene verraten sich durch spezielleDNA-Abfolgen,die„longterminalrepeats“,diesieanbeiden Seiten flankieren. Sie erleichtern sowohl das Ausschneiden als auch dasWiedereinsetzendiesersogenanntenLTR-ElementeindenDNAStrang.DieviralenGeneundGenteilestammenursprünglich,soviel wird schnell klar, von Retroviren, der Virengruppe, zu der auch das Koalavirus und der Aidserreger gehören. Dass der Sprung eines Retrovirus in die Keimbahn auch in der menschlichen Stammesgeschichte mindestens einmal gelungen sein muss, hatten Forscher um Maurice Cohen von der Cancer Research Facility in Frederiksburg, Maryland, bereits 1984 entdeckt. Auf dem menschlichen Chromosom 7 fanden sie damals eine DNA-Sequenz, diedendreibekanntenRetrovirengenengag,polundenvbisaufsITüpfelchen glich. Zudem wurde sie noch von den charakteristischen LTR-Elementen flankiert. Die Forscher tauften ihren Fund ERV3 – endogenesRetrovirus3. MEHRVIRUSALSMENSCH? E ndogene Retroviren als prägende Elemente im Genom: Heute wissen wir, dass unser genetisches Erbe sogar eine riesige Zahl von Kopien endogener Retroviren enthält. 8,5 Prozent unseres Genoms machen diese humanenERVs,kurzHERVs,aus.Wissenschaftlerhabenunterihnen bereitsüber30verschiedeneHERV-Familienmitzusammenmehrals 200 unterschiedlichen Gruppen und Untergruppen identifiziert. Damit ist ihr Anteil weitaus größer als der der proteinkodierenden Gene,diedochvermeintlichunserMenschseinausmachensollen. AnteilevonVirengenenundanderemimhumanenGenom©Daten:F.Ryan „DernüchterneBlickdermodernenSequenziertechnikhattealsoein ParadoxansLichtgebracht“,kommentiertderBuchautorFrankRyan. „Die Antwort auf die Frage, welcher Teil unseres Jahrmillionen alten evolutionären Erbes uns eigentlich zu Menschen macht, lag in ihrer ganzen ungeheuerlichen Nacktheit vor uns – aber wir waren nicht imstandezubegreifen,waswirdasahen.“ LINEsundSINEs Der Überraschungen nicht genug, identifizierten die Wissenschaftler weitere Bestandteile im menschlichen Genom, die möglicherweise ebenfalls viralen Ursprungs sind: Die so genannten LINE und SINE- Sequenzen (long und short interspersed nuclear elements) könnten nach Ansicht einiger Forscher, darunter auch des Virologen Luis Villarreal Bruchstücke früherer Retrovirengene sein. Ihr Anteil liegt bei 21 beziehungsweise 13 Prozent. „Noch häufiger [als endogene Retroviren] sind Abkömmlinge der ERVs“, erklärt Villarreal in seinem Aufsatz „Can Viruses make us human?“. „So haben beispielsweise menschliche LINEs einige Sequenzen des HERV-Gens pol beibehalten, während humane SINEs Sequenzen der LTR und envAbfolgenenthalten.“ VirenalsEvolutionsbegleiter „Mindestens 43 Prozent des bekannten Humangenoms wären demnachVirenoderunmittelbarvonihnenabgeleiteteEinheiten“,so Ryan.„DieImplikationensindgeradezuerschütternd:Wirblickenauf eine ausgedehnte Serie von Kolonisierungen durch exogene Retrovirenzurück,verteiltüberdieetwa100MillionenJahreunserer Säugetierevolution.“ Anhand von Vergleichen der retroviralen Sequenzen in unserem Genom mit denen naher und entfernter verwandter Tierarten lässt sich ermitteln, wann ungefähr diese Endogenisierungenstattgefundenhabenmüssen. So tragen beispielsweise auch viele Menschenaffen und Altweltaffen dasERV3insich–fürdieForschereinHinweisdarauf,dasssichdas Virus schon vor mindestens 30 bis 40 Millionen Jahren, vor der Trennung der Abstammungslinien von Affen und Menschenaffen in das Primatenerbgut integriert haben muss. Andere endogene Retroviren dagegen, wie ein Großteil der so genannten HERV-KUntergruppen, scheinen unsere artspezifischen viralen Partner zu sein, sie kommen ausschließlich beim Menschen vor. Auffallend ist allerdingseines:ObwohlVirennormalerweisezudenamschnellsten mutierenden Organismen auf der Erde gehören, scheinen die Sequenzen endogener Retroviren erstaunlich gut konserviert zu werden. Normalerweise aber deutet eine lange Zeit unveränderte Sequenz immer darauf hin, dass das betreffende Gen vom Organismus gebraucht wird, eine nützliche Funktion erfüllt. Das allerdings wirft eine entscheidende Frage auf: Was genau tun die endogenen Retroviren eigentlichinunseremErbgut? Tun sie überhaupt irgendetwas? AuchvieleMenschenaffentragendasERV3 inihremGenom©AaronLogan/CC-bysa2.5 GEHEIMEHELFER W elche Funktion haben endogene Retroviren in uns?:DasersteIndizfürmöglicheAktivitätenunseres retroviralen Erbes stammt aus den 1970er Jahren, lange vor der Entdeckung der ersten HERVs. Jay Levy und seine Kollegen vom Cancer Research Institute in San Francisco stoßen in Extrakten von menschlichem Plazentagewebe auf Partikel, dieinverblüffenderWeiseRetrovirenähneln.Gleichzeitigregistrieren sie eine ungewöhnlich hohe Aktivität eines Enzyms, das die RNAReplikation katalysiert. Noch allerdings sind sich die Forscher unsicherdarüber,wasgenaudavorliegt. ErsteelektronenmikroskopischeAufnahmederretroviralenPartikelausPlazentazellen©PNAS1978, 75(12):6263–6267 In ihrer Veröffentlichung in der Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) schreiben sie 1978: „Ob diese Strukturen eine transplazentale Infektion mit einem Virus repräsentieren oder ob sie endogene Viren sind, die an Entwicklungsprozessen des Wirts beteiligt sind, ist nicht bekannt.“ Welche Entwicklungsprozesse die Autoren hier konkret gemeint haben könnten, zeigt ein Blick in die Vorgänge bei der Plazentabildung: FremdlingimMutterleib Wenn eine Eizelle befruchtet wird und sich auf ihren Weg in die mütterliche Gebärmutter macht, lebt sie gefährlich. Denn im Prinzip ist sie ein Fremdkörper, stammen doch zumindest die Hälfte ihrer GenenichtvonderMuttersondernvomVaterunddamitvoneinem anderenMenschen.KritischwirddieserStatusvorallemdann,wenn es um die Einnistung des befruchteten Eis in die Gebärmutterschleimhaut geht. „In gewissem Sinne ähnelt der Embryo einem Parasiten: Er muss in das mütterliche Wirtsgewebe eindringen, die Physiologie der Mutter manipulieren und der Entdeckung durch das mütterliche Immunsystem entgehen“, erklärt der Virologe Luis Villarreal. Entscheidend für den Erfolg MenschlicherFötusundPlazenta©Wei dieser Operation ist die Hsu,Shang-YiChiu,PLoSBiologyol.6, No.12/CC-by-sa2.5 Plazenta, ihre Gewebestrukturbildetsowohl nährendes Bindeglied als auch Schutz für den heranwachsenden Embryo. Erreicht wird dies durch die Ausbildung einer speziellen Grenzschicht, dem so genannten Syncytiotrophoblast. In ihm verschmelzen Plazentazellen zu einer von keinem Zellzwischenraum durchbrochenenSchicht,einerArtRiesenzellemitvielenZellkernen. RiesenzelledankVirenprotein Und genau diese auch als Syncytium bezeichnete Riesenzelle ist das Rätselhafte an der ganzen Sache, wie Frank Ryan in seinem Buch „Virolution“ erklärt: „Unsere Wirbeltierzellen sind eigentlich nicht imstande, zu einem Syncytium zu verschmelzen.“ Es gibt jedoch andereOrganismen,dieunsereZellendazubringenkönnen,genau dieszutun:Retroviren. Den Beleg dafür finden Wissenschaftler umJohnMcCoyvomGeneticsInstitutein Cambridge Massachusetts im Jahr 2000. Sie entdecken ein Protein, von ihnen Syncytin getauft, das den entscheidenden Anstoß zur Verschmelzung der Plazentazellen gibt. Doch das Protein wird nicht von einem unserer eigenen kodierenden Gene DerSyncytiotrophoblasttrennt dieKreisläufevonMutterund produziert, sondern von dem env-Gen Kind©Historisch(Gray’s eines endogenen Retrovirus, dem HERVAnatomy) W. Wenig später findet eine andere ArbeitsgruppeeinweiteresSyncytin,dasebenfallsdieVerschmelzung unterstütztundzudemeinewichtigeRollebeiderUnterdrückungder mütterlichen Immunreaktion auf den Embryo spielt. Auch dieses ProteinwirdvoneinemretroviralenGenproduziert. EvolutionssprungdurchVirenhife? Eine der entscheidenden Voraussetzungen für unsere erfolgreiche Fortpflanzung verdanken wir – und alle anderen plazentalen Säugetiere - damit offensichtlich unseren viralen Symbiosepartnern. DenninteressanterweisefehlendenBeuteltieren,dienochkeinevoll ausgebildete Plazenta besitzen, viele der bei uns präsenten ERVs. „Keines dieser Charakteristiken war schon in Kloakentieren oder Beuteltieren präsent, sie alle scheinen in einem komplexen evolutionären Ereignis erworben worden zu sein“, so Villarreal. „Es erscheint uns daher wahrscheinlich, dass ERVs irgendwie in diese komplexen plazentalen Charakteristiken involviert gewesen sein mussten.“FürdenERV-ExpertenistdieseinweitererHinweisdarauf, dass endogene Viren als wichtige Triebkräfte der Evolution wirken können. Vielleicht sind sogar sie es, die große Sprünge in der Entwicklung erst ermöglichen. Auffallend ist immerhin, dass sich im Laufe der stammesgeschichtlichen Entwicklung nicht nur die Komplexität und Anzahl der Merkmale und Fähigkeiten erhöht hat, sondern auch der Anteil der Virengene im Erbgut: „Bei jedem größeren Schritt auf diesem Weg, so etwa bei der Entstehung der Wirbeltiere, der Säugetiere und vor allem der Primaten, war die AnzahlderRetroviren-Stämmegeradezuexplodiert“,beschreibtRyan die Entwicklung. Auch gegenüber dem Schimpansen, unserem nächsten Verwandten, ist ein deutlicher Unterschied in punkto ERVAusstattungfestzustellen:WirMenschentragenrunddoppeltsoviele retroviraleLINEsimErbgutwiedieser. FREUNDUNDFEINDZUGLEICH N utzen und Schaden durch HERVs in uns: Heute scheint klar,dassdieendogenenRetrovireninunseremGenom keineswegs passive Mitläufer sind, sondern durchaus aktiv an unserer Entwicklung und unseren Lebensvorgängen teilnehmen. „Es wird viele überraschen, dass die meisten dieser HERVs tatsächlich transkribiert werden und einige auch als Proteine und manchmal als Virionenpartikel in spezifischen Gewebenexprimiertwerden“,erklärtderVirologeLuisVillarreal. Unentbehrlich… SpurenderAktivitätvonERV3beispielsweisefindensichnichtnurin Plazenta,EierstöckenundNebennieren,sondernauchinTalgdrüsen und dem braunen Fettgewebe. Die beiden von retroviralen Genen erzeugten Proteine Syncytin-2 und -2 werden dagegen offenbar in erstaunlich großer Menge auch im Gehirn hergestellt: „Die Aktivität isthöheralsbeijederanderenHERV-Genexpression,diemanbisher untersuchthat“,erklärt„Virolution“-AutorFrankRyan.„Niemandweiß wasdieProduktedieserVirengeneinunseremGehirntunundobsie sich irgendwie von den Syncytinen in der Plazenta unterscheiden, aber womöglich spielen sie eine wichtige anatomische oder physiologische Rolle - oder beides.“ Neben den endogenen Retroviren selbst können auch die retroviralen LTRs in unserem Erbgut wichtige Hilfestellung leisten, indem siebeispielsweisedieAktivität anderer, für uns entscheidender Gene regulieren helfen. Beispiele dafür sind das Keratin-Gen, GenedesImmunsystems,das Gen für das Stärke-Enzym Amylase sowie Gene für das Auch in unserem Gehirn wird Syncytin Virengenenproduziert©Hemera Fettstoffwechselhormon LeptinunddenzugehörendenLeptinrezeptor.Insgesamtsindderzeit ungefähr 20 menschliche Gene bekannt, deren Expression von retroviralenKontrollsequenzenreguliertwird. …undgefährlich Allerdings sind die Retroviren in uns keineswegs immer nur gutmütige Helfer, sie besitzen durchaus das Potenzial zur Zerstörung. Auf den ersten Blick klar ist dies für einige Relikte der endogenenViren,daruntervorallemdieLTRsundeinigeSINEs,die so genannten Alu-Sequenzen. Denn sie sind hochgradig mobil, können relativ leicht ausgeschnitten, wieder eingefügt oder rekombiniert werden. Landen sie dabei mitten in einem wichtigen Gen oder schneiden aus Versehen Teile eines solchen Gens aus, ist von einSchadenvorprogrammiert. „Sie fügen sich gerne in besonders genreiche Regionen ein, so schaffen sie einerseits eine Menge Spielmaterial für evolutionäre Neuerungen und richten andererseitsvielChaosan“,soRyan.„Sie können auch ganze Chromosomenabschnitte zerstören und so genetische Anomalien im großen Stil erzeugen.“ Einen Zusammenhang mit solchen Alu-Sequenzen gibt es bei zahlreichen Erbkrankheiten wie der Immunschwächekrankheit X-SCID, der Brustkrebszelle©NCI Hämophilie, der Neurofibromatose, einigenFormendesDiabetesTyp2sowieanderenGeburtsfehlern. KrebsdurchHERVs? Aber auch bei vielen Krebserkrankungen gehören HERVS und ihre Abkömmlinge heute zu den Hauptverdächtigen. In vielen Tumoren finden sich Virenpartikel oder das virentypische Enzym reverse Transkriptase, vermutet wird ein Zusammenhang bei akuter myeloider Leukämie und vielen familiär gehäuft auftretenden Krebsformen.IneinigenFällen,wiebeidenBrustkrebsgenenBRCA1 und 2, konnten Forscher bereits belegen, dass die Krebsgene tatsächlich durch beiderseits eingebaute virale Sequenzen aktiviert oder verändert wurden. Doch diese negative Wirkung der HERVs birgtauchChancenfürneueTherapieansätze:Soistesitalienischen Forschern im Tierversuch bereits gelungen, die Zellteilung und die EntartungvonverschiedenenKrebszellenmitantiretroviralenMitteln zuhemmenundsodasTumorwachstumaufzuhalten. RÄTSELUMDAS„MS-VIRUS“ D ie Rolle der HERVs bei Autoimmunerkrankungen: Für Aufsehensorgte1997dieEntdeckungeinesfranzösischbritischen Forscherteams um Hervé Perron. Die WissenschaftlerhatteninderRückenmarksflüssigkeitvon Patienten mit der Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose (MS) die Signatur eines Virus nachgewiesen, das sich als endogenes Retrovirus entpuppte. Das env-Gen dieses HERV-W war genau die Sequenz,dieauchdasfürdiePlazentasowichtigeProteinSyncytin-1 produzierte. Aber war diese Genaktivität wirklich der Auslöser der MS? Immerhin war ja auch bereits in den Gehirnen gesunder MenschenSyncytingefundenworden. QuerschnittdurchgesundeNervenzellemitMyelinscheide©Roadnottaken/CC-by-sa3.0 SyncytinalsJanuskopf ZahlreicheForschergruppensprangenaufdenZugaufundsuchten nach Zusammenhängen. Im Jahr 2004 gelang es dann einem internationalen Team von Wissenschaftlern tatsächlich, das HERV-W mindestens als mitschuldig zu überführen. Sie hatten nicht nur das VirenproteingenauamOrtdesGeschehensnachgewiesen,sondern auch,welcheFolgenseinePräsenzdorthat: „Das Syncytin-1 wird dabei genau in den Regionen der akuten Demyelinisierung gebildet“, schildert „Virolution“-Autor Frank Ryan die Ergebnisse. „Und es kann beim besten Willen nicht mehr als Schutzfaktor gedeutet werden, denn es Syncytintötetdiemyelinproduzierenden ruft die Freisetzung Oligodendritenab©gemeinfrei chemischer Verbindungen hervor, die die Oligodendrozyten abtöten, also jene Zellen, die die Myelinscheide bilden.“ Noch immer allerdings bleiben einige Fragen offen,darunterauch,warumdasSyncytinbeiMS-Patientenschädlich wirkt, sonst aber offensichtlich nicht. Könnte es mehrere Syncytinformen geben? Oder spielen möglicherweise weitere, exogeneEinflussfaktoreneineRolle? HERV-MitschuldauchbeiLupus? EinandererFall,beidemForscherheutezumindesteineBeteiligung endogener Retroviren vermuten, ist die Autoimmunerkrankung Lupuserythematodes(SLE).BeidieserreagiertdasImmunsystemder Betroffenen auf ungenügend abgebaute Relikte von Zellen, die eigentlich durch das körpereigene Selbstmordprogramm beseitigt werdensollten.DiesführtzuHautveränderungenundEntzündungen inGefäßenundOrganen,dieimExtremfallzumOrganversagenund zum Tod führen können. Neuere Untersuchungen haben nun gezeigt, dass die Blockade des Gens Trex1, das ein Enzym für die normale Entsorgung von DNA-Resten aus dem Zellkern kodiert, im TierversuchLupusauslösenkann.IndenZellenmitgestörterTrex1- Funktion finden sich wiederum ungewöhnlich viele Produkte endogener Retroviren. Ob dies allerdings Ursache oder Folge der Trex1-Blockade ist, bleibt bisher unklar. Es wird jedoch nicht ausgeschlossen,dassHERVSzumindestmitanderüberschießenden Autoimmunreaktionbeteiligtsind. KooperationunterViren In manchen Fällen können auch unvollständige oder vermeintlich „tote“ retrovirale Sequenzen unerwartete Aktivitätentfalten:Wennsiemitanderen, von außen eingedrungenen Viren in Kontakt kommen. Exogene und Möglicherweiseinteragiert „hauseigene“ virale Gene helfen sich auchdasAids-Virusmit retroviralenSequenzenin dann unter Umständen gegenseitig mit unseremGenom©CDC fehlendenBausteinenausunderzeugen so fatale Synergieeffekte. In Laborversuchen haben Wissenschaftler beispielsweise bereits nachgewiesen, dass eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus das endogene Retrovirus HERV-K18 in den befallenen B-Lymphozyten unseres Immunsystems aktiviert. Dieses produziertdaraufhinein„Superantigen“,dasdemexogenenErreger Vorteile gegenüber der Immunabwehr verschafft. Ähnliche Interaktionen könnten möglicherweise auch beim Aidserreger HIV vorkommen. KreativeKraftoderunfreiwilligerUsurpator? Bei allen negativen Auswirkungen steht für Ryan und Villarreal vor allem die kreative und damit in der Evolution vorantreibende Kraft der Viren im Vordergrund. Für sie ist klar, dass auch die durch endogene Viren verursachten Genschäden oder Krankheiten eher ein „Unfall“ als Absicht oder Zweck der Übung sind. Letztlich überwiegt jedoch – zumindest für unsere Art als Ganzes –, der positive Effekt, die Entwicklungssprünge in unserer Stammesgeschichte,diewirdiesen„blindenPassagieren“verdanken. Andere Wissenschaftler sind allerdings durchaus skeptischer und halteninderSummedieFolgenderretroviralenKolonisierungeher für negativ. Sie sehen darin eher eine unfreiwillige „Übernahme“ als eine echte Symbiose. Wer am Ende Recht behält, werden weitere Studien zeigen – und letztendlich auch der weitere Verlauf der Evolution. 04|Impressum scinexx.de-DasWissensmagazin MMCDNEWMEDIAGmbH Elisabethstraße42 40217Düsseldorf Tel.0211-94217222 Fax03212-1262505 www.mmcd.de [email protected] Geschäftsführer:HaraldFrater,[email protected] Chefredakteurin:NadjaPodbregar,[email protected] Handelsregister: Düsseldorf,HRB56568;USt.-ID.:DE254927844; FinanzamtDüsseldorf-Mitte Konzeption/Programmierung YOUPUBLISHGmbH Werastrasse84 70190Stuttgart M:info(at)you-publish.com Geschäftsführer:AndreasDollmayer ©2016byKonradinMedienGmbH,Leinfelden-Echterdingen