Export as PDF

Werbung
01|Überuns
scinexx.de-DasWissensmagazin
scinexx®-sprich['saineks],eineKombinationaus“science”und“next
generation”-bietetalsOnlinemagazinseit1998einenumfassenden
Einblick in die Welt des Wissens und der Wissenschaft. Mit einem
breiten Mix aus News, Trends, Ergebnissen und Entwicklungen
präsentiert scinexx.de anschaulich Informationen aus Forschung
undWissenschaft.
DieSchwerpunktthemenliegenindenBereichenGeowissenschaften,
Biologie und Biotechnologie, Medizin, Astronomie, Physik, Technik
sowie Energie- und Umweltforschung. Das Internetmagazin spricht
allewissbegierigenUseran-obinBeruf,StudiumoderFreizeit.
scinexx wurde 1998 als Gemeinschaftsprojekt der MMCD NEW
MEDIA GmbH in Düsseldorf und des Heidelberger Springer Verlags
gegründet und ist heute Teil der Konradin Mediengruppe mit dem
bekannten Magazin Bild der Wissenschaft sowie den
Wissensangeboten:wissen.de,wissenschaft.de,scienceblogs.de,
natur.deunddamals.de.
02|Inhalt
01
02
ÜBERUNS
INHALT
03
DER“FEIND”INUNS
Symbiotische Viren als Triebkräfte
unsererEvolution?
04
IMPRESSUM
03|Der“Feind”inuns
SymbiotischeVirenals
Triebkräfteunserer
Evolution?
VONNADJAPODBREGAR
Virengeltenals„Zellpiraten”undzerstörerischeParasiten.Abernach
neuestenErkenntnissensindsienichtnurVernichter,sondernauch
Schöpfer-kreativeTriebkräftederEvolution.Zeugnisdavongibt
unsereigenesErbgut:Immerhin43Prozentdavonbestehtaus
VirengenenundderenRelikten.
PARTNERSTATTGEGNER
K
ann es eine echte Symbiose von Wirt und Virus
geben? Rund 90 Prozent der Menschen tragen es in sich:
das Humane Herpesvirus 1. Doch die wenigsten von uns
merken etwas davon, da die Infektion mit diesem Erreger
meist völlig ohne Symptome verläuft. Virus und Wirt leben quasi
symbiotischmiteinander–zumindestsolangedasImmunsystemdes
Wirtsintaktist.
HerpesbläschenanderLippe©gemeinfrei
Währendaggressive,akuteVirenwieInfluenza,EbolaoderAidssich
inihrenWirtenrapidevermehren,ZellenundGewebezerstörenund
im schlimmsten Fall den Tod verursachen, verhält sich das HerpesVirus anders. Es vermehrt sich nicht mehr ungezügelt und seine
krankmachende Wirkung ist nur noch minimal. Erst wenn unsere
Immunabwehr durch Stress oder Krankheit geschwächt ist, ändert
sich dies und der „Eindringling“ macht sich durch Lippenbläschen
oder Ekzeme bemerkbar. „Viren haben mehr als eine ÜberlebensStrategie: Nicht alle Viren sind sich rapide vermehrende, schnell
verändernde Erreger von Krankheiten“, erklärt Luis Villarreal, Leiter
des Center for Virus Research an der Universität von Kalifornien in
Irvine. Stattdessen verbindet Mensch und Virus im Falle des
Herpesvirus, wie auch bei anderen persistenten Viren, eine lange,
vermutlichsogarJahrmillionendauerndegemeinsameGeschichte.In
ihrem Verlauf wandelte sich der Erreger von einem akuten, seinen
WirttötendenParasitenzueinemsymbiotischenMitbewohner.
EchteSymbiosestatt„Wettrüsten“?
So lautet jedenfalls die provozierende Theorie von Villarreal und
einigen anderen Virenforschern. Wie der bekannte britische
Wissenschaftsautor,ArztundEvolutionsbiologeFrankRyaninseinem
neuen Buch „Virolution“ darlegt, widerspricht diese Sicht des
symbiotischen Miteinanders von Mensch und Virus diametral den
herkömmlichenVorstellungeneines„GleichgewichtsdesSchreckens“,
der
prekären
Koexistenz
auf
Basis
beiderseitiger
Aufrüstungsmaßnahmen.
Denn per Definition ist eine
Symbiose eine Partnerschaft,
bei der jede Seite von der
Anwesenheit der anderen
profitiert.
Jeder
Partner
steuert eine Fähigkeit oder
Eigenschaft bei, die dem
anderen fehlt und ihm daher
nützlich ist. „Was der Wirt im
Falle
einer
Wirt-VirusBeziehung beiträgt, liegt auf
Herpessimplex-Viren©CDC
derHand:ErbietetdemVirus
Obdach und stellt seine genetische Maschinerie zur Verfügung, so
dass das Virus Kopien seiner selbst anfertigen kann“, erklärt Ryan.
AberwassteuertdasVirusbei?
DerFeindmeinesFeindesistmeinFreund
Den entscheidenden Hinweis darauf brachten unter anderem
Beobachtungen an Affen. Auch bei diesen gibt es Herpesviren, die
extrem eng an jeweils eine Affenart angepasst sind und bei diesen
keinerlei Krankheitssymptome auslösen. „Wenn man sie mit einer
anderen Affenart in Kontakt bringt, wirken sie äußerst, wirklich
äußerst letal“, erklärt Max Essex, Professor für Medizin an der
HarvardUniversität,inRyansBuch.„Ichvermute,mankönntesogar
nachweisen, dass genau jene Affen am empfindlichsten auf das
jeweilige Virus reagieren, die dieselbe ökologische Nische besetzen
und zum Beispiel dieselbe Nahrung bevorzugen, während andere
Arten, die vielleicht im selben Revier leben aber etwas anderes
fressen und somit eine andere Nische ausfüllen, nicht so leicht
erkranken.“MitanderenWorten:DerTrägereinespersistentenVirus
profitiert, weil sein Mitbewohner ihm auf sehr effektive Weise
unliebsame Konkurrenz aus dem Weg räumt. Oder, wie es Ryan
formuliert: „Bei Licht besehen haben auch Viren eine wichtige,
wenngleich weniger augenfällige Fähigkeit, die ihren Wirten fehlt:
IhnenwohnteinimmensesVernichtungspotenzialinne.“
Virus hilft
Konkurrent
Grauhörnchen
gegen
Wie gut das Beseitigen von Konkurrenz
als Gegenleistung des Virus für seinen
Parapox-Virenhelfendem
Grauhörnchengegenden
Konkurrenten,das
Eichhörnchen.©Rayeye/CCby-sa2.0,gemeinfrei
Wirt funktioniert, zeigt ein Beispiel aus
England:HierbreitetsichseitJahrendas
aus
Amerika
eingeschleppte
Grauhörnchen (Sciurus carolinensis)
immer weiter aus und bedroht
inzwischen sogar den Fortbestand des
heimischen Roten Eichhörnchens (Sciurus vulgaris). Lange Zeit hielt
man den Einwanderer wegen seiner Größe und Aggressivität für so
erfolgreich, doch inzwischen musste man sich eines Besseren
belehren lassen, wie Ryan erzählt: „Inzwischen hat sich
herausgestellt, dass die Grauhörnchen-Population mit einem
Parapoxvirusdurchseuchtist,dasbeiseinemSymbiosepartnerkeine
Krankheitssymptome hervorruft, für das Europäische Eichhörnchen
aber tödlich ist.“ Um der grassierenden Parapocken-Übertragung
Einhalt zu gewähren, werden seit 2007 in Schottland regelmäßig
Grauhörnchengetötet.
VIRENALSKOMPLIZEN
D
ieSachemitdemWespenei:Aberesgibtauchnocheine
andereMöglichkeit,vondersymbiotischenPartnerschaft
mit einem Virus zu profitieren. Ein Beispiel dafür sind
parasitische Wespen, von denen es weltweit mehrere
zehntausend Arten gibt. Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie andere
Insektenalslebende„Brutkästen“fürihrenNachwuchsnutzen.
ParasitischeWespelegtEiineineRaupe©USDA/ScottBauer
Viele Wespen legen beispielsweise ihre Eier in Raupen von
Schmetterlingen. Nach kurzer Zeit schlüpfen die Wespenlarven und
beginnen, sich von den Stoffwechselprodukten und Geweben der
Raupezuernähren.DabeifressensienichtnurdieRaupevoninnen
heraus auf, sie setzen auch ihr Hormonsystem außer Kraft und
verhindern damit, dass diese beginnt sich zu verpuppen. Sind die
Wespenlarven dann alt genug, bohren sie sich durch die Haut ihres
sterbenden Wirts und verpuppen sich. Soweit so bekannt. Doch die
ganze Geschichte hat einen kleinen Schönheitsfehler: Eigentlich
dürften die Wespeneier in den Raupen gar nicht überleben,
geschweige denn Larven daraus schlüpfen. Denn das Immunsystem
der Raupen ist durchaus auf solche Eindringlinge vorbereitet und
müsste die als fremd erkennbaren Eier normalerweise sofort
vernichten.Dochgenaudiesgeschiehtnicht.Aberwarum?
VirushilftWespenei
Des Rätsels Lösung sind –
wieder einmal – Viren: Die
parasitischen Brack- und
Schlupfwespen sind im Laufe
einer Millionen Jahre alten
Entwicklungsgeschichte eine
Symbiose mit verschiedenen
Erregern aus der Familie der
Polydnaviren eingegangen.
Statt
eine
Krankheit
auszulösen
oder
sich
explosionsartig in ihrem Wirt
ErstdieSymbiosemitdemVirusmachtdie
ParasitierungderRaupemöglich©
Ikehiker/CC-by-sa3.0
zu vermehren, wurden die Viren nun im Laufe der Zeit zu
entscheidenden „Komplizen“ der parasitischen Wespen. „Die
Beziehungen sind so eng geworden, dass viele der Erreger in die
Keimbahn der Wespen eingedrungen sind und erst während der
Eiablage als voll ausgereifte Virenpartikel zum Vorschein kommen“,
erklärt Ryan in seinem Buch. Dadurch werden die Viren quasi
automatischzusammenmitdenEiernindieRaupenübertragen.Und
einmaldortangekommen,entfaltendieVirennunihrevolleWirkung:
Als erstes lähmen sie das Immunsystem der Raupe und verhindern
damiteinenAngriffaufihrenWirt,dieWespe.DannenternsieZellen,
die zentrale Stoffwechselfunktionen steuern und verändern deren
Genfunktion
so,
dass
der
Wespenlarve
optimale
Wachstumsbedingungen geboten werden. Die Raupe beginnt nun
beispielsweise, große Mengen bestimmter Zuckerverbindungen
herzustellen,diedenWespenlarvenalsNahrungdienen.
BeginneinerlangenPartnerschaft
„Es handelt sich um ein einmaliges
Beispiel, wo Viren durch Wespen so
domestiziertwurden,dasssiegenetische
Information in den Wirt übertragen, die
nur dem Überleben der Wespen dient“,
erklärtBeatriceLanzrein,Professorinfür
Zellbiologie an der Universität Bern.
Gemeinsam mit Kollegen aus Tours in
Polydnaviren©USDA
Frankreich enträtselte sie im Jahr 2009
denUrsprungdiesersymbiotischenVerbindung–undauch,wieeng
die Beziehung beider Partner dabei ist. Der Vergleich von VirenSignaturen in stammesgeschichtlich weit voneinander entfernten
Brackwespenarten enthüllte, dass die allererste Aufnahme eines
Polydnavirus durch eine Wespe schon vor 100 Millionen Jahren
stattgefundenhabenmuss–imZeitalterderDinosaurier.Heuteliegt
das Virus bei vielen parasitischen Wespen nicht einmal mehr als
eigener Organismus vor, sondern ist sogar fest in das Genom der
Wespen eingebaut. Pünktlich zur Eiablage werden dann die
Virengene in Eierstockzellen des Wespenweibchens abgelesen und
dieVirenerwachenzuneuemLeben.FürRyanunddieVertreterder
Symbiose-TheorieistdiesesBeispieleinklarerBeweisdafür,dassdie
Evolution hier nicht nur am Wirt oder am Virus, sondern eindeutig
aufdieSymbiosederbeidenwirkt.„EsstehtwohlaußerFrage,dass
die Selektion hier auf der Partnerschaftsebene ansetzt, denn die
Gene und das Verhalten der Viren erhöhen die Überlebenschancen
der Wespen immens“, erklärt Ryan. Er sieht daher in solchen
symbiotischenVirennichtnureinfacheBegleiterihrerWirte,sondern
sogartreibendeKräfteihrerEvolution.
SPRUNGINDIEKEIMBAHN
D
asRätselderKoala-Seuche:Wieschwierigundopferreich
die Anbahnung einer engen genetischen Partnerschaft
zwischenVirusundWirtseinkann,aberauch,wieschnell
dieser Prozess abläuft, zeigt ein Blick ans andere Ende
derWelt,nachAustralien.GenauergesagtindieKüstenregionenOstund Südaustraliens. Denn hier lebt der Koala, ein wegen seines
niedlichen Aussehens vor allem bei Kindern weltweit beliebtes und
bekanntesBeuteltier.
BlutkrebsdurchRetrovirus
Doch der einst häufig vorkommende knuddelige „Teddybär“ wird
heuteimmerseltener,inNewSouthWalesundSüdaustraliengilter
bereits offiziell als bedroht. Nicht nur das Schrumpfen seines
natürlichen Lebensraums macht ihm zu schaffen, sondern seit rund
40 Jahren auch eine Häufung von verschiedenen Arten von
Blutkrebs. Immer mehr Tiere im Freiland, aber auch in Zoos und
Wildparks erkranken und sterben an Leukämie und Lymphomen.
Alarmiert durch die hohen Todesraten, die innerhalb von 15 Jahren
sogar zur völligen Ausrottung der Tiere in Queensland führen
könnten, gingen Wissenschaftler um Jon Hanger von der Universität
von Queensland der Sache nach. Wegen der seuchenartigen
Ausbreitung tippten sie auf eine durch
einen viralen Erreger ausgelöste
Krebserkrankung und leiteten die
„Fahndung“ ein. Mit Hilfe von
elektronenmikroskopischen Aufnahmen
und genetischen Analysen ging ihnen
schließlich tatsächlich ein Virus ins Netz:
ein Retrovirus, das sie Koala-Retrovirus,
kurz KoERV, tauften. Retroviren, eine
vermutlich schon vor mehr als 250
Millionen Jahren entstandene Virenform,
speichern ihre genetische Information
nicht als DNA, sondern in Form eines
kurzen RNA-Strangs, bestehend aus drei
Genen, ab. Eines davon kodiert unter
WeiblicherKoalaim“Billabong
KoalaandAussieWildlifePark”
anderem
das
Enzym
Reverse
inNewSouthWales©Quartl/
CC-by-sa3.0
Transkriptase, mit dessen Hilfe die
RetrovirenihrRNA-ErbgutinDNAumschreibenundessoproblemlos
indieZellmaschinerieihresWirtseinschleusenkönnen.
DerSprungindieKeimbahn
„Die Forscher machten zudem eine ziemlich seltsame Entdeckung:
Das Virus, das die Leukämien und Lymphome auslöste, war mit
Sequenzen identisch, die man in den Chromosomen der Koalas
fand“, schildert Frank Ryan in seinem Buch „Virolution“ die
Entdeckungsjagd der Australier. Das erscheint zunächst nur wenig
erstaunlich, eröffnet doch das Enzym Reverse Transkriptase den
RetrovirennocheineweitereMöglichkeit:DieIntegrationihrerGene
nicht nur in normale Körperzellen, sondern auch in Zellen der
Keimbahn und damit bereits direkt in Zellen der nächsten
Wirtsgeneration. „Das Virus verwandelt sich dadurch in einen
BestandteildesneuenGenoms,esgibtseineFreiheitaufunderlangt
dafür
Langlebigkeit,
ja
vielleicht eine Form der
Unsterblichkeit“, erklärt Ryan.
Durch diese so genannte
„Endogenisierung“ stellt das
Retrovirussicher,dassesvon
nun an als integraler Teil des
Genoms
an
alle
Nachkommen seines Wirts
weitervererbt wird. Dafür
SpermiumundEizelle:TragensiedasVirus,
allerdings muss es auch
wirdesandienächsteGeneration
weitergegeben.©gemeinfrei
Opferbringen:Esbüßtinder
Regel seine krankmachende Wirkung und auch seine Fähigkeit zur
ÜbertragungaufandereWirteein.
Paradox:endogenunddochaktiv?
Und genau das war das Problem bei der Seuche der Koalas:
Normalerweise ist eine akute Krankheit immer auf exogene, von
außeneingedrungeneVirenzurückzuführen.Nursievermehrensich
noch ungezügelt im Körper und schädigen aktiv ihre Wirtszellen, so
jedenfalls die gängige Lehrmeinung. Persistente Viren, die bereits
eine Symbiose mit ihrem Wirt eingegangen sind, sollten dagegen in
der Regel keinen solchen Schaden mehr anrichten. Und endogene
Retroviren,diesichbereitsindasGenomdesWirtsintegrierthaben,
erst recht nicht. „Wir waren also ein bisschen in der Zwickmühle“,
erklärt die Virologin Rachel Tarlington, die Ende der 1990er Jahre
ihre Doktorarbeit über die Koala-Epidemie geschrieben hat im
InterviewmitRyan.„WirhattenesmiteinemaktivenViruszutun,das
dennochvererbtwurde.“Wiekonntedasmöglichsein?
EVOLUTIONINECHTZEIT
V
ersuchundIrrtumimWirtsgenom:Warumverhieltsichdas
Koala-Retrovirus wie ein akut infektiöser Erreger, obwohl
es längst im Koalagenom verankert war? Um die Ursache
für dieses scheinbar paradoxe Verhalten herauszufinden,
beschlossen die Forscher um Rachel Tarlington und Jon Hanger von
derUniversitätvonQueenslandzuklären,wanndieEndogenisierung
des KoERV stattgefunden hatte. Als sie die Populationen der
australischen Koalas nun systematisch nach den Virengenen
durchmusterten, erlebten die Forscher gleich zwei Überraschungen:
Zum einen unterschieden sich Anzahl und Einfügungsorte der
retroviralenSequenzenextremstarkzwischendeneinzelnenKoalas.
„DieViruskopienzahlgehtvonTierzuTiermassivauseinander–fast
als würde das Virus das Genom gerade auskundschaften“, erklärt
Tarlington.„DasdeutetaufeinensehraktivenVorganghin,aufeinen
sehrdynamischenevolutionärenWandel.“
BlickübereinenTeilvonKangarooIsland©Roo72/cc-by-sa2.0
Infektionerstseit100Jahren
Völlig perplex aber waren die Wissenschaftler, als sie feststellten,
dassdieKoalasinQueenslandzwarrelativgleichmäßigdurchseucht
waren, die Infektionsrate aber Richtung Südwesten immer weiter
abnahm. Auf der Insel Kangaroo Island schließlich fanden sich bei
keinem der untersuchten Tiere Spuren von Blutkrebs und auch die
Sequenzen des Koala-Retrovirus suchten die Forscher in ihrem
Genom vergebens. Des Rätsels Lösung brachte ein Blick in die
Geschichte: „Die Koalas kamen irgendwann in den 1920er Jahren
nach Kangaroo-Island, aber sie stammten von einer anderen Insel,
aufdersiebereitsseitEndedes19.Jahrhundertsisoliertwaren“,so
Tarlington. Für Tarlington und ihre Kollegen lag daher der Schluss
nahe,dassdasKoala-RetrovirusziemlichneuistunddieKoalaserst
seit rund 100 Jahren infiziert. Auch für den Ursprung des Virus gibt
es bereits erste Indizien: Tarlingtons Kollege Greg Simmonds
entdeckte, dass einige Nagetiere in Südostasien ein sehr ähnliches
Virus haben. Möglicherweise wurden infizierte Tiere eingeschleppt
undgabendenErregerdannandieKoalasweiter.
Evolution durch Versuch und
Irrtum
Was aber bedeutet dies nun
für die betroffenen Koalas?
„Gegenwärtig löscht das
Koala-Retrovirus
jene
Angehörigen der Wirtsart
aus, die nicht mit ihm leben
können.
Zu
seiner
präadaptierten
Strategie
KoalasaufKangarooIslandsindvirenfrei©
CodyPope/CC-by-sa2.5
gehören
die
jüngst
beobachteteInvasionunddie
vielfacheInsertionindieKoala-Keimbahn“,erklärtRyan.DerErreger
befindetsichdamitquasinochineinerArtExperimentierstadiumvon
VersuchundIrrtum.IndiesemProzessderSelektionüberlebendann
letztlichdieKombinationenausendogenemRetrovirusundKoala,bei
denen Erreger und Wirt in einer für beide günstigen Form
miteinander verschmolzen sind: „Für mich verdichteten sich die
Hinweise, dass wir die verschiedenen Stufen einer aggressiven
Symbiose gerade in Echtzeit miterleben durften“, so Ryan. „Den
ÜbergangvomWüteneinesexogenenVirusindenerstenIndividuen
eines neuen Wirts über die Ausmerzung großer Teile der
Wirtspopulation hin zu einer Partnerschaft auf dem Niveau einer
innigen Symbiogenese, gefolgt von einer vollständigen
Genomverschmelzung. Bald werden die glücklichen Überlebenden –
im Unterschied zu jenen Tieren, die geografisch von diesen
Populationen isoliert sind – eine neue, holobiontische Einheit aus
KoalaundVirusdarstellen.“HolobiontischheißtindiesemFalle,dass
beispielsweise die Selektion und andere evolutionäre Einflüsse
zukünftignichtmehranbeidenPartnerngetrenntansetzen,sondern
nurnochamgemeinsamenGanzen.
BLINDEPASSAGIEREINUNSEREMGENOM
D
ie Entdeckung viraler Gene und Genfragmente im
menschlichen Erbgut: 12. Februar 2001, Washington
D.C.: Vor der versammelten internationalen Presse
verkünden
Vertreter
des
internationalen
Humangenomprojekts (HGP) und Craig Venter, Leiter des privaten
Gentech-Unternehmens Celera die erste komplette Sequenzierung
des menschlichen Erbguts. Nach mehr als zehn Jahren fieberhafter
Arbeit in Instituten und Forschungslabors weltweit - zusätzlich
angeheizt durch den Wettlauf zwischen dem staatlichen Projekt und
dem Privatunternehmen Celera - liegt nun erstmals der genetische
CodeunsererSpeziesalsArbeitsversionvor.
DieBasenabfolgederDNAspeichertunsereErbinformation©NHGRI
Die1,5Prozent-Überraschung
DiescheinbarunendlichlangeAbfolgevonviersimplenBuchstaben,
die die vier Basenpaare Adenin, Thymin, Cytosin und Guanin
symbolisieren, ergibt zwar noch lange keinen Sinn, die Worte im
„Buch des Lebens“ sind noch nicht enträtselt. Aber die rund 3,2
Milliarden sequenzierten Basenpaare erweisen sich auch in ihrer
Rohfassung schon als echter Sprengstoff. Denn gleich in mehreren
Punkten widersprechen die Ergebnisse allen vorherigen
Erwartungen: „Am seltsamsten war die statistische Verteilung der
Bestandteile des Humangenoms, die sich allmählich aus all den
hektischen Sequenzierarbeiten herauskristallisierte“, schildert Frank
Ryan,AutordesBuches„Virolution“seineEindrücke.Soumfasstdas
menschliche Genom nur rund 20.000 bis 25.000 proteinkodierende
Gene – dies entspricht gerade einmal 1,5 Prozent des gesamten
Erbguts.Mehrals50Prozentbestehendagegenausaufdenersten
BlickscheinbarsinnlosenWiederholungenvonGenenundGenteilen,
der„Junk-DNA“.
ViraleSignaturen
Doch
die
eigentliche
Überraschungverbirgtsichin
den restlichen Bestandteilen
unseres Genoms. Denn die
Wissenschaftler entdecken zu
ihrem großen Erstaunen
TypischerAufbaueinesRetrovirus-Erbguts
600.000 Basenabfolgen im
©Gleiberg/CC-by-sa2.0/de
menschlichen Erbgut, die
eindeutig nicht menschlichen,
sondern viralen Ursprungs sind. Die Virengene verraten sich durch
spezielleDNA-Abfolgen,die„longterminalrepeats“,diesieanbeiden
Seiten flankieren. Sie erleichtern sowohl das Ausschneiden als auch
dasWiedereinsetzendiesersogenanntenLTR-ElementeindenDNAStrang.DieviralenGeneundGenteilestammenursprünglich,soviel
wird schnell klar, von Retroviren, der Virengruppe, zu der auch das
Koalavirus und der Aidserreger gehören. Dass der Sprung eines
Retrovirus in die Keimbahn auch in der menschlichen
Stammesgeschichte mindestens einmal gelungen sein muss, hatten
Forscher um Maurice Cohen von der Cancer Research Facility in
Frederiksburg, Maryland, bereits 1984 entdeckt. Auf dem
menschlichen Chromosom 7 fanden sie damals eine DNA-Sequenz,
diedendreibekanntenRetrovirengenengag,polundenvbisaufsITüpfelchen glich. Zudem wurde sie noch von den charakteristischen
LTR-Elementen flankiert. Die Forscher tauften ihren Fund ERV3 –
endogenesRetrovirus3.
MEHRVIRUSALSMENSCH?
E
ndogene Retroviren als prägende Elemente im
Genom: Heute wissen wir, dass unser genetisches Erbe
sogar eine riesige Zahl von Kopien endogener Retroviren
enthält. 8,5 Prozent unseres Genoms machen diese
humanenERVs,kurzHERVs,aus.Wissenschaftlerhabenunterihnen
bereitsüber30verschiedeneHERV-Familienmitzusammenmehrals
200 unterschiedlichen Gruppen und Untergruppen identifiziert.
Damit ist ihr Anteil weitaus größer als der der proteinkodierenden
Gene,diedochvermeintlichunserMenschseinausmachensollen.
AnteilevonVirengenenundanderemimhumanenGenom©Daten:F.Ryan
„DernüchterneBlickdermodernenSequenziertechnikhattealsoein
ParadoxansLichtgebracht“,kommentiertderBuchautorFrankRyan.
„Die Antwort auf die Frage, welcher Teil unseres Jahrmillionen alten
evolutionären Erbes uns eigentlich zu Menschen macht, lag in ihrer
ganzen ungeheuerlichen Nacktheit vor uns – aber wir waren nicht
imstandezubegreifen,waswirdasahen.“
LINEsundSINEs
Der Überraschungen nicht genug, identifizierten die Wissenschaftler
weitere Bestandteile im menschlichen Genom, die möglicherweise
ebenfalls viralen Ursprungs sind: Die so genannten LINE und SINE-
Sequenzen (long und short interspersed nuclear elements) könnten
nach Ansicht einiger Forscher, darunter auch des Virologen Luis
Villarreal Bruchstücke früherer Retrovirengene sein. Ihr Anteil liegt
bei 21 beziehungsweise 13 Prozent. „Noch häufiger [als endogene
Retroviren] sind Abkömmlinge der ERVs“, erklärt Villarreal in seinem
Aufsatz „Can Viruses make us human?“. „So haben beispielsweise
menschliche LINEs einige Sequenzen des HERV-Gens pol
beibehalten, während humane SINEs Sequenzen der LTR und envAbfolgenenthalten.“
VirenalsEvolutionsbegleiter
„Mindestens 43 Prozent des bekannten Humangenoms wären
demnachVirenoderunmittelbarvonihnenabgeleiteteEinheiten“,so
Ryan.„DieImplikationensindgeradezuerschütternd:Wirblickenauf
eine ausgedehnte Serie von Kolonisierungen durch exogene
Retrovirenzurück,verteiltüberdieetwa100MillionenJahreunserer
Säugetierevolution.“ Anhand von Vergleichen der retroviralen
Sequenzen in unserem Genom mit denen naher und entfernter
verwandter Tierarten lässt sich ermitteln, wann ungefähr diese
Endogenisierungenstattgefundenhabenmüssen.
So tragen beispielsweise auch viele Menschenaffen und Altweltaffen
dasERV3insich–fürdieForschereinHinweisdarauf,dasssichdas
Virus schon vor mindestens 30 bis 40 Millionen Jahren, vor der
Trennung der Abstammungslinien von Affen und Menschenaffen in
das Primatenerbgut integriert haben muss. Andere endogene
Retroviren dagegen, wie ein Großteil der so genannten HERV-KUntergruppen, scheinen unsere artspezifischen viralen Partner zu
sein, sie kommen ausschließlich beim Menschen vor. Auffallend ist
allerdingseines:ObwohlVirennormalerweisezudenamschnellsten
mutierenden Organismen auf der Erde gehören, scheinen die
Sequenzen endogener Retroviren erstaunlich gut konserviert zu
werden. Normalerweise aber deutet eine lange Zeit unveränderte
Sequenz immer darauf hin,
dass das betreffende Gen
vom Organismus gebraucht
wird, eine nützliche Funktion
erfüllt. Das allerdings wirft
eine entscheidende Frage
auf: Was genau tun die
endogenen
Retroviren
eigentlichinunseremErbgut?
Tun
sie
überhaupt
irgendetwas?
AuchvieleMenschenaffentragendasERV3
inihremGenom©AaronLogan/CC-bysa2.5
GEHEIMEHELFER
W
elche Funktion haben endogene Retroviren in
uns?:DasersteIndizfürmöglicheAktivitätenunseres
retroviralen Erbes stammt aus den 1970er Jahren,
lange vor der Entdeckung der ersten HERVs. Jay Levy
und seine Kollegen vom Cancer Research Institute in San Francisco
stoßen in Extrakten von menschlichem Plazentagewebe auf Partikel,
dieinverblüffenderWeiseRetrovirenähneln.Gleichzeitigregistrieren
sie eine ungewöhnlich hohe Aktivität eines Enzyms, das die RNAReplikation katalysiert. Noch allerdings sind sich die Forscher
unsicherdarüber,wasgenaudavorliegt.
ErsteelektronenmikroskopischeAufnahmederretroviralenPartikelausPlazentazellen©PNAS1978,
75(12):6263–6267
In ihrer Veröffentlichung in der Fachzeitschrift „Proceedings of the
National Academy of Sciences (PNAS) schreiben sie 1978: „Ob diese
Strukturen eine transplazentale Infektion mit einem Virus
repräsentieren oder ob sie endogene Viren sind, die an
Entwicklungsprozessen des Wirts beteiligt sind, ist nicht bekannt.“
Welche Entwicklungsprozesse die Autoren hier konkret gemeint
haben könnten, zeigt ein Blick in die Vorgänge bei der
Plazentabildung:
FremdlingimMutterleib
Wenn eine Eizelle befruchtet wird und sich auf ihren Weg in die
mütterliche Gebärmutter macht, lebt sie gefährlich. Denn im Prinzip
ist sie ein Fremdkörper, stammen doch zumindest die Hälfte ihrer
GenenichtvonderMuttersondernvomVaterunddamitvoneinem
anderenMenschen.KritischwirddieserStatusvorallemdann,wenn
es um die Einnistung des
befruchteten Eis in die
Gebärmutterschleimhaut
geht. „In gewissem Sinne
ähnelt der Embryo einem
Parasiten: Er muss in das
mütterliche
Wirtsgewebe
eindringen, die Physiologie
der Mutter manipulieren und
der Entdeckung durch das
mütterliche
Immunsystem
entgehen“,
erklärt
der
Virologe
Luis
Villarreal.
Entscheidend für den Erfolg
MenschlicherFötusundPlazenta©Wei
dieser Operation ist die
Hsu,Shang-YiChiu,PLoSBiologyol.6,
No.12/CC-by-sa2.5
Plazenta,
ihre
Gewebestrukturbildetsowohl
nährendes Bindeglied als auch Schutz für den heranwachsenden
Embryo. Erreicht wird dies durch die Ausbildung einer speziellen
Grenzschicht, dem so genannten Syncytiotrophoblast. In ihm
verschmelzen Plazentazellen zu einer von keinem Zellzwischenraum
durchbrochenenSchicht,einerArtRiesenzellemitvielenZellkernen.
RiesenzelledankVirenprotein
Und genau diese auch als Syncytium bezeichnete Riesenzelle ist das
Rätselhafte an der ganzen Sache, wie Frank Ryan in seinem Buch
„Virolution“ erklärt: „Unsere Wirbeltierzellen sind eigentlich nicht
imstande, zu einem Syncytium zu verschmelzen.“ Es gibt jedoch
andereOrganismen,dieunsereZellendazubringenkönnen,genau
dieszutun:Retroviren.
Den Beleg dafür finden Wissenschaftler
umJohnMcCoyvomGeneticsInstitutein
Cambridge Massachusetts im Jahr 2000.
Sie entdecken ein Protein, von ihnen
Syncytin
getauft,
das
den
entscheidenden
Anstoß
zur
Verschmelzung der Plazentazellen gibt.
Doch das Protein wird nicht von einem
unserer eigenen kodierenden Gene
DerSyncytiotrophoblasttrennt
dieKreisläufevonMutterund
produziert, sondern von dem env-Gen
Kind©Historisch(Gray’s
eines endogenen Retrovirus, dem HERVAnatomy)
W. Wenig später findet eine andere
ArbeitsgruppeeinweiteresSyncytin,dasebenfallsdieVerschmelzung
unterstütztundzudemeinewichtigeRollebeiderUnterdrückungder
mütterlichen Immunreaktion auf den Embryo spielt. Auch dieses
ProteinwirdvoneinemretroviralenGenproduziert.
EvolutionssprungdurchVirenhife?
Eine der entscheidenden Voraussetzungen für unsere erfolgreiche
Fortpflanzung verdanken wir – und alle anderen plazentalen
Säugetiere - damit offensichtlich unseren viralen Symbiosepartnern.
DenninteressanterweisefehlendenBeuteltieren,dienochkeinevoll
ausgebildete Plazenta besitzen, viele der bei uns präsenten ERVs.
„Keines dieser Charakteristiken war schon in Kloakentieren oder
Beuteltieren präsent, sie alle scheinen in einem komplexen
evolutionären Ereignis erworben worden zu sein“, so Villarreal. „Es
erscheint uns daher wahrscheinlich, dass ERVs irgendwie in diese
komplexen plazentalen Charakteristiken involviert gewesen sein
mussten.“FürdenERV-ExpertenistdieseinweitererHinweisdarauf,
dass endogene Viren als wichtige Triebkräfte der Evolution wirken
können. Vielleicht sind sogar sie es, die große Sprünge in der
Entwicklung erst ermöglichen. Auffallend ist immerhin, dass sich im
Laufe der stammesgeschichtlichen Entwicklung nicht nur die
Komplexität und Anzahl der Merkmale und Fähigkeiten erhöht hat,
sondern auch der Anteil der Virengene im Erbgut: „Bei jedem
größeren Schritt auf diesem Weg, so etwa bei der Entstehung der
Wirbeltiere, der Säugetiere und vor allem der Primaten, war die
AnzahlderRetroviren-Stämmegeradezuexplodiert“,beschreibtRyan
die Entwicklung. Auch gegenüber dem Schimpansen, unserem
nächsten Verwandten, ist ein deutlicher Unterschied in punkto ERVAusstattungfestzustellen:WirMenschentragenrunddoppeltsoviele
retroviraleLINEsimErbgutwiedieser.
FREUNDUNDFEINDZUGLEICH
N
utzen und Schaden durch HERVs in uns: Heute scheint
klar,dassdieendogenenRetrovireninunseremGenom
keineswegs passive Mitläufer sind, sondern durchaus
aktiv an unserer Entwicklung und unseren
Lebensvorgängen teilnehmen. „Es wird viele überraschen, dass die
meisten dieser HERVs tatsächlich transkribiert werden und einige
auch als Proteine und manchmal als Virionenpartikel in spezifischen
Gewebenexprimiertwerden“,erklärtderVirologeLuisVillarreal.
Unentbehrlich…
SpurenderAktivitätvonERV3beispielsweisefindensichnichtnurin
Plazenta,EierstöckenundNebennieren,sondernauchinTalgdrüsen
und dem braunen Fettgewebe. Die beiden von retroviralen Genen
erzeugten Proteine Syncytin-2 und -2 werden dagegen offenbar in
erstaunlich großer Menge auch im Gehirn hergestellt: „Die Aktivität
isthöheralsbeijederanderenHERV-Genexpression,diemanbisher
untersuchthat“,erklärt„Virolution“-AutorFrankRyan.„Niemandweiß
wasdieProduktedieserVirengeneinunseremGehirntunundobsie
sich irgendwie von den Syncytinen in der Plazenta unterscheiden,
aber womöglich spielen sie eine wichtige anatomische oder
physiologische Rolle - oder beides.“ Neben den endogenen
Retroviren selbst können
auch die retroviralen LTRs in
unserem Erbgut wichtige
Hilfestellung leisten, indem
siebeispielsweisedieAktivität
anderer,
für
uns
entscheidender
Gene
regulieren helfen. Beispiele
dafür sind das Keratin-Gen,
GenedesImmunsystems,das
Gen für das Stärke-Enzym
Amylase sowie Gene für das
Auch in unserem Gehirn wird Syncytin
Virengenenproduziert©Hemera
Fettstoffwechselhormon
LeptinunddenzugehörendenLeptinrezeptor.Insgesamtsindderzeit
ungefähr 20 menschliche Gene bekannt, deren Expression von
retroviralenKontrollsequenzenreguliertwird.
…undgefährlich
Allerdings sind die Retroviren in uns keineswegs immer nur
gutmütige Helfer, sie besitzen durchaus das Potenzial zur
Zerstörung. Auf den ersten Blick klar ist dies für einige Relikte der
endogenenViren,daruntervorallemdieLTRsundeinigeSINEs,die
so genannten Alu-Sequenzen. Denn sie sind hochgradig mobil,
können relativ leicht ausgeschnitten, wieder eingefügt oder
rekombiniert werden. Landen sie dabei mitten in einem wichtigen
Gen oder schneiden aus Versehen Teile eines solchen Gens aus, ist
von
einSchadenvorprogrammiert.
„Sie fügen sich gerne in besonders
genreiche Regionen ein, so schaffen sie
einerseits eine Menge Spielmaterial für
evolutionäre Neuerungen und richten
andererseitsvielChaosan“,soRyan.„Sie
können
auch
ganze
Chromosomenabschnitte zerstören und
so genetische Anomalien im großen Stil
erzeugen.“ Einen Zusammenhang mit
solchen Alu-Sequenzen gibt es bei
zahlreichen Erbkrankheiten wie der
Immunschwächekrankheit X-SCID, der
Brustkrebszelle©NCI
Hämophilie, der Neurofibromatose,
einigenFormendesDiabetesTyp2sowieanderenGeburtsfehlern.
KrebsdurchHERVs?
Aber auch bei vielen Krebserkrankungen gehören HERVS und ihre
Abkömmlinge heute zu den Hauptverdächtigen. In vielen Tumoren
finden sich Virenpartikel oder das virentypische Enzym reverse
Transkriptase, vermutet wird ein Zusammenhang bei akuter
myeloider Leukämie und vielen familiär gehäuft auftretenden
Krebsformen.IneinigenFällen,wiebeidenBrustkrebsgenenBRCA1
und 2, konnten Forscher bereits belegen, dass die Krebsgene
tatsächlich durch beiderseits eingebaute virale Sequenzen aktiviert
oder verändert wurden. Doch diese negative Wirkung der HERVs
birgtauchChancenfürneueTherapieansätze:Soistesitalienischen
Forschern im Tierversuch bereits gelungen, die Zellteilung und die
EntartungvonverschiedenenKrebszellenmitantiretroviralenMitteln
zuhemmenundsodasTumorwachstumaufzuhalten.
RÄTSELUMDAS„MS-VIRUS“
D
ie Rolle der HERVs bei Autoimmunerkrankungen: Für
Aufsehensorgte1997dieEntdeckungeinesfranzösischbritischen Forscherteams um Hervé Perron. Die
WissenschaftlerhatteninderRückenmarksflüssigkeitvon
Patienten mit der Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose (MS) die
Signatur eines Virus nachgewiesen, das sich als endogenes
Retrovirus entpuppte. Das env-Gen dieses HERV-W war genau die
Sequenz,dieauchdasfürdiePlazentasowichtigeProteinSyncytin-1
produzierte. Aber war diese Genaktivität wirklich der Auslöser der
MS? Immerhin war ja auch bereits in den Gehirnen gesunder
MenschenSyncytingefundenworden.
QuerschnittdurchgesundeNervenzellemitMyelinscheide©Roadnottaken/CC-by-sa3.0
SyncytinalsJanuskopf
ZahlreicheForschergruppensprangenaufdenZugaufundsuchten
nach Zusammenhängen. Im Jahr 2004 gelang es dann einem
internationalen Team von Wissenschaftlern tatsächlich, das HERV-W
mindestens als mitschuldig zu überführen. Sie hatten nicht nur das
VirenproteingenauamOrtdesGeschehensnachgewiesen,sondern
auch,welcheFolgenseinePräsenzdorthat:
„Das Syncytin-1 wird dabei
genau in den Regionen der
akuten
Demyelinisierung
gebildet“,
schildert
„Virolution“-Autor Frank Ryan
die Ergebnisse. „Und es kann
beim besten Willen nicht
mehr
als
Schutzfaktor
gedeutet werden, denn es
Syncytintötetdiemyelinproduzierenden
ruft
die
Freisetzung
Oligodendritenab©gemeinfrei
chemischer
Verbindungen
hervor, die die Oligodendrozyten abtöten, also jene Zellen, die die
Myelinscheide bilden.“ Noch immer allerdings bleiben einige Fragen
offen,darunterauch,warumdasSyncytinbeiMS-Patientenschädlich
wirkt, sonst aber offensichtlich nicht. Könnte es mehrere
Syncytinformen geben? Oder spielen möglicherweise weitere,
exogeneEinflussfaktoreneineRolle?
HERV-MitschuldauchbeiLupus?
EinandererFall,beidemForscherheutezumindesteineBeteiligung
endogener Retroviren vermuten, ist die Autoimmunerkrankung
Lupuserythematodes(SLE).BeidieserreagiertdasImmunsystemder
Betroffenen auf ungenügend abgebaute Relikte von Zellen, die
eigentlich durch das körpereigene Selbstmordprogramm beseitigt
werdensollten.DiesführtzuHautveränderungenundEntzündungen
inGefäßenundOrganen,dieimExtremfallzumOrganversagenund
zum Tod führen können. Neuere Untersuchungen haben nun
gezeigt, dass die Blockade des Gens Trex1, das ein Enzym für die
normale Entsorgung von DNA-Resten aus dem Zellkern kodiert, im
TierversuchLupusauslösenkann.IndenZellenmitgestörterTrex1-
Funktion finden sich wiederum ungewöhnlich viele Produkte
endogener Retroviren. Ob dies allerdings Ursache oder Folge der
Trex1-Blockade ist, bleibt bisher unklar. Es wird jedoch nicht
ausgeschlossen,dassHERVSzumindestmitanderüberschießenden
Autoimmunreaktionbeteiligtsind.
KooperationunterViren
In manchen Fällen können auch
unvollständige oder vermeintlich „tote“
retrovirale Sequenzen unerwartete
Aktivitätentfalten:Wennsiemitanderen,
von außen eingedrungenen Viren in
Kontakt kommen. Exogene und
Möglicherweiseinteragiert
„hauseigene“ virale Gene helfen sich
auchdasAids-Virusmit
retroviralenSequenzenin
dann unter Umständen gegenseitig mit
unseremGenom©CDC
fehlendenBausteinenausunderzeugen
so fatale Synergieeffekte. In Laborversuchen haben Wissenschaftler
beispielsweise bereits nachgewiesen, dass eine Infektion mit dem
Epstein-Barr-Virus das endogene Retrovirus HERV-K18 in den
befallenen B-Lymphozyten unseres Immunsystems aktiviert. Dieses
produziertdaraufhinein„Superantigen“,dasdemexogenenErreger
Vorteile gegenüber der Immunabwehr verschafft. Ähnliche
Interaktionen könnten möglicherweise auch beim Aidserreger HIV
vorkommen.
KreativeKraftoderunfreiwilligerUsurpator?
Bei allen negativen Auswirkungen steht für Ryan und Villarreal vor
allem die kreative und damit in der Evolution vorantreibende Kraft
der Viren im Vordergrund. Für sie ist klar, dass auch die durch
endogene Viren verursachten Genschäden oder Krankheiten eher
ein „Unfall“ als Absicht oder Zweck der Übung sind. Letztlich
überwiegt jedoch – zumindest für unsere Art als Ganzes –, der
positive
Effekt,
die
Entwicklungssprünge
in
unserer
Stammesgeschichte,diewirdiesen„blindenPassagieren“verdanken.
Andere Wissenschaftler sind allerdings durchaus skeptischer und
halteninderSummedieFolgenderretroviralenKolonisierungeher
für negativ. Sie sehen darin eher eine unfreiwillige „Übernahme“ als
eine echte Symbiose. Wer am Ende Recht behält, werden weitere
Studien zeigen – und letztendlich auch der weitere Verlauf der
Evolution.
04|Impressum
scinexx.de-DasWissensmagazin
MMCDNEWMEDIAGmbH
Elisabethstraße42
40217Düsseldorf
Tel.0211-94217222
Fax03212-1262505
www.mmcd.de
[email protected]
Geschäftsführer:HaraldFrater,[email protected]
Chefredakteurin:NadjaPodbregar,[email protected]
Handelsregister:
Düsseldorf,HRB56568;USt.-ID.:DE254927844;
FinanzamtDüsseldorf-Mitte
Konzeption/Programmierung
YOUPUBLISHGmbH
Werastrasse84
70190Stuttgart
M:info(at)you-publish.com
Geschäftsführer:AndreasDollmayer
©2016byKonradinMedienGmbH,Leinfelden-Echterdingen
Herunterladen