3 1 Embryologische, anatomische und physiologische Vorbemerkungen 1.1 Sehorgan (Organum visus) Das Sehorgan besteht aus dem Auge (Augapfel, Bulbus oculi) mit dem Sehnerven (Nervus opticus), der zentralen Sehbahn und dem Sehzentrum der Sehrinde des Hirnmantels. Zur Gewährleistung seiner Funktion tragen das weit verzweigte Blutgefäßund Nervensystem und vor allem die Nebenorgane des Auges (Organa oculi accessoria, Adnexe) wie Orbita, äußere Augenmuskeln, Tränenapparat, Bindehaut und Lider bei, die dem Schutz und der Beweglichkeit dienen. die sogenannte Linsenplatte (Linsenplakode, Placoda lentis) (Abb. 1-2 und 1-3) (Michel 1995; Slatter 2001). Gleichzeitig beginnen die vom Mesenchym der Neuralleiste umgebene Augenblase sich zum Augenbecher (Cupula optica) einzustülpen und die Linsenplatte sich zur Linsengrube (Fovea lentis) zu vertiefen (Abb. 1-3). Bis zum 19. Tag ist die Ausbildung des doppelwandigen Augenbechers vollendet und durch Einbeziehung des Augenbecherstiels in die Invagination des Augenbechers entsteht an seiner ventralen Seite die fetale Augenspalte (Fissura optica), die aus Augenbecherspalte und Augenbecherstielspalte besteht (Abb. 1-4). Gleichzeitig formiert sich die primitive Retinaanlage im inneren Beachte: Zum besseren Verständnis kongenitaler Augenerkrankungen sind Kenntnisse der Embryonalentwicklung des Sehorgans nützlich. 2 1 Embryologie und Anatomie Der zeitliche Ablauf der Entwicklung des Sehorgans samt Adnexe wird am Beispiel des Hundeauges erläutert. Dieser weicht nur unwesentlich von dem der Katze ab, da die Trächtigkeitsdauer zwischen Hund und Katze nur wenige Tage differiert (Hund ~ 63 Tage, Katze ~ 60 Tage). Das Auge und seine Adnexe entwickeln sich aus dem Neuroektoderm, dem Oberflächenektoderm und dem Mesoderm. Die fundamentale Entwicklung (Organogenese) des Auges nimmt nur die kurze Zeitspanne vom 13. bis 25. Tag nach Befruchtung der Eizelle in Anspruch (Cook 1999). Die Determinierung der Augenanlage beginnt mit der Induktion des Vorderhirns in Form der Augengrube (Foveola optica) am 13. Tag (Abb. 1-1). Mit dem Schluss der Neuralwülste zum Neuralrohr erweitert sich die Augengrube am 15. Tag zur Augenblase (Vesicula optica), deren Hohlraum (Sehkammer oder -ventrikel) nur noch durch den hohlen Augenblasenstiel (Pedunculus opticus) mit dem III. Gehirnventrikel in Verbindung steht. Bis zum 17. Tag erreicht die Augenblase das Oberflächenektoderm und induziert die Anlage der Linse, 3 4 7 8 6 5 S1 9 S2 S3 10 Abb. 1-1 Halbschematische Ansicht des kranioventralen Bereiches eines 13 Tage alten Embryos bei teilweise entferntem Amnion (modifiziert nach Cook 1999). 1 = Augengruben an der Innenfläche der Neuralwülste; 2 = kranial offene Neuralrinne mit vorderem Neuroporus; 3 = Vorderhirn (Prosenzephalon); 4 = Mittelhirn (Mesenzephalon); 5 = Rautenhirn (Rhombenzephalon), S1–3 = Urwirbel (Somite) 1–3; 6 = Pleuroperikardialwulst; 7 = Unterkieferbogen (1. Kiemenbogen); 8 = Zungenbeinbogen (2. Kiemenbogen); 9 = innere Eihaut (Amnion); 10 = Dottersackstiel (abgetrennt). Grundlagen 4 1 Embryologische, anatomische und physiologische Vorbemerkungen 6 3 3 5 4 7 2 1 a 6 7 1 3 b Abb. 1-2 Halbschematische Seiten- und Frontalansicht des kranialen Embryonalbereiches im Stadium der Linsenplatte. Dreiblasiges Gehirn gestrichelt (modifiziert nach Slatter 2001 und Michel 1995). 1 = Linsenplatte; 2 = Scheitelhöcker; 3 = Nackenhöcker; 4 = Stirnwulst; 5 = vorderer Neuroporus; 6 = medialer Nasenwulst; 7 = lateraler Nasenwulst; 8 = Oberkieferwulst (des Unterkieferbogens); 9 = Unterkieferbogen; 10 = Zungenbeinbogen; 11 = Pleuroperikardialwulst; 12 = Mundbucht; 13 = Prosenzephalon; 14 = Mesenzephalon; 15 = Rhombenzephalon; 16 = Medullarrohr. Abb. 1-3 Schematische Darstellung der Augenanlage nach dem Schluss der Neuralwülste (17. Tag). a Augen- und Linsenanlage. 1 = Sehventrikel; 2 = Augenblase; 3 = Augenblasenstiel; 4 = 3. Ventrikel des Vorderhirns; 5 = Prosenzephalon; 6 = Oberflächenektoderm; 7 = Linsenplatte. b Einstülpung zu Augenbecher und Linsengrube. Legende wie in a. Augenbecherblatt. Ab dem 25. Tag befindet sich Pigment im einschichtigen äußeren Augenbecherblatt (retinales Pigmentepithel [RPE]), die A. hyaloidea wächst über die fetale Augenspalte in den Augenbecher ein und die Ränder der Linsengrube verschmelzen unter der Abschnürung vom Oberflächenekto- derm zum Linsenbläschen (Vesicula lentis), der Linsenanlage (Abb. 1-5). Hierauf erfolgt die Differenzierung der primären Organanlagen in ein voll oder teilweise aktives Organ (25.–58. Tag) (Michel 1995). Grundlagen 1.1 Sehorgan (Organum visus) 5 9 2 10 5 6 2 13 12 4 3 5 8 3 1 8 4 6 1 16 7 2 7 5 14 11 Abb. 1-4 Schematischer Längsschnitt durch das sich entwickelnde Auge (20. Tag). 1 = Oberflächenektoderm; 2 = Mesenchym der Neuralleiste; 3 = Linsengrube vor Abschnürung des Augenbläschens vom Oberflächenektoderm; 4 = vorderes (inneres) Blatt des Augenbechers; 5 = Sehventrikel; 6 = hinteres (äußeres) Blatt des Augenbechers; 7 = fetale Augenspalte; 8 = Cavum hyaloideum. 15 Abb. 1-5 Schematischer Längsschnitt durch das sich entwickelnde Auge (30. Tag). 1 = Oberflächenektoderm; 2 = Lidwulst; 3 = Hornhautmesenchym; 4 = primitive vordere Augenkammer; 5 = Mesenchym der Neuralleiste; 6 = Membrana pupillaris; 7 = Ringgefäßsystem des Augenbechers (spätere Irisbasis); 8 = Linse (primäre Linsenfasern); 9 = Tunica vasculosa lentis; 10 = primitive sensorische Netzhaut (Innenblatt des Augenbechers); 11 = kollabierter Sehventrikel; 12 = retinales Pigmentepithel; 13 = Ziliararterie; 14 = A. hyaloidea; 15 = fetale Augenspalte; 16 = Augenbecherstiel. Achse des optischen Systems Sehachse Hornhaut Limbus corneae vordere Augenkammer Ziliarkörper Linse hintere Augenkammer Iris Zonula Zinnii Ora ciliaris äquatorialer Durchmesser Glaskörper Area centralis retinae Discus n. optici Lamina cribrosa N. opticus mit Scheide Retina u. Nervus (N.) opticus retinales Pigmentepithel Uvea anterior u. posterior Sklera Abb. 1-6 Halbschematischer Meridionalschnitt durch das Auge mit Markierung der Sehachse und der optischen Achse sowie der okularen Gewebeschichten. Grundlagen