Michael Sertl und Nikola Leufer Bernsteins Theorie der pädagogischen Codes und des pädagogischen Diskurses Eine Zusammenschau 1. Einführung In den letzten Jahren ist in unterschiedlichen Disziplinen das Interesse an soziologischen Ansätzen zur Erklärung und Beschreibung milieuspezifischer Disparitäten im Bildungsbereich gewachsen. Angesichts anhaltender Problemlagen ist die Suche nach tragfähigen Hinweisen auf Ursachen, Beschreibungen und Erklärungen nur zu verständlich. Vor diesem Hintergrund zeichnen sich die Arbeiten des englischen Soziologen Basil Bernstein (1924 – 2000) durch ihr Potenzial zur Schaffung einer Sprache aus, die in der Lage ist, alle beteiligten sozialen Ebenen schlüssig zu modellieren und entsprechend zu integrieren. Damit ist wertvolle Vorarbeit für einen erklärenden Zugriff auf das Phänomen der Leistungsdisparitäten durch die empirische Forschung geleistet. Im folgenden Beitrag wird versucht, eine vereinfachte Darstellung einiger zentraler Konzepte des Soziologen Bernstein zu liefern. Dabei haben folgende Absichten den Blickwinkel und die Auswahl beeinflusst: 1. Bernstein soll als Klassiker der Bildungssoziologie vorgestellt werden. Damit wollen wir dazu beitragen, dass er – endlich auch im deutschsprachigen Raum – nicht nur als ein Begründer 1 der Soziolinguistik wahrgenommen wird, sondern in eine Reihe gestellt wird mit bildungssoziologischen Klassikern wie Bourdieu, Foucault, Parsons oder Luhmann. Dabei soll der Soziologe Bernstein als pädagogischer Theoretiker im eigentlichen Sinn vorgestellt werden, und zwar als derjenige Soziologe, der den pädagogischen Diskurs wohl am genauesten untersucht hat. Diese Arbeiten zum pädagogischen Diskurs stehen im Zentrum der folgenden Darstellung. 2. Die Auswahl der Konzepte ist weiter geleitet von der Absicht, Instrumente für die Analyse von schulischem Unterricht bzw. für die Analyse von 1 Die Wahrnehmung Bernsteins als eines „Begründers“ der Soziolinguistik ist möglicherweise eine Spezialität des deutschsprachigen Diskurses. Im angelsächsischen Raum ist Bernsteins Stellung als Soziolinguist relativ umstritten (vgl. Davies 2011). 5 Lehrer- und Schüler-Handeln zur Verfügung zu stellen. Diese Fokussierung entspricht auch der aktuellen deutschsprachigen Rezeption bzw. den Arbeitsgebieten der derzeit mit Bernstein arbeitenden Forscherinnen und Forscher, von denen einige in diesem Band versammelt sind. Ihre Forschungsinteressen liegen hauptsächlich in der unterrichtswissenschaftlichen und fachdidaktischen Forschung. Wir beschränken uns im Wesentlichen auf die Rezeption des Originalwerkes. Die eindrucksvollen Weiterentwicklungen nach Bernsteins Tod bzw. noch zu seinen Lebzeiten werden hier nur peripher berücksichtigt. Exemplarisch soll hier auf die Tagungsbände der alle zwei Jahre stattfindenden Bernstein-Symposien verwiesen werden (Ivinson, Davies und Fitz 2011, Moore, Arnot, Beck und Daniels 2006, Morais, Neves, Davies und Daniels 2001, Muller, Davies und Morais 2004, Singh, Sadovnik und Semel 2010). Zur Einordnung Bernsteins Bernstein lässt sich nicht nur in die Reihe der bildungssoziologischen Klassiker einordnen, seine Arbeiten besitzen eine ganz spezifische Qualität, mit der er auch die soziologische Theorieentwicklung maßgeblich vorangebracht hat. Mit seinem vollkommen eigenständigen Zugang zur Mikro/Makro-Problematik, der 1. die Beziehungen zwischen makrosoziologischen Konzepten wie Klasse und Macht einerseits und 2. die mikrosoziologischen Beziehungen in der pädagogischen Kommunikation andererseits und 3. die Wechselbeziehungen zwischen diesen beiden Ebenen und der institutionellen Mesoebene ziemlich genau zu modellieren in der Lage ist, bleibt er konkurrenzlos im Feld der Bildungssoziologie. Dazu zeichnet ihn ein ausgesprochen „optimistisches Potenzial“ aus, das so nur selten in soziologischen Konzepten zu finden ist: Gemeint ist die systematische Verankerung von Wandel und Variation im theoretischen Gebäude. In allen Konzepten werden immer auch „Brüche“ und Widersprüche aufgedeckt, die die Möglichkeit von Änderung zumindest theoretisch in sich tragen. Als zentrale Quellen und Bezugspunkte seiner theoretischen Konzepte nennt Bernstein die „üblichen Verdächtigen“ in Sachen Bildungssoziologie, er spricht von einer „Marx-Durkheim-Mead-Matrix“ (CCC12, S. 62). Konkret schreibt er im historisch-rekonstruktiven Kapitel „Codes and Research“ vom „Meadschen Symbolischen Interaktionismus und der frühen ChicagoSchule“, die für ihn attraktiv waren, „aufgrund der zentralen Stellung 2 6 CCC steht für den Sammelnamen von Bernsteins Werk: Class, Codes and Control. Zur Zitationsweise s. Literaturverzeichnis, S. XY. von Kommunikation und ihren detaillierten ethnographischen Studien marginalisierter Kulturen. Durkheim und Cassirer lieferten eine Kantsche Perspektive [...] und machten mich auf die soziale Basis symbolischer Formen aufmerksam. Von Marx kommt das Problem des klassenspezifischen Bewusstseins und seiner Beziehung zur gesellschaftlichen Arbeitsteilung und zu den Beziehungen in der Produktion.“ (CCC5, S. 89; Übers. MS/NL) Auch von der englischen Anthropologin Mary Douglas übernimmt Bernstein Anregungen, insbesondere für das Konzept der Grenzziehung in der Klassifikation. Den größten Einfluss aber übt zweifellos Durkheim aus, mit dem Bernstein darüber hinaus gemeinsam hat, dass beide sowohl im Feld der Soziologie als auch im Feld der Pädagogik tätig sind. Zentrale Bezugspunkte sind dabei die Konzepte der mechanischen und organischen Solidarität, nach Atkinson (1995) eine Art Leitmotiv in Bernsteins Werk, Bausteine aus der Religionssoziologie und schließlich Durkheims „Entwicklung der Pädagogik“ (1969/1977). Was die soziologischen Zeitgenossen betrifft, so hat sich Bernstein mit Konzepten von Parsons, insbesondere aber von Bourdieu und Foucault auseinandergesetzt. Auf letzteren wird später noch Bezug genommen (s. Anhang). Was Bourdieu betrifft, so wurden die beiden zweifellos als Konkurrenten auf dem Gebiet der soziologischen Erklärung schichtspezifischer Disparitäten in den schulischen Leistungen wahrgenommen. Dennoch war ihr Verhältnis, zumindest in den frühen 1970er Jahren, ein wohlwollendes und produktives. Bourdieu veranlasste die Übersetzung einiger Arbeiten Bernsteins ins Französische und lud ihn auch nach Paris in sein Centre de Sociologie Européenne ein (vgl. CCC3, S. 35). Aus dieser Pariser Zeit stammt auch der Aufsatz über sichtbare und unsichtbare Erziehungsformen (CCC3, Kap. 6). Bernstein selbst benennt in der Einleitung zu CCC4 die Verbindungen zwischen „Habitus“ und „Code“ und beschreibt seine Konzeption von „Code“ als einen Versuch die „pädagogische Grammatik der spezialisierten Habitus’ und die Form ihrer Übermittlung [niederzuschreiben], durch welche versucht wird, deren Aneignung zu regulieren.“ (CCC4, S. 3; Übers. MS/NL). Bernsteins Werk Um Bernsteins theoretische und empirische Arbeiten besser einschätzen zu können, ist es vielleicht sinnvoll, sein Werk in zwei Teile zu teilen: - in einen soziolinguistischen Korpus, in dem insbesondere die früheren Arbeiten aus der Sociological Research Unit (SRU) des Institutes of Education der Universität London zusammengefasst sind, - und in einen pädagogischen Korpus, der „später“, also mit dem Band 3 von CCC, in den Vordergrund tritt. 7 Dem soziolinguistischen Werk verdankt Bernstein seine Bekanntheit, besonders auch aufgrund der empirischen Arbeiten, die dadurch angeregt wurden. Schließlich war es das erste Mal, dass soziologische Konzepte und soziologische Methoden auf Probleme des Spracherwerbs und der familiären Sozialisation angewandt wurden. Bernstein selbst schreibt jedoch in der Einleitung zu CCC1, dass diese empirischen Anwendungen eigentlich zu früh gekommen seien. Das theoretische Werkzeug sei noch nicht weit genug entwickelt gewesen. Aber die Möglichkeit, relativ großzügige Forschungsgelder zur Verfügung zu haben, hätten ihn veranlasst, – trotz theoretischer Bedenken! – in die entsprechenden Forschungsvorhaben (Untersuchung von Sprachverhalten in Vorschulklassen) einzusteigen. Die theoretischen Arbeiten wurden parallel dazu im Rahmen seiner Lehrtätigkeit am Institute of Education der Universität London vorangetrieben. Diese fokussieren dann – im zweiten Teil seines Werkes – keine rein soziolinguistischen Themen mehr, sondern ausschließlich solche, die man dem pädagogischen Korpus zurechnen kann. Diese sind in den ersten fünf Kapiteln von CCC3 wiedergegeben. Dabei handelt es sich – in chronologischer Reihenfolge (vgl. CCC3, S. 20ff.) – um die „Quellen der Übereinstimmung und Entfremdung in der Schulerziehung“ (CCC3, Kap. 1), um das „Ritual in der schulischen Erziehung“ (CCC3, Kap. 2), um eine Auseinandersetzung mit der „offenen Gesellschaft“ („Offene Schulen – offene Gesellschaft?“, CCC3, Kap. 3), Überlegungen zum Curriculum („Über das Curriculum“, CCC3, Kap. 4) und schließlich um den dann später von Bernstein als wesentlichen Baustein in der Entwicklung der Code-Theorie eingeschätzten Aufsatz „Über Klassifikation und Rahmung pädagogisch vermittelten Wissens“ (CCC3, Kap. 5). Als Bernsteins Popularität dazu führte, dass seine disparat publizierten Papiere auch in nicht autorisierten Schwarzdrucken zu kursieren begannen, entschloss er sich, diese Überlegungen in Buchform unter dem Sammelnamen „Class, Codes and Control“ zu veröffentlichen. Dabei liefern die ersten beiden Bände „Theoretical Studies Towards a Sociology of Language“ (CCC1 1971/1973) bzw. “Applied Studies Towards a Sociology of Language“ (CCC2 1973/1975). Der dritte Band fasst die eigentlich pädagogischen Beiträge zusammen und wird unter dem Titel “Towards a Theory of Educational Transmission“ veröffentlicht (CCC3 1975/1977). In diesem dritten Band werden die wesentlichen Konzepte seiner als Übermittlung und Aneignung von Wissen angelegten kulturellen Reproduktionstheorie vorgestellt. Diese drei Bände liefern in teilweise überarbeiteter Form die schon vorher in Zeitschriften oder Sammelbänden publizierten Aufsätze.3 3 8 Diese Eigenart spiegelt sich auch noch in der Zitationsweise, die Bernstein und seine SchülerInnen verwenden. Sie beziehen sich fast immer auf die Original-Publikation des jeweiligen Aufsatzes und nicht auf seinen Wiederabdruck in CCC. Sie sprechen auch manchmal nur vom „1981 paper“ und meinen damit im konkreten Fall den Nur die Einleitungen liefern so etwas wie eine theoretische Zusammenschau der doch recht weit gestreuten Artikel. CCC4 (1990) schafft nun eine Neuformulierung und Weiterentwicklung der Konzepte in einer neuen Sprache, nennen wir sie eine diskurstheoretische, teilweise von Foucault beeinflusste Sprache, in der sich die Beziehungen zwischen der Makro- und Mikroebene präziser beschreiben lassen. Der Begriff „Diskurs“ wird auch namensgebend für diesen Band: „The Structuring of Pedagogic Discourse“. CCC5 (1996/2000) mit dem Titel „Pedagogy, Symbolic Control and Identity“ war ursprünglich nicht als Band in der Reihe Class, Codes and Control gedacht, sondern als vereinfachte und leichter lesbare Version für die Zwecke der Forschung. Er wurde erst nachträglich zum Band 5 erklärt. Tatsächlich enthält er auch Weiterentwicklungen der Konzepte besonders im Bezug auf pädagogische Fragen, die die „globalisierte Informationsgesellschaft“ aufwirft. Erfreulicherweise wurden alle fünf Bände wieder neu aufgelegt und sind damit, zumindest im englischen Original, für die interessierte Leserschaft zugänglich. Die Bände 4 und 5 stellen die Hauptquelle des vorliegenden Beitrags. Unsere Darstellung der Bernsteinschen Konzeption des pädagogischen Diskurses folgt dieser chronologischen Logik, wie sie in Bernsteins Werk abgebildet ist. Zuerst werden die restringierten und elaborierten Sprachcodes vorgestellt (Abschnitt 2), also jene Begriffe, die im deutschsprachigen Diskurs bis heute präsent sind. Fokus unserer Darstellung ist allerdings weniger die Rekonstruktion der soziolinguistischen Ansätze, sondern die theoretische Potenz dieses Konzepts zur Weiterentwicklung in Richtung einer allgemeinen Code-Theorie. Diese wird dann in Abschnitt 3 vorgestellt, um hauptsächlich in der für das Gesamtwerk wichtigsten Formulierung als „Theorie der pädagogischen Codes“ ausgearbeitet zu werden. In Abschnitt 4 wird schließlich die diskurstheoretische Formulierung der makrosoziologischen Zusammenhänge in Form des pädagogischen Dispositivs und des pädagogischen Diskurses referiert. Die allerletzte theoretische Neuerung Bernsteins, die Entwicklung einer wissenssoziologischen Diskurstheorie, wird in unserer Darstellung nicht berücksichtigt. Dies liefert die deutsche Erstübersetzung von Bernsteins Originaltext „Vertikaler und horizontaler Diskurs“ in diesem Band. In Abschnitt 5 wird ein Ausblick in Richtung Code-Analysen versucht, der erste Schritte einer auf Bernstein basierenden Forschungsmethodologie skizziert. Aufsatz „Codes, modalities, and the process of cultural reproduction: a model“, welcher in CCC 4 (1990) überarbeitet abgedruckt ist. Im Gegensatz dazu beziehen sich die Zitationen in unserem Aufsatz immer auf die in den fünf Bänden CCC abgedruckten Aufsätze, soweit dort vorhanden, da diese relativ leicht verfügbar sind. 9 2. Restringierte und elaborierte Codes – Sprache in unterschiedlichen sozialen Kontexten4 Ausgangspunkt der Bernsteinschen Überlegungen, sowohl der soziolinguistischen als auch der pädagogischen, ist die für Bernstein evidente Differenz in den schulischen Leistungen von Kindern aus der „Arbeiterschicht“ und der „Mittelschicht“ 5. Die Erklärung, warum Kinder aus sozial benachteiligten Schichten in formalen Bildungsinstitutionen unterdurchschnittlichen Erfolg haben, sucht Bernstein in den jeweiligen (sprachlichen) Kontexten, in denen Kinder aus unterschiedlichen sozialen Verhältnissen aufwachsen und die ihre Wirkung in der unterrichtlichen Performanz entfalten. Er stellt systematische Verbindungen her zwischen dem Diskurs der Sprachwissenschaft und dem Diskurs der Soziologie. Schon in dieser frühen soziolinguistischen Phase ist die Stoßrichtung seiner Forschungen und theoretischen Arbeiten klar: Die nach Schichtzugehörigkeit differierenden Schulleistungen werden im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Macht- und Klassenverhältnissen betrachtet. Während Bourdieu, der an derselben Problematik arbeitet, die konkrete Privilegierung oder Benachteiligung in der Ausstattung mit „kulturellem Kapital“ sieht und in den in den Körper eingeschriebenen Praxen (einschließlich der Sprache!), die er als klassenspezifischen Habitus bezeichnet, untersucht Bernstein in seinen frühen Arbeiten zunächst die unterschiedlichen semantischen und syntaktischen Ausprägungen der sprachlichen Äußerungen von Kindern und Jugendlichen in verschiedenen Kontexten und die Verbindung mit ihrer familiären Herkunft bzw. der sozialen Schichtzugehörigkeit. Nach einigen anderen terminologischen Versuchen (z. B. „public language use“ vs. „formal language use“) benennt er zwei sprachformal unterscheidbare Sprechweisen und deren zugrundeliegende Prinzipien und Dispositionen: den restringierten Code der Arbeiterschicht und den elaborierten Code der Mittelschicht. Elaboriert sind sprachliche Äußerungen dann, wenn sie kontextunabhängig formuliert sind, wenn sie die Bedeutungen explizit machen und wenn sie universalistisch orientiert sind. Restringiert sind sprachliche Äußerungen dann, wenn sie an die Situation gebunden bzw. kontextabhängig bleiben, wenn daher die Bedeutungen sich nur implizit erschließen und damit partikularistisch orientiert bleiben. 4 5 10 Vgl. zu den soziolinguistischen Konzepten Bernsteins auch Walzebug, in diesem Band. Bernstein verwendet in seinem gesamten Werk ziemlich konsequent nur die Begriffe working class und middle class als dichotomisierte Klassen, die die dominierenden und die dominierten Gruppen (im Feld der symbolischen Kontrolle) darstellen. Eine weitere Differenzierung der Klassenstruktur wird nur für die middle class vorgenommen (vgl. CCC3, Kap. 6; CCC4, Kap. 4; auch Power und Whitty 2002). Wir übersetzen diese, entsprechend der Übersetzung in CCC3, mit Arbeiterschicht und Mittelschicht. Diese Unterscheidung beinhaltet keine Wertung, insbesondere ist damit nicht gesagt, dass restringierte Äußerungen aus sprachlicher Sicht unvollständig oder minderwertig (also „defizitär“) sind; sie können als „ökonomische“ Kommunikationsform interpretiert werden, die mit möglichst geringen und adäquat angepassten Mitteln den Anforderungen diverser Alltagssituationen gerecht werden. Bernstein veranschaulicht die beiden Code-Varianten am Beispiel einer Bildgeschichte, die fünfjährigen Kindern – jeweils klar der Mittelschicht oder der Arbeiterschicht zuordenbar – im Rahmen eines Experiments vorgelegt wurde (vgl. CCC1, S. 283ff.; Übers. MS/NL).6 Bsp. 1: Bildgeschichte Auf insgesamt vier Bildern ist folgendes zu sehen: 1. Bild 1 zeigt einige Jungen, die Fußball spielen. 2. Auf Bild 2 fliegt der Ball in das Fenster eines nebenstehenden Hauses. 3. Bild 3 zeigt einen Mann mit drohender Gebärde, und aus einem Fenster blickt eine Frau. 4. Auf Bild 4 laufen die Kinder davon. Aufgabe der Kinder ist es, die Bildergeschichte zu erzählen. Die beiden – konstruierten! – Texte, die Bernstein ausgewählt hat, um die beiden Codes exemplarisch darzustellen, lauten folgendermaßen: 1. Drei Jungen spielen Fußball und ein Junge schießt den Ball und er fliegt durch das Fenster der Ball zertrümmert die Fensterscheibe und die Jungen schauen zu und ein Mann kommt heraus und schimpft mit ihnen weil sie die Scheibe zerbrochen haben also rennen sie fort und dann schaut diese Dame aus ihrem Fenster und sie schimpft hinter den Jungen her. 2. Sie spielen Fußball und er schießt ihn und er fliegt rein dort zertrümmert er die Scheibe und sie schauen zu und er kommt raus und schimpft mit ihnen weil sie sie zerbrochen haben deshalb rennen sie weg und dann sieht sie raus und sie schimpft hinter ihnen her. In Geschichte 1 ist der Sprachgebrauch elaboriert. Die Geschichte wird so erzählt, dass sie ohne Kenntnis des Sachkontexts, das sind die Bildtafeln, verständlich ist. Der soziale Kontext, das ist die Test-Situation mit einem erwachsenen Interviewer, veranlasst diese/n Sprecher/in, einen Text abzurufen, der einem elaborierten, also nicht kontextgebundenen Code ent- 6 Der gesamte Kontext dieser Experimente wird ausführlich in CCC2 geschildert, insbesondere in Kap. 3 u. 4; die Zusammenhänge zwischen Text und Kontext in diesen Beispielen werden ausführlich in CCC4, App. 1.5., S. 54ff., diskutiert. 11 spricht. D. h. die handelnden Personen und andere signifikante Elemente der Erzählung werden explizit gemacht. Die Erzählung des/der zweiten Sprecher/in bleibt in ihren sprachlichen Realisierungen implizit. Diese Erzählung setzt die Kenntnis sowohl des SachKontexts, als auch des sozialen Kontexts voraus. In Bernsteins Sprache heißt das: Der zweite Text bleibt in seinen sprachlichen Äußerungen kontextgebunden, oder: Der Text entspricht einem restringierten Code. Worauf es Bernstein hier ankommt ist, dass bei objektiv gleichem Kontext bzw. gleichen (Sach- und Sozial-)Kontexten unterschiedliche sprachliche Realisierungen evident werden. Grundlage dieser unterschiedlichen Realisierungen ist offensichtlich eine unterschiedliche Interpretation der Aufgabenstellung: Das eine Kind liefert eine Erzählung, die bestimmten „Geboten“ folgt, die allerdings in der Aufgabenstellung nicht explizit gemacht wurden. Das andere Kind liefert eine Erzählung, die der formulierten Aufgabe und ihrer kontextuellen Verankerung sehr wohl Genüge leistet, aber einer ökonomischen Logik folgt in dem Sinne, dass es nichts „darüber hinaus“ bietet. Noch deutlicher werden die unterschiedlichen Herangehensweisen in Beispiel 2 (vgl. CCC4, S. 18ff.; CCC5, S. 18ff.; Übers. MS/NL): 7 Bsp. 2: Lebensmittel sortieren Achtjährigen Kindern, wiederum klar der Mittelschicht und der Arbeiterschicht zuordenbar, wurden insgesamt 24 Bildkarten mit unterschiedlichen Nahrungsmitteln vorgelegt. Nachdem sich der/die Versuchsleiter/in versichert hatte, dass alle Nahrungsmittel erkannt wurden, wurde folgende Aufforderung an das jeweilige Kind gerichtet: „Glaubst du, du könntest diese hier nach Gruppen zusammenlegen? Mach es wie du willst. Lege einfach die zusammen, die zusammenpassen könnten. Du brauchst nicht alle benutzen, wenn du nicht willst.“ Als Ergebnis stellt Bernstein zwei grundsätzlich unterschiedliche Herangehensweisen fest: Die erste Herangehensweise nimmt Bezug auf den realen Lebenskontext bzw. auf den Alltag der Kinder. Die Kinder formulieren Texte wie: Das gibt’s bei uns zum Frühstück; haben wir am Sonntag gegessen; das koche ich für Mami; das mag ich nicht. Die zweite Herangehensweise nimmt Bezug auf gemeinsame Merkmale der Nahrungsmittel. Mögliche Antworten sind dann: Das ist Gemüse, das kommt aus dem Meer, o. ä. 7 12 Die Original-Untersuchung stammt von Holland (1981). Das Beispiel wird von Bernstein dargestellt in: CCC3, S. 263ff.; CCC 4, S. 8f.; CCC5, S. 18ff. Dabei zeigte sich, dass sich Arbeiterschichtkinder eher für die erste Herangehensweise entschieden und Mittelschichtkinder eher für die zweite Herangehensweise. Hier ist der Unterschied zwischen den realisierten Texten noch viel deutlicher als in Beispiel 1. Es zeigen sich ebenfalls bei gleich bleibendem Sachund Sozialkontext zwei grundsätzlich unterschiedliche Herangehensweisen, die einer jeweils anderen „Logik“, einer anderen Motivation bzw. einem anderen Prinzip folgen – und so für ein unterschiedliches Verständnis der Aufgabenstellung sorgen. Dieses Prinzip muss also außerhalb des Kontextes der Aufgabenstellung liegen, und Bernstein sieht dieses Prinzip in den gesellschaftlichen Klassenverhältnissen und den damit generierten unterschiedlichen Lebensverhältnissen (s. w. u.) aufgehoben. Er präzisiert jetzt das Konzept, das vorher noch von sprachlichen Realisierungen gesprochen hat, die über den Kontext hinausweisen (kontextunabhängig) oder im Kontext verhaftet (kontextabhängig) bleiben, und unterstellt im Falle der ersten Herangehensweise ein Prinzip, das eine direkte Beziehung zu einer materiellen Basis (lokaler Kontext, lokale Erfahrungen) hat, während die zweite Herangehensweise nur auf eine indirekte solche Beziehung verweist bzw. sich auf ein Prinzip bezieht, das eine indirekte Beziehung zu einer materiellen Basis hat. Wörtlich schreibt Bernstein: „One classification8 refers to a principle which had a direct relation to a specific material base. The reason is embedded in a local context, in a local experience. The other type of reason references an indirect relation to a specific material base. In sociological terms we are looking at a selection of classifying principlies, each of which has a different relation to a material base.” (CCC5, S. 19) Diese Unterscheidung zwischen einer direkten und einer indirekten Beziehung zu einer materiellen Basis wird später, in der endgültigen Fassung der Code-Theorie, zum definierenden Element für restringierte Bedeutungsorientierungen (mit direkter Beziehung zu einer materiellen Basis) und elaborierte Bedeutungsorientierungen (mit indirekter Beziehung zu einer materiellen Basis). Der Begriff der Bedeutungsorientierung erscheint zunächst als Verallgemeinerung der zuvor (vgl. Bsp. 1) betrachteten sprachlichen (Bedeutungs-)Realisierung, tatsächlich liefert er jedoch ein ursächliches Prinzip, einen der Situation vor- bzw. übergeordneten Begründungszusammenhang, der sich in der Interaktion realisiert. 8 Der Begriff „Klassifikation“ wird in Abschnitt 3 ausführlich erläutert. 13 Forts. Bsp. 2: Lebensmittel sortieren Nach der ersten Erledigung der Aufgabe wurden die Kinder gebeten, eine weitere Ordnung zu überlegen: Vielleicht könne man die Bilder auch anders ordnen. Diesmal verwendete auch ein signifikanter Anteil der Mittelschichtkinder die erste („lokale“) Herangehensweise. Die Arbeiterschichtkinder blieben im Wesentlichen bei der ersten Herangehensweise. Immerhin ein Drittel der Arbeiterschichtkinder wechselte auf die zweite („universale“) Herangehensweise (vgl. CCC4, S. 19). Noch etwas weiteres zeigt Bernstein also mit diesem Beispiel: Der Großteil der Mittelschichtkinder verfügt offensichtlich über zwei Herangehensweisen, ebenso eine Minderheit der Arbeiterschichtkinder. Im Gegensatz zu diesen Arbeiterschichtkindern verfügen die Mittelschichtkinder aber zusätzlich über eine Art „Prioritätsregel“. Sie interpretieren die Aufgabenstellung sozusagen über die expliziten Formulierungen hinaus und rufen die entsprechenden Realisierungen ab, während Arbeiterschichtkinder zuerst einmal Realisierungen abrufen, die ihnen aus einem lokalen Kontext geläufig sind. Sie erkennen die Aufgabenstellung nicht als eine solche, die den elaborierten Code erfordern könnte. Eine Quelle der Benachteiligung der Arbeiterschichtkinder in formalen Bildungsinstitutionen kann in diesem Beispiel – und mit dem begrifflichen Instrumentarium, das bis hierher dargestellt wurde – folgendermaßen beschrieben werden: Der formale Kontext des Experiments, der scheinbar ganz neutral und offen gestaltet ist (Ordne die Bilder, wie du willst), veranlasst Mittelschichtkinder, einen elaborierten Text zu realisieren, der Formen der Abstraktion (im Sinne einer indirekten Beziehung zur materiellen Basis) verwendet. Mittelschichtkinder verfügen zudem über mehrere mögliche Herangehensweisen. Arbeiterschichtkinder dagegen haben ein weniger großes Repertoire, greifen im Falle vermeintlich „offener“ Aufgabenstellungen eher auf einen vertrauten lokalen Kontext zurück und stellen in diesem Sinne eine direkte Beziehung zu einer spezifischen materiellen Basis, eben zu ihrer alltäglichen Erfahrung, her. Eine Benachteiligung im Hinblick auf ihre Performanz – und damit letztendlich auf ihren Erfolg – in formalen Bildungsinstitutionen erfolgt dann, wenn die formale Bildungsinstitution – scheinbar! – (Aufgabenstellung „neutral und offen“) beide Herangehensweisen zulässt, implizit jedoch elaborierte Realisierungen wünscht und erfordert (und positiv evaluiert). Der soziologische Hintergrund Unterschiedliche Codes sind für Bernstein also mehr bzw. von anderer Qualität als formal unterscheidbare Sprachvarietäten (z. B. Dialekte): Codes werden im Hinblick auf ihre semantischen Eigenschaften unterschieden, nicht im Hinblick auf sprachformale Aspekte. Zudem stehen außersprachli- 14 che Faktoren, die mit Codes korrelieren (Schichtspezifität, Klassenzugehörigkeit), mit diesen in kausalem bzw. ursächlichem Verhältnis. Bernstein bezeichnet seine beiden Code-Varianten als „Realisierungen unterschiedlicher Sozialstrukturen“ (CCC1, S. 205), also als notwendig aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Verhältnissen erwachsende unterschiedliche Sprechweisen. Die Grundlage für Bernsteins Modellierung dieses Zusammenhangs liefert Durkheims Theorie der „sozialen Arbeitsteilung“ (1930/1977) mit seiner Unterscheidung mechanisch und organisch integrierter Gesellschaften. Die mechanische Solidarität kennzeichnet demnach vor allem traditionelle, wenig gegliederte Gesellschaften, in denen das Institutionale und Gemeinschaftliche überwiegt und die Bedeutung der Individuen gegenüber dem Kollektiven zurücktritt. Das Verständnis und die Interpretation von Situationen sind im Wesentlichen durch den Bezug auf allgemeine, geteilte Glaubenshaltungen (Überzeugungen, Werte, Bräuche, Sitten) vorstrukturiert (vgl. CCC3, S. 103ff.). „Arbeit“ (im Sinne von Produktion und Herstellung) repräsentiert hier eine relativ direkte Auseinandersetzung mit der materiellen Basis in spezifischen lokalen Kontexten. Die organische Solidarität einer modernen, arbeitsteiligen Gesellschaft begründet sich dagegen durch die – mehr oder weniger reflektierte – Abhängigkeit in einem System funktionaler Differenzierung. Hier sind gerade die Unterschiede und die Spezialisierungen der Individuen von zentraler Bedeutung. Eine organisch integrierte Gemeinschaft teilt weniger Überzeugungen und Bedeutungen, die Notwendigkeit von „indirekten“, vom Kontext unabhängigen Bedeutungen für eine funktionierende Kommunikation steigt (vgl. a. a. O.). Für Bernstein entsteht nun der restringierte Code in einer Sozialstruktur, die mechanisch integriert, bzw. in einer sozialen Schicht, die wesentlich im Bereich „Produktion und Herstellung“ tätig ist und mit einer unmittelbaren bzw. engeren Verbindung zur materiellen Basis assoziiert wird. Hieraus resultieren die semantischen Merkmale des restringierten Codes: Kontextbezogenheit und Ökonomie der Kommunikation. Der elaborierte Code verweist dagegen auf die Mittel- und Oberklasse einer stark arbeitsteilig organisierten Sozialstruktur: Hier muss Sprache vollständiger und genauer sein, da Verständnis – beispielsweise im Sinne gemeinsamen Vorwissens, wie es für die mechanische Solidarität kennzeichnend ist – nicht vorausgesetzt werden kann, sondern erst geschaffen werden muss (vgl. CCC1, Kap. 8). Bernstein zeigt hier, auf welche recht unorthodoxe Art er mit Bausteinen anderer Theorien Zusammenhänge und Beziehungen modelliert. Während nämlich Durkheim seine Unterscheidung als Wesensmerkmale unterschiedlicher Gesellschaftsformen ansieht und dabei nach dem Grad der Arbeitstei15 lung zwischen niedrigeren und höheren Gesellschaften unterscheidet, verortet Bernstein diese beiden Formen in ein und derselben Gesellschaft, nämlich der kapitalistischen, jedoch als Kennzeichen unterschiedlicher Sozialschichten: der Arbeiter- und der Mittelschicht (vgl. CCC5, S. 89). 3. Pädagogische Codes: Klassifikation und Rahmung In der Theorieentwicklung Bernsteins verschiebt sich nun der Fokus vom schichtspezifischen Sprachgebrauch und der entsprechenden Auswirkung auf die Sozialisation von SchülerInnen hin zur Ebene der Schule, ihren institutionellen Strukturen und interaktionalen Praktiken und den darin verankerten Privilegierungs- bzw. Benachteiligungsmechanismen. Eine wesentliche Markierung dieser Verschiebung liefert der Aufsatz „Über Klassifikation und Rahmung pädagogisch vermittelten Wissens“ (1971, CCC3, Kap. 5)9. Dieser Aufsatz beginnt mit folgenden Sätzen: „In der Art, wie eine Gesellschaft das Bildungswissen, das sie für öffentlich bedeutsam hält, auswählt, klassifiziert, verteilt, vermittelt10 und bewertet, spiegeln sich sowohl die Machtverteilungen als auch die Prinzipien der Kontrolle. Angesichts dieser Tatsache sollten Unterschiede und Wandlungen in der Organisation, Übermittlung und Bewertung des pädagogisch vermittelten Wissens zu den Hauptbereichen des soziologischen Interesses gehören.“ (a. a. O., S. 125) Damit ist das Forschungsprogramm klar umrissen: Bernsteins Thema sind nun die formalen, offiziellen, schulischen pädagogischen Prozesse, die darin ablaufenden diskursiven Praktiken sowie deren zugrundeliegende Konstruktionsregeln, die soziale Macht- und Kontrollstrukturen in Kommunikation übersetzen und auf unterschiedliche Weise ihre Reproduktion (und mögliche Veränderung) vorantreiben. Bernstein operationalisiert dieses Forschungsprogramm in folgenden drei Fragen (Einleitung zum Code-Kapitel in CCC5, Kap. 1): 9 Der Aufsatz ist von Bernstein – konsequenter Weise! – zwei Mal in CCC abgedruckt: das erste Mal im Band 1, und zwar am Schluss, sozusagen als Ausblick auf eine neue theoretische Perspektive; und das zweite Mal im Band 3, der der „educational transmission“ gewidmet ist. Hier an der chronologisch begründeten fünften Stelle. Damit gibt es den eher seltenen Fall, dass im Deutschen zwei Übersetzungen vorliegen. In unserem Beitrag wird ausnahmslos die zweite Übersetzung verwendet. 10 Hier ergibt sich das Problem, dass Wiggershaus bei der deutschen Übersetzung von CCC3 leider nicht konsequent blieb und „transmission“ bzw. „transmit“ einmal mit „Vermittlung“, dann wieder „Übermittlung“ übersetzt hat. Wir verwenden in unserem Beitrag konsequent „Übermittlung“ und „übermitteln“, übernehmen jedoch die Wiggershaus-Übersetzung wörtlich. Zur unterschiedlichen Bedeutung der beiden Begriffe „Übermittlung“ und „Vermittlung“ s. Einleitung, S. XY. 16 „- First, how does a dominating distribution of power and principles of control generate, distribute, reproduce and legitimise dominating and dominated principles of communication? - Second, how does such a distribution of principles of communication regulate relations within and between social groups? - Third, how do these principles of communication produce a distribution of forms of pedagogic consciousness?” (a. a. O., S. 4) Bernsteins Ausarbeitung der „Theorie pädagogischer Codes“, welche den Begriff der „Codes“ zu einem komplexen theoretischen Konzept erweitert, liefert nun Antwortversuche auf diese Fragen, indem sie die makrostrukturelle Ebene, die Ebene der Übermittlung und die Ebene der Aneignung integriert. Auf der Makroebene unterscheidet Bernstein Macht und Kontrolle, die auf der Mikroebene der pädagogischen Prozesse in Prozesse der Übermittlung und Aneignung übersetzt werden. (s. Abb. 1). Abb.1: Bernsteins Modell pädagogischer Prozesse Der eigentliche Code, als regulatives Prinzip auf der Ebene der Übermittlung, übersetzt Macht und Kontrolle in Klassifikation und Rahmung. Die Modalitäten von Klassifikation und Rahmung regulieren die pädagogische 17 Interaktion. Ihre Entsprechung auf der Ebene der Aneignung liefern die Erkennungs- und Realisierungsregeln. Im Folgenden werden die einzelnen Elemente und Spezifizierungen des Code-Modells systematisch vorgestellt und an Beispielen illustriert. Der Charakter pädagogischer Prozesse Pädagogische Prozesse sind für Bernstein allgemein Prozesse der Übermittlung und Aneignung von Wissen und symbolischen Ordnungen. Pädagogische Praxis wird als fundamentaler sozialer Kontext betrachtet, in dem sich vielfältige Übermittlungs-/Aneignungsprozesse bzw. Formen der kulturellen Reproduktion vollziehen. Mit diesem Verständnis pädagogischer Situationen geht Bernstein über den reinen Schulkontext hinaus: Auch das Verhältnis Arzt/Patient, Psychiater/psychisch Erkrankter, aber natürlich auch Mutter/Kind fallen unter den Begriff (vgl. CCC5, S. 3f.). In allen pädagogischen Prozessen treten konkrete Übermittler (Transmitter) und Aneigner (Acquirer) auf. Zwischen diesen herrscht eine nicht hintergehbare Hierarchie. Macht und Kontrolle Auf der Makroebene betrachtet Bernstein Macht (power) und Kontrolle bzw. Steuerung (control)11 – bzw. Macht- und Kontrollstrukturen in Form von Machtverteilungen und Prinzipien der Kontrolle – als die grundsätzlichen gesellschaftlich herrschenden Kräfte, die de facto ineinander verwoben sind, deren analytische Trennung allerdings fundamental für das Verständnis seiner Arbeiten ist: „Power and control are analytically distinguished and operate at different levels of analysis. Empirically, we shall find that they are embedded in each other.“ (CCC5, S. 5) (Soziale) Machtbeziehungen sind verantwortlich für die Trennung von „Dingen“, das heißt, Machtbeziehungen schaffen Grenzen, sie legitimieren Grenzen und reproduzieren Grenzen zwischen verschiedenen Kategorien (Gruppen, Geschlechtern, Klassen, Ethnien, Diskursen usw.). Bernsteins Konzept Macht lässt sich also quasi als Zäsur oder Interpunktion im sozialen Raum verstehen. Macht schafft legitime Ordnungsbeziehungen zwischen Kategorien und Diskursen und hält diese aufrecht. Macht operiert daher nicht innerhalb von Kategorien oder Diskursen sondern immer auf den Beziehungen dazwischen (relations between). 11 Hier ist zur Übersetzung anzumerken, dass das englische Wort control eigentlich mehr dem deutschen Wort „steuern“ entspricht. Im Deutschen wird „Kontrolle“ eher mit dem Ergebnis oder dem Endpunkt eines Steuerungsvorgangs konnotiert; im Englischen ist immer der Vorgang der Steuerung mitgemeint. Der Einfachheit halber, und weil auch Wiggershaus in der zweifellos gelungenen Übersetzung von CCC3 diesen Begriff verwendet, bleiben wir beim Begriff Kontrolle. 18 Das Konzept Kontrolle operiert dagegen innerhalb von Kategorien (relations within): Kontrolle schafft legitime Kommunikationsformen, die den jeweiligen Kategorien und Diskursen „angemessen“ sind. Kontrolle transportiert damit die Beziehungen zwischen den Kategorien in das Innere dieser Kategorien. Sie ist sozusagen ein Vehikel der durch Macht etablierten Beziehungen zwischen den Grenzen von Kategorien und sozialisiert Individuen innerhalb von Kategorien in diese Relationen hinein. Kurz: „Power constructs relations between and control constructs relations within given forms of interaction.“ (a. a. O., S. 5) Für die Übersetzung von Macht und Machtrelationen sowie für Kontrolle und Kontrollstrukturen auf die Ebene der Interaktion verwendet Bernstein die Begriffe Klassifikation (K) und Rahmung (R) (s. w. u.). Diese beiden Begriffe werden mit mehreren Metaphern charakterisiert, um ihre jeweils unterschiedliche Wirkungsweise auf die Interaktion zu verdeutlichen. Einmal wird die Metapher des Was und des Wie angeboten: „Classification refers to what, framing is concerned with how meanings are to be put together, the forms by which they are to be made public, and the nature of the social relationships that go with it.“ (a. a. O., S. 12) Als eine andere Metapher nutzt Bernstein das Bild von Stimme und Botschaft: “If the principle of classification provides us with our voice and the means of its recognition, then the principle of framing is the means of acquiring the legitimate message. Thus, classification establishes voice, and framing establishes the message.” (a. a. O., S. 12; Hv. MS/NL) In der Klassifikation ist also die inhaltliche Dimension aufgehoben. Es geht um das Was. In der Rahmung werden die Prozeduren und Praktiken konkretisiert, mit denen „gearbeitet“ wird, die Rahmung beschreibt das Wie. Die Metapher von Stimme und Botschaft soll ein Verständnis dafür bringen, wie die Übersetzung von Macht und Kontrolle auf der Ebene der Aneignung funktioniert. Zum Verständnis bietet sich das folgende Bild einer Radioübertragung an: Stimme steht für die Wellenlänge, die man einstellen muss, um das Programm (= Botschaft) überhaupt empfangen (und verstehen) zu können. 19 Klassifikation Klassifikation12 übersetzt das Konzept Macht auf die Ebene der Interaktion. Dabei verwendet Bernstein den Begriff Klassifikation, abweichend vom allgemeinen Sprachgebrauch, der nach dem gemeinsamen Merkmal aller Elemente einer Kategorie klassifiziert. Er versteht Klassifikation im Sinne eines Grenzziehungsprinzips. Um die „Stimme“ einer Kategorie, eines Diskurses, einer sozialen Gruppe usw. sicht- bzw. hörbar zu machen, bedarf es einer Abgrenzung von anderen Kategorien, Diskursen, sozialen Gruppen usw. Der dadurch entstehende „leere Raum“ zwischen den Kategorien, Diskursen, sozialen Gruppen usw. ist der Ort, wo die Macht agiert. Je deutlicher die Macht agiert, je stärker die Abgrenzung ausgeprägt ist, desto deutlicher ist die Stimme erkennbar. Je weniger deutlich die Abgrenzung ausgeprägt ist, desto weniger deutlich ist die Stimme erkennbar. Der Grad der Abgrenzung zwischen den Kategorien wird der Wert oder die Stärke der Klassifikation genannt, man unterscheidet zwischen starker (+K) und schwacher (-K) Klassifikation. Eine starke Klassifikation bedeutet, dass Grenzen zwischen den Kategorien explizit dargestellt werden. Eine schwache Klassifikation lässt Grenzen einer Kategorie „offen“ – sie sind dann implizit dargestellt, bzw. sie verschwimmen. Bezogen auf Schule gibt es einige grundlegende, in der Regel starke Klassifikationen. Das ist einmal die Trennung zwischen „Familie” und „Schule”, oder allgemeiner, die Trennung von lokalen und offiziellen Kontexten. Innerhalb der Schule kann die Analyse auf die interdiskursive Klassifikation eingehen, das ist die Trennung der Schulfächer, und innerhalb der Schulfächer auf die intradiskursive Klassifikation; das sind die Fachgebiete innerhalb eines Faches, z. B. die Unterscheidung zwischen Grammatik, Rechtschreibung, Literatur usw. im Fach Deutsch (vgl. Morais 2004). Bernstein unterscheidet zwischen interner und externer Klassifikation (CCC5, S. 14). Da es um Abgrenzung geht, hat Klassifikation immer einen externen Wert, aber sie kann auch interne Werte annehmen: Bernstein nennt als Beispiele die Klassifikationen der Kleidung, der (Rang)ordnung, des Klassenraums, der spezialisierte Funktionen aufweisen kann (Computer-Ecke, Spiel-Ecke, …). Auch in Bezug auf das Individuum können solche Abgrenzungen zwei Funktionen haben: Eine – in Bezug auf das Individuum – externe Funktion, indem sie Beziehungen zwischen Individuen regeln: Hier haben sie mit so12 Anmerkung zur Übersetzung: Ähnlich wie bei control (vgl. FN 11) bezeichnet das englische „classification“ sowohl den Prozess der Klassifizierung als auch das Ergebnis: die Klassifikation. Mit Bernstein ist natürlich eher die Klassifizierung, also der Prozess der kategorialen Abgrenzung oder die inhaltliche Steuerung mittels Abgrenzung gemeint. Der Begriff „Klassifikation“ hat sich aber in der deutschsprachigen Rezeption bereits etabliert. 20 zialer Ordnung zu tun. Andrerseits regeln sie auch die Beziehungen „innerhalb“ des Individuums. Das Klassifikationsprinzip schafft so nach außen „Ordnung“, unterdrückt dabei aber die Widersprüche, Kluften und Dilemmata, die diesem Prozess notwendigerweise innewohnen. Rahmung Das Prinzip der Kontrolle oder der Steuerung wird in der pädagogischen Interaktion als Rahmung modelliert: Rahmung findet innerhalb von Kategorien, Kontexten oder Diskursen statt und bezieht sich auf die Kontrolle (Steuerung) der Kommunikation in den interaktionalen pädagogischen Beziehungen. Konkret lassen sich in der Rahmung folgende Elemente der (Kommunikations-)Praxis unterscheiden, die zu steuern ihre Aufgabe ist. Rahmung beschreibt also, wer was kontrolliert: - - die Auswahl (der Inhalte und der kommunikativen Form) die Reihenfolge (was kommt zuerst, was kommt dann) das Lerntempo (pacing)13 bzw. die erwartete Aneignungsleistung (rate of expected acquisition; das Pensum) die Kriterien (die Explizierung der charakteristischen Merkmale des Kontexts, der erwarteten Kenntnisse und Verhaltensweisen bzw. des legitimen Textes14) die Kontrolle über die soziale Basis bzw. über die Regeln der sozialen Ordnung (vgl. CCC5, S. 12f.; Hv. MS/NL) Wo die Rahmung stark ist (+R) hat der Übermittler explizite Kontrolle über die Elemente der Kommunikationspraxis. Die (nicht hintergehbare) Hierarchie wird explizit gemacht. Wo die Rahmung schwach ist (-R), hat der Aneigner (scheinbar) ein kontrollierendes Mitspracherecht. Die Hierarchie wird maskiert. Sie ist implizit formuliert. Dabei können die insgesamt fünf Dimensionen der Rahmung unabhängig voneinander unterschiedlich starke Werte annehmen. Als Beispiel nennt Bernstein ein schwach gerahmtes Lerntempo, also individuell von den Schülern selbst gewählte Lerngeschwindigkeiten, bei gleichzeitig starker Rahmung der anderen Aspekte. (vgl. a. a. O., S. 13) Das hieße, dass die Thematik, die Inhalte und Kommunikationsformen vom Lehrer vorgegeben sind (z. B. in Form von Arbeitsblättern). 13 Straehler-Pohl übersetzt pacing in diesem Band mit Taktung. 14 „Text“ wird von Bernstein folgendermaßen definiert: „anything which attracts evaluation, and this can be no more than a slight movement“ (CCC5, S. 18). In Kap. 5 von Band 4 schreibt er, „that we are here using ‚text’ both in a literal and in an extended sense. It can refer to the dominant curriculum, dominant pedagogic practice, but also to any pedagogic representation, spoken, written, visual, postural, sartorial, spatial.“ (CCC4, S. 175) 21 Bernstein unterscheidet auch zwischen interner und externer Rahmung. Ein Beispiel für schwache externe Rahmung (Auswahl der Inhalte) liefert ein Deutschunterricht, der die Diskursformen oder Kontexte „mischt“. In der Diskussion zu einem literarischen Werk würden dann beispielsweise lebensweltliche (lokale) Aussagen mit losem Bezug zur literarischen Vorlage und offiziellen Aussagen, die sich sehr konkret auf die literarischen Personen und die Textform beziehen, mit gleichem Gewicht zugelassen. Der Unterschied zwischen offiziellen und lokalen Diskursformen würde am Aspekt der Auswahl der Inhalte und der kommunikativen Form nicht explizit gemacht. Instruktionaler und regulativer Diskurs Weiteres empirisches Potenzial erhält das Rahmungskonzept mit der Unterscheidung zwischen instruktionalem Diskurs und regulativem Diskurs. (s. dazu w. u. Abschnitt 4). Mit dem instruktionalen Diskurs ist die inhaltliche Ordnung angesprochen, die die Elemente Auswahl, Reihenfolge, Lerntempo und Kriterien umfasst. Bezogen auf die Schule kann man unter dem instruktionalen Diskurs etwas verstehen, was man im (deutschen) Fachjargon als „Didaktik und Methodik“ bezeichnet, welche allerdings die sozialen Machtverhältnisse in der kommunikativen Praxis ausblendet. Demnach lassen sich dem instruktionalen Diskurs folgende didaktisch-methodische Elemente zuordnen: - Auswahl der Inhalte (Curriculum/Lehrplan) Definition der Lehr-/Lernziele (Intendiertes Curriculum/Unterrichtsplan) Reihenfolge (Sequenzierung des Stoffs; insbesondere auch die curriculare Lernzieldefinition pro Schulstufe) Zeitbudget (Wie viel Zeit wird zur Verfügung gestellt? Erwartete Aneignungsleistung, „Pensum“) Methodisch-organisatorisches Setting (z. B. „Sozialform“, Methode – Frontalunterricht, kooperatives Arbeiten, Individualisiertes Arbeiten) Evaluationskriterien (Erwartungshorizont, Leistungsbewertung und -rückmeldung) Mit dem regulativen Diskurs werden die Regeln der sozialen Ordnung (Kontrolle über die soziale Basis) formuliert, also die Umgangsformen, der „classroom discourse“, die „Klassenordnung“ u. ä. In den Regeln der sozialen Ordnung wird der hierarchische Charakter der Rahmung besonders deutlich. Morais und KollegInnen bleiben deshalb bei der Begrifflichkeit früherer Fassungen der Theorie und sprechen von Hierarchie-Regeln (vgl. CCC3, Kap. 6; CCC4, Kap. 2). 22 Sichtbare und unsichtbare pädagogische Praktiken Bernstein unterscheidet zwei gegensätzlich codierte Typen der pädagogischen Praxis: den sichtbaren und den unsichtbaren (vgl. CCC5, S. 14). „In general, where framing is strong, we shall have a visible pedagogic practice. Here the rules of instructional und regulative discourse are explicit. Where framing is weak, we are likely to have an invisible pedagogic practice. Here the rules of regulative and instructional discourse are implicit, and largely unknown to the acquirer.” (a. a. O.) In seiner frühen Arbeit zu den Formen des Unterrichts (CCC3, Kap. 5) werden diese beiden Typen als der Sammlungscode der traditionellen Schule, die sich durch klare Grenzen, z. B. zwischen den Schulfächern, und klar (explizit) formulierte Anforderungen auszeichnet (+K+R) und als integrierter Code der „progressiven“ Formen der Erziehung und des Unterrichts bezeichnet, wie sie beispielsweise im fächerübergreifenden oder Projektunterricht vorliegen (-K-R). In späteren Arbeiten (CCC4, Kap. 2; CCC5, Kap. 3) variiert er das Thema und weitet es auf andere Anwendungsgebiete aus (vgl. Sertl 2007, 2009a). Den soziologischen Hintergrund bzw. die „class assumptions“ für diese beiden Typen sieht Bernstein in unterschiedlichen Fraktionen der Mittelschichten (vgl. dazu Sadovnik 1995; vgl. Abschnitt 2) Er unterscheidet Gruppierungen innerhalb der Mittelschicht, die direkt mit der materiellen Produktion verbunden sind, und Gruppierungen, die in den Agenturen der symbolischen Kontrolle tätig sind. Erstere bevorzugen in ihren Erziehungspraktiken positionale oder individualisierte Identitätsbildungen, d. i. die Sozialisation in vorgegebene Rollen. Letztere bevorzugen in ihren Erziehungspraktiken personalisierte Identitätsbildungen, die auf der Betonung der individuellen Unterschiede und Eigenarten beruhen und sich in Spontaneität und Kreativität ausdrücken (vgl. CCC3, Einleitung, Kap. 6). Auf die Frage, welche Auswirkungen die beiden Typen schulischer Pädagogik auf die schulischen Leistungen der Kinder aus den unteren Schichten haben, betont Bernstein den elitistischen und selektiven Charakter der sichtbaren Pädagogik und das Problem der mangelnden Klarheit der unsichtbaren Pädagogik. Der selektive Charakter der sichtbaren Pädagogik hängt mit dem Diktat der beschränkten Mittel zusammen, unter dem ein öffentlich finanziertes Schulwesen steht. Dieser ökonomische Zwang wird übersetzt in eine starke Rahmung der sequencing and pacing rules. D. h. für die Erreichung der Lehr-/Lernziele wird ein klar beschränktes Ausmaß an Zeit zur Verfügung gestellt. Zur Unterstützung werden alle Schritte durch entsprechende Beispiele, Illustrationen, Geschichten u. ä. explizit gemacht. Diese für Kinder aus den unteren Schichten grundsätzlich günstige Vorgangsweise wird allerdings durch die zeitliche Beschränkung – unter den Bedingungen eines grundsätzlich akademischen Curriculums – konterka23 riert. Sichtbare Erziehungsformen im Rahmen eines mit knappen Ressourcen ausgestatteten öffentlichen Bildungswesens rechnen mit der Unterstützung durch die Familie („the second site of acquisition“, vgl. CCC4, S. 78). Beide Typen, sichtbare und unsichtbare, sind grundsätzlich nicht darauf angelegt, die Interessen der Arbeiterschichtkinder zu befördern. Allerdings sind im Rahmen beider Pädagogik-Typen Modalitäten denkbar und möglich, die sehr wohl die Interessen der Arbeiterschicht-Kinder berücksichtigen. Bernstein spricht in diesem Zusammenhang von radikalen pädagogischen Praktiken; radikal in dem Sinne, dass derartige Pädagogik-Entwürfe nicht das einzelne Kind fokussieren, sondern die Beziehungen zwischen sozialen Gruppen, also die Klassenbeziehungen (im marxistischen Sinn) (vgl. CCC4, S. 72f.). Ein Beispiel für eine radikale unsichtbare Pädagogik stellt Freires Befreiungspädagogik dar. Ein Beispiel für eine radikale sichtbare Pädagogik liefert Bourne (in diesem Band). Im Gegensatz dazu sprechen Morais u. a. (z. B. in diesem Band) von gemischten Pädagogiken zur Beförderung der Interessen der Arbeiterschicht-Kinder, die sichtbare und unsichtbare Praktiken mischen. Bernstein selbst weist auf die Möglichkeit derartiger gemischter Modalitäten hin. Er hält fest, dass reine unsichtbare Pädagogiken in der Schule eher selten vorkommen. Sehr wohl verbreitet sind allerdings gemischte Praktiken, beiden denen die sichtbare gegenüber der unsichtbaren Modalität dominiert (vgl. CCC4, Kap. 2, S. 84). Übermittlung und Aneignung: Erkennungs- und Realisierungsregeln Nach Bernstein werden mittels Klassifikation die Grenzen der Diskurse und mittels Rahmung die Regeln zur Realisierung des in den jeweiligen Kategorien legitimen Diskurses übertragen. Auf der Ebene des Aneigners sind also für „angemessenes“ Verhalten sowohl die Kenntnis der Diskursgrenzen nötig, um die „Stimme“ des Diskurses zu hören, als auch die Verfügung über die kommunikativen Mittel, um die „Botschaft“ zu verstehen und den legitimen Text zu produzieren. Diese Konzepte, die die externen Macht- und Kontrollstrukturen auf die Ebene des (aneignenden) Individuums übersetzen, nennt Bernstein Erkennen und Realisieren (vgl. CCC5, S. 16ff. u. 104ff.). Der Aneigner hat bestimme Erkennungs- und Realisierungsregeln (Recognition und Realisation Rules) abzurufen. Beispielsweise werden manche Schulanfänger noch nicht wissen, was genau in der Schule von ihnen erwartet wird. Anders formuliert, kennen sie noch nicht die speziellen Charakteristika, die den Kontext „Schule“ bzw. „Unterricht“ ausmachen. Diese Unkenntnis – in Bernsteins Terminologie die fehlende Erkennungsregel – kann bei einigen Kindern zu unangemessenem Verhalten bzw. zu Irritationen führen. Andere SchülerInnen dagegen sind möglicherweise diesbezüglich sehr reflektiert und sehr gut auf die Unterschiede zwischen ihrem häuslichem und dem schulischen Kontext vorbe24 reitet. Die entsprechende Erkennungsregel wird also auf der Grundlage der Klassifikation zwischen „Familie“ und „Schule“ gebildet. Eine starke externe Klassifikation zwischen Schule und Familie liefert starke Signale, dass die Verhaltensregeln in der Schule anders sind als die zu Hause. Die entsprechende Erkennungsregel lautet: Hier muss ich mich anders benehmen als zu Hause. Eine schwache externe Klassifikation wäre z. B. daran zu erkennen, dass der Klassenraum eher „häuslich“ eingerichtet ist und wenig Hinweise gibt, dass sich die Kommunikation in diesem Raum von der Kommunikation mit der Mutter oder mit den Geschwistern zu Hause unterscheidet. Die entsprechende Erkennungsregel lautet: Du kannst dich hier benehmen wie zu Hause. Diese Erkennungsregel verfehlt aber den offiziellen und grundsätzlich spezialisierten Kontext der Schule. Eine solche Erkennungsregel kann unter Umständen eine restringierte Orientierung in Bezug auf die relevanten Bedeutungen annehmen, d. h. es werden Regeln abgerufen, die eine direkte Beziehung zu einer lokalen sozialen Praxis suchen, also einen restringierten Code repräsentieren. Das heißt: Das Klassifikationsprinzip aktiviert auf der individuellen Ebene Regeln zum Erkennen der relevanten Bedeutungen. Eine Veränderung der Stärke der Klassifikation hat Auswirkungen auf die Erkennungsregeln. Die relevanten Bedeutungen des Diskurses können dadurch deutlicher betont werden (+K) oder maskiert werden (-K). Doch selbst wenn die SchülerInnen über die Erkennungsregel verfügen, heißt das noch nicht, dass sie in der Lage sind, den „angemessenen“ (legitimen) Text bzw. die legitime Kommunikation und kontextspezifische Praktiken auch selbst zu produzieren. Schüler müssen also nicht nur wissen, dass sie sich beispielsweise in einer Mathematikstunde befinden, sondern müssen noch zusätzlich in der Lage sein, sich entsprechend der Vorstellungen ihres Lehrers zu verhalten und zu äußern, also beispielsweise sich zu melden, mathematische Fachsprache zu benutzen usw. Um erfolgreich an einem speziellen Diskurs teilzunehmen, sind also Realisierungsregeln (Realisation Rules) notwendig: Sie entscheiden nicht darüber was, sondern wie Bedeutungen zusammen zu „bauen“ und zu äußern sind. Sie sind notwendig, um einen der Situation angemessenen, legitimen Text zu produzieren. Codes und pädagogische Codes Wie oben ausgeführt, können Klassifikation und Rahmung unterschiedliche Werte annehmen, sie können stark oder schwach sein. Klassifikation und Rahmung können interne und externe Beziehungen beschreiben. Die für einen konkreten Kontext festgehaltenen Werte von Klassifikation und Rahmung bilden die Modalität von K und R. Modalitäten von Klassifikation und Rahmung lassen sich so notieren: ±Kie ±Rie. 25 Bernstein definiert Codes nun folgendermaßen: „Ein Code ist ein regulatives Prinzip, das, stillschweigend angeeignet, a) die relevanten Bedeutungen (Klassifikation) b) die Form ihrer Realisierung (Rahmung) und c) die sie hervorrufenden Kontexte selektiert und integriert“. (CCC5, S. 186 u. 202; Übers. MS/NL) Bernstein notiert dies folgendermaßen: O Code = –––––––– K R O steht für die (Bedeutungs-)Orientierung des jeweiligen Kontextes. Der „Bruchstrich“ bedeutet: Die Bedeutungsorientierung ist eingebettet in Klassifikation und Rahmung. Berücksichtigt man die schon genannten Verfeinerungen des Konzepts, so lautet die Formel: OER Code = –––––––– ±Kie ±Rie Die Bedeutungsorientierung kann also elaboriert oder restringiert sein. Klassifikation und Rahmung können interne oder externe Beziehungen benennen und nehmen verschiedene Stärken oder Werte an. Die Besonderheit der schulischen Diskurse bzw. aller Diskurse, die der Reproduktion von offiziellem und spezialisiertem Wissen dienen, ist, dass sie – selbstverständlich und ausschließlich! – eine elaborierte Bedeutungsorientierung aufweisen. Die Formel für die pädagogischen Codes lässt sich also so schreiben: E Pädagogische Codes = ––––––––– ±Kie ±Rie Pädagogische Codes werden also in konkreten Werten von Klassifikation und Rahmung geschrieben und stellen Modalitäten des offiziellen elaborierten Codes (E / +K +R) dar. Änderungen in den Werten von K und R generieren also unterschiedliche Modalitäten des elaborierten Codes und signalisieren geänderte Machtverteilungen und Kontrollprinzipien. Pädagogische Codes und soziale Positionierung Bernstein stellt die Codes in seiner Neufassung (CCC4, Kap. 1) als positioning devices vor, wörtlich: “The broad answer […] is that class relations generate, distribute, reproduce, and legitimate distinctive forms of communication, which transmit dominant and dominated codes, and that subjects are differentially posi26 tioned by these codes in the process of acquiring them. […] In general, from this point of view, codes are culturally determined positioning devices.“ (a. a. O., S. 13) Der Code ist also jenes Regulativ, das den Aneigner (und den Übermittler) zum legitimen Text bzw. zu anderen Subjekten positioniert, ihm einen – kulturell determinierten – Zugang eröffnet oder verschließt. CodeModalitäten, d. h. die in der Praxis der pädagogischen Interaktion ununterbrochen vorkommenden „Abweichungen“ vom offiziellen Code, sind eine Art Indikator für die jeweilige konkrete Positionierung der Aneigner zum legitimen Text. Beispielsweise können konkrete Aufgabenformulierungen eine CodeModalität darstellen. Sie lassen sich als das empirische Korrelat für die Abweichung vom offiziellen Code betrachten. Sie positionieren die Aneigner „im Konkreten“ zum legitimen Text, und zwar differenziell, je nach „Ausgangslage“. Mit Ausgangslage ist angesprochen: das soziokulturelle Milieu, das Geschlecht, sprachliche Mittel – Migrationshintergrund usw. Die konkreten Code-Modalitäten veranlassen die Aneigner unterschiedliche Erkennungs- und Realisierungsregeln abzurufen. Diese können bspw. mit Hilfe von Re-Interviews empirisch evident gemacht werden, wie das Beispiel 3 (s. u.) zeigt. Das Beispiel zeigt zudem, wie eine geänderte Code-Modalität die Positionierung eines Aneigners verändern kann. Beispiele für Code-Modalitäten Wir sind nun in der Lage, Codes und Code-Modalitäten des im Abschnitt 2 vorgestellten Beispiels „Lebensmittel sortieren“ zu interpretieren und die Beziehung zwischen den Werten von Klassifikation/Rahmung und den Erkennungs- und Realisierungsregeln zu erläutern. Zu Beispiel 2: Lebensmittel sortieren Offizieller Code Die Aufgabe dient im vorliegenden Fall der Untersuchung unterschiedlicher Herangehensweisen. bzw. Erkennungsstrategien. Im üblichen Schulkontext werden bei diesem Aufgabentyp jedoch elaborierte, kontextunabhängige Strategien erwartet bzw. positiv evaluiert. Der offizielle Code lässt sich dann schreiben: E / +K +R Die adäquate Erkennungsregel lautet: Der Kontext ist als spezialisierter Kontext zu lesen (+K). Die adäquate Realisierung lautet: Erzeuge einen spezialisierten Text (Antwort), der den Anforderungen des spezialisierten Kontexts entspricht (+R). 27 Aufgabenformulierung (konkrete Code-Modalität) Die Aufgabenformulierung liefert jedoch keinen expliziten Hinweis darauf, welchem Kontext (Schulkontext oder Alltagsweltkontext) die Aufgabe zuzuordnen ist. Sie scheint also schwach klassifiziert (-K). Die Rahmung erfordert eine differenzierte Betrachtung einzelner Elemente: 1. Die Kriterien (-R Krit): Die Fragestellung liefert keinerlei Hinweis auf den spezialisierten Kontext bzw. auf die Form der erwarteten Lösung. 2. Die Hierarchie-Regeln (-R HR): Die Interview-Situation ist scheinbar „auf Augenhöhe“ angelegt: Der/die Probandin wird aufgefordert, nach eigenem Gutdünken vorzugehen: Du kannst jedes beliebige Bild auswählen, du kannst sie zusammenlegen, wenn und wie Du willst und mit jeder beliebigen Begründung. Zumindest im Hinblick auf die betrachteten Aspekte lässt sich die Aufgabenformulierung also schreiben: -K-R. Auffällig ist nun der offensichtliche Gegensatz zwischen der schwach klassifizierten und schwach gerahmten Aufgabenformulierung und der dahinter liegenden starken Klassifikation/Rahmung des spezialisierten Wissensdiskurses (offizieller Code). Die Ergebnisse (vgl. Abschnitt 2) zeigen, dass die Erkennungs- bzw. Realisierungsregeln in Korrelation zum sozialen Hintergrund der Kinder stehen. Mittelschichtkinder erkennen offensichtlich den spezialisierten Kontext und tendieren dazu, die schwach klassifizierte und schwach gerahmte wörtliche Instruktion (-K-R) zu ignorieren und in ihr Gegenteil zu übersetzen (+K+R). Kinder aus der Arbeiterschicht nehmen die Instruktion eher wörtlich : -K-R. In der sehr ausgefeilten Konzeption der Rahmung stecken nun genug Elemente, die dazu beitragen können, dass die differenzierende Wirkung des Codes sichtbar und in Form von Code-Modalitäten bearbeitet wird. Änderungen in den Werten der Rahmung können intendiert oder nicht-intendiert sein. Sie sind in der Lage, auch die Stärke der Klassifikation zu beeinflussen. So ließe sich zum obigen Beispiel leicht eine Aufgabenformulierung finden, die die Kriterien explizit macht, und so auch den Arbeiterschichtkindern, hilft, die „richtige“ Orientierung mit den adäquaten Erkennungsund Realisierungsregeln abzurufen, z. B.: „Ordne die Lebensmittel so, dass sich bestimmte Lebensmittelgruppen ergeben.“ Oder: „Gruppiere die Lebensmittel nach verschiedenen Eigenschaften und benenne diese.“ Auch Cooper und Dunne (2000) weisen in ihrer Studie über die differenzierende Wirkung mathematischer Testaufgaben im Rahmen des (englischen) 28 National Curriculum sehr eindrucksvoll Privilegierungen und Benachteiligungen bzw. unterschiedliche Positionierungen zum legitimen Text nach. Sie untersuchen anhand der Bearbeitung und anschließender Re-Interviews mit insgesamt 15 Kindern aus unterschiedlichen sozialen Milieus die Erkennungs- und Realisierungsregeln beim Lösen von Textaufgaben (realistic items; vgl. a. a. O., S. 43ff.). Insbesondere die Re-Interviews geben interessante Hinweise auf die Wirkung der konkreten Code-Modalitäten. Bsp. 3: Das Tennis-Beispiel (a. a. O., S. 57ff.) Zu Beispiel 3: Tennis-Beispiel Offizieller Code Die Aufgabe steht im Kontext der landesweiten Vergleichstests und ist klar dem spezialisierten Kontext des Fachs Mathematik zugeordnet (+K). Diese starke Klassifikation lässt darauf schließen, dass hier ein entsprechend elaborierter Text nach den Regeln der Mathematik (hier der Kombinatorik) zu generieren ist (+R). Der offizielle Code lässt sich schreiben als E / +K +R. Aufgabendarstellung (konkrete Code-Modalitäten) 29 Klassifikation: Der realistische Aufgabenkontext eines Mixed-Tennisturniers und die Darstellung der beiden Säcke mit jeweils drei Namenskärtchen verweisen eher auf ein Alltagsproblem denn auf eine spezialisierte mathematische Aufgabe (-K). Rahmung: Die Explizierung der Kriterien, d. i. der Hinweis auf das erwartete Lösungsformat (Nenne alle möglichen Paare) nimmt im Verhältnis zur Darstellung des Lebensweltbezuges nur einen untergeordneten Platz ein und ist vor allem vor dessen Hintergrund unsinnig. Mindestens die (Evaluations-)Kriterien sind also schwach gerahmt (-R Krit). Da die Aufgabe zunächst in einer Testsituation auftritt, kann man dagegen von einem stark gerahmten Lerntempo (+R LT, LT für Lerntempo) ausgehen. Andere Elemente der Rahmung können davon unabhängig andere Werte besitzen (+R, -R) Die Code-Modalität der Aufgabe kann also geschrieben werden: -K ±R. Das Beispiel stellt eine Variation des schon vom vorhergehenden Beispiel 2 bekannten Musters dar: Zwischen dem offiziellen Code und der konkreten Testaufgabe (Aufgabenformulierung) besteht eine Diskrepanz, die dazu führen kann, dass Kinder aus unterschiedlichen sozialen Schichten tendenziell unterschiedliche Erkennungsregeln abrufen. Konkret dargestellt werden nun Lösungsstrategien von Diane, einem Mädchen, das als „hochbegabt“ beschrieben wird, mit „professional middleclass background“, und Mike, der als „durchschnittlich begabt“ vorgestellt wird, mit „working-class background“. Erkennungs- und Realisierungsregeln Ohne zu zögern liefert Diane die folgende Lösung: Rob and Katy Rob and Anne Rob and Gita David and Ann David and Katy “ and Gita Rashid and Ann “ and Katy “ and Gita Die Verwendung der Anführungszeichen zeigt die Sicherheit in der Lösungsstrategie. Diane zielt sofort auf das mathematische (kombinatorische) Problem, alle möglichen Paare zu nennen: „because I knew 30 that each boy had a chance of three girls, and each girl had a chance of three boys, so, um, if you write both down you get the same answer.“ (a. a. O., S.60) Es ist evident, dass Diane eine Erkennungs- und Realisierungsregel abruft, die von einer starken Klassifikation und starker Rahmung ausgeht (+K +R). Ganz anders Mike; er „fällt“ sozusagen auf den realistischen Kontext „herein“ (a. a. O., S. 60f.): “He began by reading under his breath: Mike: Find all the possible ways that the boys and girls can be paired. [pause] There's - is it - I won't, I won’t write it down here, I suppose. Is it because they put their hand, they go, they put their hand in there first, so they pull out Rob, cos they go right to the bottom first. Then second in the girls they go half way down, so they pick out Katy. Then the boys, they go to the top and pick out David. And they go right to the bottom of the other one to pick out Gita, and you should you should end up with Rashid and [pause] Ann. [stops] BC: OK, write those down then. Mike: Shall I just write who they're going to go with? BC: Yep. Mike: Rob and Katy [pause] David and Gita [pause] Rashid and Ann BC: Now, before you go on, look at it again. Find all the possible ways that the boys and girls can be paired. All the possible ways. Do you think you've found all the possible ways that boys and girls can be paired? Mike: There's only one other one. There's only one other way. It's just, just to be lucky who you go with really. That's it just about... BC: There's only one other way, just to be lucky who you go with? Mike: Yea, 'cos they just, they just dip their hand in. They'd probably shake the bag around while they put their hand in, and pick out whoever. BC: OK, so do you think there are some other ways? Mike: Only the one I've just said. And that's about it. There's no other possible way unless you took them out - oh, David can go with Gita and just do that, Rob can go with Ann, and Rashid can go with Katy. BC: Alright, if you did that though, how many different pairs do you think you could possibly get? If you, if I said, here, write down all the pairs you think you could get, of boys and girls - all the possible ones do you think there are more than three? Or just three? Mike: There'd be nine. 31 BC: There'd be nine? Can you write those nine down, on this page here? He writes: David + Ann Rashid + Katy Rob + Gita David + Gita Rashid + Ann Rob + Katy David + Katy Rashid + Gita Rob + Ann BC: Right, how did you know there'd be nine before you started then? Mike: Because there's three boys and three girls, plus you've got to add another three because - you'll be going David and Ann, Rashid and Katy, Rob and Gita. Put Gita to Ann, Ann to Katy, and Katy to Gita. And then you keep doing that, the same method. So they'd be going, um, from there [pause] from there she'd go to there [he draws linking lines between the names on the diagram of the bag containing girls' names]. She'd go to there, then she'd go to there, then she'd go back up to there, and she'd go down to there, and so on. Nine ti. . ., three times. BC: Right, so why do you think, when you first did it, you stopped at three then? What was it about the question, do you think? Mike: Um, it [pause] just said, um, find the possible ways, of the boys and girls, were paired. Just says one pair - um - the way - the way that they're going to be paired, not who they're going to be paired with. Mike geht auf die schwache Klassifikation der Aufgabenformulierung ein (-K) und rekonstruiert eine vollkommen realistische Szene, in der eine reale Wahl der Paare vorgenommen wird. Damit führt er sich zu einer falschen Lösung: In der ersten Fassung seiner Lösung begnügt er sich mit drei Paaren. Änderung der Code-Modalität Die weiteren Hilfestellungen des Interviewers bringen Mike langsam dazu, eine vollständige Liste aller möglichen Paare zu erstellen. Dieses Gespräch ist ein eindrucksvolles Beispiel für die Änderung der Code-Modalität: Einmal findet sich hier – anders als in der Testsituation – ein schwach gerahmtes Lerntempo (-R LT). Der Lehrer (Testleiter) gibt Mike so lange Zeit, wie er eben braucht, um zur „richtigen“ Lösung zu gelangen. Die Unterstützung, die er ihm dabei gibt, besteht aus relativ expliziten und klaren Hinweisen auf die eigentliche Aufgabenstellung bzw. den offiziellen Code, alle möglichen Lösungen zu nennen. Diese Unterstützung stellt eine starke, weil explizite Rahmung der Kriterien dar (+R Krit). Gleichzeitig bemüht sich der Lehrer um eine Kommunikation „auf Augenhöhe“ (-R HR). 32 Während also die Aufgabenformulierung die Codierung -R Krit/+R LT aufweist, kann das nachfolgende Gespräch mit folgender Codierung geschrieben werden: +R Krit/-R LT. Genau diese Code-Modalität, also eine schwache Rahmung des Lerntempos und eine starke Rahmung der Evaluations-)Kriterien, nennen Morais und Kolleginnen als Voraussetzung für einen Unterricht, der tatsächlich auch Kinder aus nichtprivilegierten Milieu fördert. Sie sprechen von einer gemischten Pädagogik (mixed pedagogies) (s. Morais und Neves, in diesem Band). Zusammenfassung Das Konzept von Klassifikation und Rahmung übersetzt die Machtverteilungen und Kontrollprinzipien einer Gesellschaft in Codes, die die Bedeutungsorientierung der jeweiligen Diskurse regulieren. Mit dem Klassifikationsprinzip werden die Grenzen des jeweiligen Diskurses und der dazugehörigen Kategorien, Subjekte usw. nachgezeichnet. Mit der Rahmung wird die Dynamik der pädagogischen Übermittlung gesteuert. In der Rahmung sind jene Regeln beschrieben, die die konkrete pädagogische Praxis hervorrufen bzw. deren Realisierung sich in der konkreten pädagogischen Praxis äußert. Konkret beziehen sich die Rahmungsregeln auf die Auswahl, die Reihenfolge, das Lerntempo (erwartete Aneignungsleistung) und die Kriterien des Instruktionsdiskurses. Diese sind eingebettet in die Hierarchieregeln als Indikator für den Regulationsdiskurs. Es sind zuerst einmal die Elemente der Rahmung, die bei der Analyse von Unterricht usw. ins Blickfeld geraten. Mit diesem Instrumentarium wird die nicht geringe Bandbreite an pädagogischen Interaktionen beschreibbar. Die sozial differenzierende Wirkung von pädagogischen Interaktionen und Praktiken, also die differenzielle Aktivierung von Erkennungs- und Realisierungsregeln, wird allerdings erst greifbar, wenn Klassifikationen und Bedeutungsorientierungen zum Code „dazugerechnet“ werden. Erst dadurch ist der Code vollständig und in seiner regulativen Wirkung fassbar. Pädagogische Codes sind als Modalitäten des offiziellen elaborierten Codes zu lesen. (E / K R) Sie stellen das „stillschweigende“ Regulativ dar, mit dem die Übermittlung von Wissen differenziell gesteuert wird. Diese Regulierung bewirkt, dass auf der Ebene der Aneigner unterschiedliche Erkennungs- und Realisierungsregeln aktiviert werden. 4. Der pädagogische Diskurs und das pädagogische Dispositiv Die Weiterentwicklung von Bernsteins Sprache hin zum pädagogischen Diskurs lässt sich als neuerliche systematische Hinwendung zu den makrosoziologischen Zusammenhängen betrachten. Bernsteins Kritik an den vorhandenen bildungssoziologischen Studien bildet hierfür den Ausgangspunkt: Zwar deuten alle Untersuchungen darauf hin, dass Schule und Unter33 richt soziale Ungleichheit reproduzieren, dass Schule und Unterricht ein Feld für ideologische Auseinandersetzungen darstellen und dass via Schule und Unterricht Botschaften transportiert werden, die Machtverhältnisse festigen, usw. Letztlich beschränken sie sich jedoch auf die Feststellung, dass es so ist, ohne Erklärungen zu liefern, wie dieser Prozess abläuft. Bernsteins Anspruch ist es nun, auch beschreiben zu können, wie dieser Transport funktioniert, wie dieses „Relais“, oder der „Träger“, ausgestattet ist, das/der diesen Transport vollzieht. Dieses „Relais“ nennt Bernstein pedagogic device, hier für die Zwecke dieses Beitrags mit pädagogisches Dispositiv übersetzt15 (vgl. CCC5, S. 25). Stellen die pädagogischen Codes jenes Konzept dar, das die Übersetzung von Macht- und Kontrollbeziehungen in die Klassifikationsprinzipien und Rahmungsregeln nachzeichnet, die ihrerseits die pädagogischen Interaktionen regulieren und steuern, so liefert Bernstein jetzt eine Beschreibung der dazugehörigen „Übersetzungsmaschine“. Die Fragestellung lautet jetzt: Nach welchen Regeln funktioniert eigentlich die Übersetzung von Macht und Kontrolle in Prinzipien der kommunikativen Steuerung pädagogischer Prozesse und der dadurch angestoßenen Bewusstseinsbildungen? Die Antwort auf diese Frage liefert Bernstein in Form von drei hierarchisch angeordneten Regeln, die den pädagogischen Diskurs regulieren: den Distributionsregeln, den Rekontextualisierungsregeln und den Evaluationsregeln. Diese bilden das pädagogische Dispositiv. Dieses Dispositiv wirkt als übergeordnetes oder vorgeordnetes Regulativ der pädagogischen Praxis, und damit – per definitionem! – als „symbolischer Regler“ (symbolic ruler), der in jeder pädagogischen Interaktion wirksam wird. Die „neue“ Sprache des pädagogischen Diskurses Die wesentlichen Überlegungen zu den makrosoziologischen Zusammenhängen sind eigentlich schon in der Einleitung zu CCC3 formuliert (vgl. CCC3, S. 45ff.). Hier werden die Codes in ein Modell von drei Ebenen eingebettet, die als „makroinstitutionelle Ebene“, „Übermittlung“ und „Text“ bezeichnet werden.16 Diese komplexen Beziehungen und deren schwierige begriffliche Fassung veranlassten Bernstein zu einer intensiven Auseinandersetzung mit strukturalistischen und poststrukturalistischen Konzeptionen, möglicherweise auch angeregt durch die Diskussionen mit seinen Schülern (vgl. Atkinson 1981, 1985, Bernstein und Diaz 1984). Die Ergebnisse dieser Auseinandersetzung finden schließlich im Band CCC4 unter dem Titel „Die Struktur des pädagogischen Diskurses“ ihren Niederschlag. Darin enthalten ist eine Neufassung der Code-Theorie (Kap. 1) und insbe- 15 Zur Begründung dieser Übersetzung siehe Anhang, S.XY 16 Diese drei Ebenen werden im pädagogischen Dispositiv dann als drei Regeln gefasst. 34 sondere die systematischen Darstellung des pädagogischen Dispositivs unter dem Titel „Die soziale Konstruktion des pädagogischen Diskurses“ (Kap. 5). Bevor dieses Dispositiv im Detail vorgestellt wird, ein paar Anmerkungen zu den begrifflichen Neuerungen bzw. zum Wandel des begrifflichen Inventars, konkret zu den Begriffen Diskurs, soziales Feld und Rekontextualisierung. Zum Diskurs In der Neufassung und Generalisierung der Code-Theorie („Code, modalities, and the process of cultural reproduction“; CCC4, Kap. 1; Orig. 1981) bemüht sich Bernstein, seine Code-Theorie systematisch mit Durkheims Überlegungen zur sozialen Arbeitsteilung zu verknüpfen. Er konzipiert dabei die Diskurse als „Produkte“ im Feld der symbolischen Kontrolle analog zu dem, was die Produkte im Feld der Produktion darstellen (a. a. O., S. 21f.). Dieses Verständnis von Diskurs wird weiterentwickelt zu den „spezifischen Diskursen“ als den jeweils spezifischen Produkten der Spezialisierung und Arbeitsteilung im Feld der symbolischen Kontrolle, wie sie z. B. in den Schulfächern abgebildet werden. Die Spezifizierung eines „pädagogischen Diskurses“ (als Einbettung von Instruktions- und Regulationsdiskurs, s. w. u.) entwickelt Bernstein in Zusammenarbeit mit seiner Doktorandin Emilia Pedro ebenfalls zu Beginn der 1980er Jahre, und zwar als Weiterentwicklung der Rahmung (s. Abschnitt 3) im Zusammenhang mit Analysen des „Classroom discourses“ (vgl. CCC5, S. 102f.). Dieser pädagogische Diskurs liefert den Kern der „sozialen Grammatik“ des pädagogischen Dispositivs. Zum sozialen Feld Grundsätzlich übernimmt Bernstein hier einen Begriff von Bourdieu, „vereinfacht“ ihn aber ziemlich radikal. Er spricht vom field of production und vom field of symbolic control als den für den pädagogischen Diskurs entscheidenden Schauplätzen. Diese beiden Felder korrespondieren mit der physisch-materiellen (und ökonomischen) bzw. der kulturellen Reproduktion einer Gesellschaft. Die Konzeption des sozialen Feldes spricht auch die sozialen Akteure bzw. die sozialen Gruppierungen an. Bernstein sieht hier den Unterschied zwischen den beiden von ihm diagnostizierten Fraktionen der Mittelschichten, den alten und den neuen Mittelschichten: erstere gehören zum Feld der Produktion, letztere zum Feld der symbolischen Kontrolle. Im Zusammenhang mit dem pädagogischen Dispositiv wird der FeldBegriff neuerlich aufgegriffen. Hier konstituieren die drei Regeln des Dispositivs die entsprechenden sozialen Felder (s. w. u.). In einer seiner letzten Wortmeldungen (im Interview mit Joseph Solomon, vgl. CCC5, Kap. 11) verwirft Bernstein den Begriff „Feld“ wieder und will ihn durch „Arena“ ersetzt wissen. Dieser scheint ihm angemessener für die 35 Dynamiken und Auseinandersetzungen, die im Rahmen dieser Felder angesprochen werden sollen (a. a. O., S. 202). Zum Begriff Rekontextualisierung Mit dem Begriff der Rekontextualisierung ist ein Schlüsselbegriff angesprochen, der allerdings viele Interpretationen zulässt, ja geradezu herausfordert. In der frühen Fassung des Dispositivs (s. Einleitung zu CCC3) werden mit „Rekontextualisierung“ die Transformationen modelliert, die Inhalte und Bedeutungen auf dem Weg vom primären Kontext der Familie oder der peer group zum sekundären Kontext der formalen oder schulischen Bildung durchlaufen. Zwischen diesen beiden Kontexten müssen die „Texte“ notwendige Dekontextualisierungen und entsprechende Rekontextualisierungen erfahren. „Jedes formale Erziehungserlebnis schließt eine Dekontextualisierung und eine Rekontextualisierung ein. Die informelle Alltagserfahrung, die alltägliche Kommunikation in Familie und Peer group erzeugt (…) Verfahren und Vollzüge, die das Fundament der formalen Erziehung bilden. Die formale Erziehung verfährt bezüglich jener Erfahrung selektiv, neu zentrierend und abstrahierend und insofern dekontextualisierend. Die sozialen Prinzipien (Codes), die die Form der Rekontextualisierung regulieren, bestimmen jedoch den Prozess der Dekontextualisierung. Und dieser Prozess kann so beschaffen sein, dass er eine wirkliche Rekontextualisierung verhindert. Wenn man von den kontextunabhängigen Beziehungen (elaborierten Codes) spricht, so immer in dem Bewusstsein, dass solche Beziehungen durch die sozialen Prinzipien vermittelt sind, die den Rekontextualisierungsprozess regulieren.“ (CCC3, S. 57) Hier wird Rekontextualisierung als notwendige Transformation (im Text selbst, in den Beziehungen zwischen Aneigner und Text, in den Beziehungen zwischen Übermittler und Text, …) zur Aneignung der elaborierten Codes beschrieben, die die Aneignung von formalen Bildungsgütern ermöglichen. Zentrales Mittel dazu ist eine dekontextualisierte Sprache. Diese Aneignung kann durch die „Verfahren und Vollzüge“ im primären Kontext be-/verhindert werden. Rekontextualisierung beinhaltet also immer auch ein selektives Element. An anderer Stelle referiert Bernstein diese Transformation so: „The form of this transformation is regulated by a principle of decontextualizing. This process refers to the change in the text as it is first delocated and then relocated. This process ensures that the text is no longer the same text: 1. The text has changed its position in relation to other texts, practices, and positions. 36 2. The text itself has been modified by selection, simplification, condensation, and elaboration. 3. The text has been repositioned and refocused.” (CCC4, S. 60f.) Hier fokussiert der Begriff Rekontextualisierung also vorwiegend auf die Transformationen des Textes bzw. auf seine Positionierung. Voraussetzung für eine solche Transformation ist eine dekontextualisierte Sprache (vgl. dazu ausführlicher Straehler-Pohl und Gellert, in diesem Band). Eine solche dekontextualisierte Sprache schafft die Voraussetzungen für den diskursiven Austausch in modernen sich differenzierenden und spezialisierenden Gesellschaften, ja sie ermöglicht überhaupt erst die Ausdifferenzierung von Diskursen. Die spezifische Qualität dieser Sprache wird von Bernstein als indirekte Beziehung zur materiellen Welt konzipiert, als esoterische oder transzendentale Qualität. Auf der Ebene der pädagogischen (schulisch-unterrichtlichen) Praxis kann der Begriff Rekontextualisierung für jeden transformatorischen Übergang zwischen verschiedenen Kontexten gesehen werden. Es geht dabei immer um eine Delokation und neuerliche Relokation von Inhalten. Die Rekontextualisierungen betreffen Aneigner wie Übermittler. Rekontextualisierungen werden bspw. vorgenommen, wenn Mathematiklehrer (Mathematikdidaktiker) bei der Formulierung von „Textaufgaben“ mathematische Inhalte in realistische Kontexte einbetten. Die Schüler haben dann den umgekehrten Weg der Rekontextualisierung zu vollziehen: Sie müssen den realistischen Kontext dekontextualisieren und die Aufgabe in eine mathematische Fragestellung rekontextualisieren. Schließlich wird der Begriff als Rekontextualisierungsprinzip zum zentralen „Scharnier“ des pädagogischen Dispositivs. Das pädagogische Dispositiv Um die Funktionsweise des pädagogischen Dispositivs als „Übersetzungsmaschine“ oder „Relais“ (vgl. w. o.) zu illustrieren, beginnt Bernstein mit der Darstellung eines language device oder Sprach-Dispositivs. Er konstruiert dieses Dispositiv als jenen Mechanismus, der zwischen das Bedeutungs-Potenzial und die letztendlich in der Kommunikation realisierten Bedeutungen geschaltet ist. Es ist klar, dass die in der Kommunikation realisierten Bedeutungen kontextabhängig sind. Das heißt die kommunikativen Realisierungen werden durch kontextuelle Regeln auf der Grundlage lokaler, räumlicher und sonstiger Gegebenheiten aktiviert. Damit dies geschieht, damit reale Kommunikation in realen Kontexten angestoßen wird, muss es aber (relativ) stabile Grund-Regeln geben, auf deren Grundlage die kontextuellen Regeln aktiv werden können. Mit dieser Unterscheidung zwischen den relativ stabilen Regeln des Dispositivs und den kontextabhängigen Re- 37 geln der realisierten Kommunikation erläutert Bernstein den Unterschied zwischen „the carrier“ und „the carried“. „’The carrier’ consists of relatively stable rules and ‘the carried’ consists of contextual rules. Neither set of rules is ideologically free.” (CCC5, S. 27) Man könnte auch sagen, es handelt sich um ideologische Transformationen erster und zweiter Ordnung. Zur Illustration der relativen Stabilität des Sprach-Dispositivs verweist Bernstein auf die Tatsache, dass die Sprache nicht geschlechtsneutral ist, also relativ stabile Prinzipien transportiert, die die Geschlechterbeziehungen abbilden. Damit ist auch die ideologische Dimension des Dispositivs angesprochen: ideologisch im Sinne von dominierenden Prinzipien im Dienste von dominierenden Gruppen. Diese Aussage impliziert, dass es immer auch dominierte Prinzipien und dominierte Gruppen gibt, dominiert im Sinne von unterlegen. Für das Thema Sprache und Geschlecht heißt das, dass „männliche“ Inhalte und Formen für die dominierenden Prinzipien der dominierenden Gruppe stehen und „weibliche“ Inhalte und Formen für die dominierten Prinzipien. Die tatsächlich realisierten Bedeutungen sind also immer auch Ergebnis von (sozialen) Auseinandersetzungen um die dominierenden Prinzipien. Analog konzipiert Bernstein das pädagogische Dispositiv. Auch hier geht es um ein „Bedeutungspotenzial“, allerdings nicht nur bezogen auf die sprachlichen Bedeutungen, sondern erweitert um jene Potenziale, die die Diskurse einer pädagogischen „Nutzung“ zugänglich machen (vgl. CCC5, S. 27). Das pädagogische Dispositiv zeichnet also das Potenzial, an und in dem sich ein pädagogischer Diskurs entwickeln kann, und liefert damit gleichzeitig die „intrinsic grammar of the pedagogic discourse” (a. a. O., S. 28). Diese Grammatik hat die Form von Regeln, die soziale und institutionelle Felder konstituieren und damit die Akteure definieren. Konkret besteht das pädagogische Dispositiv aus drei untereinander verbundenen und hierarchisch angeordneten Regeln: - den Distributionsregeln (DR), - den Rekontextualisierungsregeln (RR) und - den Evaluationsregeln (ER). Die DR bestimmen und regulieren die RR, und die RR bestimmen und regulieren die ER. Zu den Distributionsregeln „Die Distributionsregeln verteilen unterschiedliche Formen von Wissen auf die unterschiedlichen sozialen Gruppen. Auf diese Art verteilen sie unterschiedliche Formen von Bewusstsein auf die unterschiedlichen Gruppen. Die DR regeln den Zugang zum ‚Undenkbaren’, d. i. zur Mög- 38 lichkeit neuen Wissens, und den Zugang zum ‚Denkbaren’, d. i. zum offiziellen Wissen.“ (CCC5, S. 115; Übers. MS/NL) Die entscheidende Funktion der Distributionsregeln liegt also darin, die Grenzen zwischen dem „Denkbaren“ und dem „Undenkbaren“ zu definieren. Die Trennlinie beinhaltet auch die Privilegierung jener Formen des Wissens, die Bernstein „esoterisch“ nennt, im Gegensatz zu den „weltlichen“ Formen (mundane)17. In einfachen Gesellschaften war es Aufgabe der Religion, diese Grenze zu ziehen und darüber zu wachen. In modernen Gesellschaften wird diese Aufgabe vom Erziehungssystem übernommen; und zwar in erster Linie von den höheren Abteilungen des Bildungssystems. Diese höheren Abteilungen bilden das soziale Feld der Produktion eines Diskurses. „Soziologisch gesprochen: Die Distributionsregeln schaffen ein spezialisiertes Feld der Diskursproduktion, mit spezialisierten Zugangsregeln und spezialisierten Machtkontrollen.“ (CCC5, S. 31; Übers. MS/NL) Die Distributionsregeln definieren also sowohl die Formierungen des Wissens für die verschiedenen sozialen Gruppen als auch die Akteure und ihre Funktionen. „Die Distributionsregeln legen fest (mark) und teilen zu, wer was unter welchen Bedingungen an wen übermitteln darf, und sie legen die Grenzen des legitimierten Diskurses fest (oder versuchen es zumindest).“ (a. a. O.; Übers. MS/NL) Zu den Rekontextualisierungsregeln: pädagogischer Diskurs Wenn die Distributionsregeln das „Denkbare“, also das offizielle Wissen definiert haben, dann liefern die Rekontextualisierungsregeln die dazugehörige soziale Konstruktion: das Was und das Wie des pädagogischen Diskurses. „Diese Regeln regulieren die Arbeit von Spezialisten im Rekontextualisierungsfeld, die das Was und das Wie des pädagogischen Diskurses konstruieren. Der pädagogische Diskurs selbst ist weniger ein Diskurs und mehr ein Prinzip zur Aneignung/Adaption (appropriate) von Diskursen aus dem Produktionsfeld. Diese werden einem anderen Organisationsund Beziehungs-Prinzip untergeordnet. In diesem Prozess passiert der Original-Diskurs ein ideologisches ‚Screening’ und erhält seine neue Form als pädagogischer Diskurs.“ (CCC5, S. 115; Übers. MS/NL). Diese Unterordnung unter ein anderes Organisations- und Beziehungsprinzip wird Rekontextualisierung genannt. Diese spezifische pädagogische 17 Gabriela Höhns weist in ihrem Beitrag zu diesem Band zu Recht darauf hin, dass diese Vereinfachung Bernsteins das Berufsbildungswesen – zu Unrecht! – von Bildungsprozessen ausschließt. 39 Rekontextualisierung wird evident, wenn man sich den Unterschied zwischen dem originären Diskurs und dem jeweiligen Schulfach vor Augen führt. Physik als Wissenschaft ist etwas anderes als Schul-Physik, Literatur etwas anderes als Literaturunterricht, … Bernstein erwähnt öfters als Beispiel den Unterschied zwischen carpentry (Tischlerei) und woodwork, dem Arbeiten mit Holz im Werkunterricht. Diese Rekontextualisierung wird von Bernstein als Einbettung des Inhaltsdiskurses in einen Diskurs der sozialen Ordnung dargestellt. Er spricht vom Instruktions- und vom Regulationsdiskurs und notiert diese Einbettung mit der Formel: ID PD = –––– RD oder: PD (ID/RD) D. h. der Regulationsdiskurs dominiert den Instruktionsdiskurs. Konkret äußert sich die Dominanz des Regulationsdiskurses auf drei Ebenen: auf der Ebene des Schulsystems, auf der Ebene des Curriculums und auf der Ebene des Unterrichts. In umgekehrter Reihenfolge, also von der Mikroebene zur Makroebene aufsteigend, tritt der Regulationsdiskurs folgendermaßen in Erscheinung: Auf der Ebene des Unterrichts wird die Dominanz des Regulationsdiskurses darin sichtbar, als zuerst soziale Regeln des täglichen Miteinanders generiert werden müssen, bevor „inhaltliches Lernen“ beginnen kann. Inhaltliche Auseinandersetzungen setzen eine soziale Ordnung voraus: Regeln des sozialen Miteinander, der Unterordnung des einzelnen, Regeln, wie man sich zu Wort meldet und andere ausreden lässt, usw. Auf der Ebene des Curriculums werden die Prinzipien des Was und des Wie für den Unterricht formuliert. Hier wird festgelegt, was Gegenstand des Unterrichts ist und wie dieser Gegenstand vermittelt wird. Dieses Was ebenso wie das Wie wird auf der Ebene des Schulsystems auf der Grundlage der vorgängigen Verteilungen (durch die Distributionsregeln) konstruiert. Welche Formen (des Unterrichts und damit des Bewusstseins) für welche Gruppen in der Gesellschaft (in entsprechenden Auseinandersetzungen) definiert werden, unterliegt einer genuin politischen Logik, ist Gegenstand einer sozialen Ordnung, also des Regulationsdiskurses. So ist z. B. die Frage, wie viele Wochenstunden einem Schulfach in den unterschiedlichen Schultypen zugeordnet werden, eine Entscheidung, die keineswegs aus der inhaltlichen Logik des Faches erklärt werden kann, sondern nur aus der (politischen) Entscheidung, für wen, für welche soziale Gruppe, mit welchen Zielvorstellungen die Inhalte in diesem Schultyp selektiert und „rekontextualisert“ werden. Aus soziologischer Sicht konstituieren die RR das soziale Feld der Rekontextualisierung, also das eigentliche Bildungssystem. 40 „Das Rekontextualisierungsfeld besteht immer aus einem Offiziellen Rekontextualisierungsfeld (ORF), das der Staat schafft und dominiert, geschaffen um den staatlichen pädagogischen Diskurs zu konstruieren und zu überwachen. Üblicher Weise (aber nicht immer) gibt es auch ein Pädagogisches Rekontextualisierungsfeld (PRF), das aus Lehrerbildung, Schulbüchern, Lehrplankommentaren usw. besteht bzw. den dazugehörigen Medien und Autoren/Akteuren. Beide Felder mögen eine ganze Reihe von ideologischen Positionen in sich vereinen, die um die Kontrolle des Feldes kämpfen. Und diese Positionen (im ORF und PRF) können zueinander in Opposition stehen. Darin besteht die relative Autonomie des einen (PRF) vom anderen (ORF).“ (a. a. O., S. 115; Übers. MS/NL) Zu den Evaluationsregeln: pädagogische Praxis „Die Evaluationsregeln konstruieren pädagogische Praxis, indem sie die Kriterien angeben, an denen (erfolgreiche) Übermittlung und Aneignung zu messen ist. […] Diese Regeln regulieren die pädagogische Praxis auf der Ebene des Klassenzimmers, indem sie die Standards definieren die erreicht werden müssen. Indem sie das tun, verfahren die EvaluationsRegeln selektiv mit den Inhalten, den Formen ihrer Übermittlung und ihrer Verteilung auf unterschiedliche Schülergruppen in unterschiedlichen Kontexten.“ (CCC5, S. 114f.; Übers. MS/NL) Mit der Begrifflichkeit der „Evaluationsregeln“ betont Bernstein die zentrale Bedeutung der Übermittlung von Kriterien für die (erfolgreiche) Aneignung des (legitimen) Wissens. „Any specific pedagogic practice is there for one purpose: to transmit criteria“ (CCC5, S. 28). Das Feld der pädagogischen Praxis wird von Evaluations-Regeln bestimmt, also von der Übermittlung von Kriterien, die die (legitime) Aneignung des Wissens in einem entsprechend formulierten „Text“18 überprüfbar machen. Diese Evaluationsregeln transformieren die makrosoziologischen Regeln des Dispositivs in die mikrosoziologischen Regeln der pädagogischen Codes: „The set of rules of the pedagogic device is condensed in the code of transmission/ acquisition” (CCC4, S. 187). In der folgenden Abbildung 2 wird die interessante „Verschränkung“ von makro- und mikrosoziologischer Ebene als Zusammenspiel von pädagogischem Diskurs (ID/RD) und pädagogischen Codes auf jeweils unterschiedlichen - absteigenden! - Abstraktionsniveaus dargestellt. Bernstein übersetzt also vom Abstrakten zum Konkreten. Auf der ersten, in der Abbildung obersten, Ebene geht es um vollkommen abstrakte Zeit-Text-Raum-Beziehungen, wobei „Text“ hier in einem nichtliterarischen oder besser meta-literarischen Sinn verstanden werden muss: 18 Zu „Text“ vgl. FN 14. 41 alles, was einer pädagogischen Rekontextualisierung zugänglich gemacht werden kann (vgl. FN 14). Konkreter wird es auf der zweiten Ebene, die man Curriculums-Ebene nennen könnte: Es geht um Altersgruppierungen (age), Inhalte/Lernziele (content), Kontexte (Beziehungen zu anderen Fächern, Räume, aber auch ZeitRäume, also zeitlicher Umfang, „Pensum“ der Fächer usw.). Bernstein betont, dass die Alters- oder „Entwicklungs“-Stufen vollkommen willkürlich sind; Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse, die auf diese Weise die – grundsätzlich endlose – Zeit entsprechend „interpunktieren“. ID RD Time Text Age Content Acquisition Evaluation Space Context Transmission Pedagogic Code and Modalities Abb. 2: Vom pädagogischen Diskurs zur pädagogischen Praxis (CCC5, S. 36) Schließlich konkretisiert sich Zeit, Text und Raum auf der dritten Ebene in der konkreten pädagogischen Kommunikation als Übermittlung und Aneignung mit der „Zentralstelle“ der Evaluation, die für eine selektive Übermittlung/Aneignung sorgt. Diese selektive Übermittlung/Aneignung läuft über die Evaluations-Kriterien als „letztem Glied“ des symbolic rulers, der die pädagogischen Subjekte oder die Bewusstseinsformen „wägt und für gut (oder schlecht) befindet“, also für die selektive Übermittlung/Aneignung sorgt. Makrosoziologisch (in der Abbildung von oben) betrachtet funktioniert die pädagogische Übermittlung/Aneignung als pädagogischer Diskurs 42 mit seiner Einbettung von ID und RD; mikrosoziologisch (von unten) gesehen steuern die Codes in ihren verschiedenen Modalitäten die Kommunikation. Der Regulationsdiskurs in der pädagogischen Praxis Einerseits ist die These, dass die soziale Ordnung die inhaltliche Ordnung dominiert, provokant in dem Sinne, als sie das, zumindest in einigen bildungstheoretischen Konzeptionen so formulierte, „Primat des Inhalts“ – scheinbar! – in Frage stellt. Andererseits formuliert Bernstein mit diesem Theorem einen soziologischen Standard: Sowohl in der marxistischen Tradition als auch bei Durkheim finden sich vergleichbare Formulierungen (zu Durkheim vgl. Gamble und Hoadley 2011). Schließlich hat diese Problematik in den 1960er und 1970er Jahren mit der These vom „heimlichen Lehrplan“ eine prägnante Formulierung gefunden (vgl. Zinnecker 1975), die sich zweifellos auch auf Bernsteins Forschungsprogramm anwenden lässt. Was Bernsteins Konstruktionen jetzt leisten, ist eine systematische Erörterung dieser Problematik und die entsprechende Einbettung in ein konsistentes Theoriegebäude. Zuerst einmal ist die Dominanz des regulativen Diskurses ganz offensichtlich. Schließlich ist es der moralische Diskurs, der zentrale Erziehungsvorstellungen wie Charakter, Benehmen, Haltung usw. liefert. Dieser Diskurs „sagt den Kindern, was zu tun ist, wo sie zu gehen haben usw.“ (CCC5, S. 34). Die Dominanz der sozialen Ordnung ist in jedem Unterricht evident, wenn man sich vor Augen hält, dass gewisse Regeln des sozialen Miteinander generiert werden müssen: Pausenregelungen, Aufzeigen oder andere Formen, um klarzumachen, dass man etwas zu sagen hat; warten bis man drankommt oder andere ausgeredet haben usw. In die Schule Gehen heißt zuerst einmal, besonders für Schulanfänger, eine Form der sozialen Unterordnung lernen. Darüber hinaus produziert der Regulationsdiskurs auch die Ordnung des instruktionalen Diskurses. Diese discursive order ist vermittelt über die Verbindung zu anderen (pädagogischen) Diskursen und über die zeitliche Ordnung, genauer über die im Curriculum festgeschriebenen Sequenzen und Lernziele (erwartete Aneignungsleistungen). Hier werden die konkreten Fächer, die Stoffgebiete, die Pensen, die Lehr-/Lernziele definiert. Und diese Definition ist eben nicht „aus der Sache“ erklärbar, sondern aus den dieser Rekontextualisierung vorgängigen Verteilungen (Distributionsregeln). Verteilung heißt, dass unterschiedliche Mengen (Pensen) und unterschiedliche Formen des Wissens für unterschiedliche Schultypen generiert werden. Dies zeigt sich z. B. daran, ob ein Schulfach ein Pflichtfach ist und über vier Wochenstunden verfügt oder z. B. im Rahmen einer berufsbildenden Schule möglicher Weise nur ein Freifach ist. Die Formen und Inhalte 43 des jeweiligen Fachunterrichts werden also durch Regeln der sozialen Ordnung erzeugt. Schließlich erzeugt der Regulationsdiskurs nicht nur das Was der diskursiven Ordnung, sondern auch das Wie. Und dieses Wie nennt Bernstein theories of instruction; im Deutschen vielleicht am besten mit pädagogischen Theorien zu übersetzen. In diesen pädagogischen Theorien werden Bilder entworfen vom Unterricht insgesamt, vom Lehrer und insbesondere vom Lerner. Genau diese Bilder vom Lerner werden dann in der praktischen pädagogischen Interaktion „schlagend“, und zwar in Form der Hierarchieregeln. Stark gerahmte Hierarchieregeln entwerfen ein Bild des aufmerksamen, gewissenhaften, fleißigen und regelorientierten Schülers; schwach gerahmte Hierarchieregeln entwerfen ein Bild des selbständigen, kreativen, eher regelkritischen Lerners. Zusammenfassung Das pädagogische Dispositiv stellt die „Übersetzungsmaschine“ dar, die die Codes zur Steuerung der pädagogischen Praxis liefert. Der jeweilige Code sorgt für die Positionierung der Aneigner zum Text, das Dispositiv liefert die Regeln, nach denen der Code geschrieben wird. Analysen des pädagogischen Dispositivs machen klar, wie der „offizielle Code“ für die je spezifische pädagogische Situation lautet. Diese Regeln sind die Distributionsregeln, die Rekontextualisierungsregeln und die Evaluationsregeln. Pädagogische Praxis, als Realisierung der Evaluationsregeln, ist nicht begreifbar ohne die vorgängigen Verteilungen und Rekontextualierungen. Mit dem pädagogischen Diskurs beschreibt Bernstein die Rekontextualisierung bzw. „Einbettung“ des Instruktionsdiskurses in den Regulationsdiskurs, also die Verankerung der Inhalte des Unterrichts in den Diskurs der sozialen Ordnung. Er zeichnet mit diesen Überlegungen die Anschlussstellen zwischen pädagogischer Praxis und der Makrostruktur der gesellschaftlichen Machtverhältnisse nach. Als „symbolische Regler“ erzeugt und reguliert das pädagogische Dispositiv in jeder pädagogischen Interaktion die Bewusstseinsformen, in Klassengesellschaften entsprechend differenzierend und selektiv. Es stellen sich Fragen wie: Wem gehört der „Regler“? Welche Formen des Bewusstseins genau? Wer entwickelt welches Bewusstsein? (Vgl. CCC5, S. 37f.) 5. Code-Analysen Ziel der vorgelegten Zusammenschau der pädagogischen Codes, des pädagogischen Dispositivs und des pädagogischen Diskurses war/ist es, einen – im Wesentlichen chronologisch strukturierten – Überblick über die Bernsteinschen Konzepte zu geben. 44 Die vorgestellten Beispiele haben bereits gezeigt, dass die Begriffe empirisch anwendbar und, vor allem, ergiebig sind. Ihre entscheidende Qualität liegt in der „Verschränkung“ der Begriffe, die sowohl in der Makro-MikroVerbindung als auch in der Mikro-Makro-Verbindung gezeichnet werden kann (vgl. Abb. 2). Es lassen sich so Machtverhältnisse und Kontrollmechanismen sowohl auf der Makroebene, als auch die Auswirkungen, Spiegelungen und Variationen dieser Verhältnisse in den konkreten pädagogischen Interaktionen zu beschreiben. Mit Fokus auf die Untersuchung von Unterrichtspraxis im weiteren Sinne, ihren Wirkungen und ihren Wirkmechanismen sollen im Folgenden erste Überlegungen dargestellt werden, wie systematische Analysen aussehen könnten, die sich Bernsteins Begriffe zunutze machen. Wir wollen diese Analysen Code-Analysen nennen. Im Zentrum steht dabei die Analyse von Klassifikation und Rahmung, eingebettet in entsprechende Analysen des pädagogischen Dispositivs. Wir halten es für sinnvoll, Unterrichtsanalysen, Curriculum- und Schulbuchanalysen, Analysen von Testaufgaben, von Lehrer- und Schülerhandeln usw. immer – soweit möglich – in entsprechende Dispositivanalysen einzubetten (Schritt 1). Aus dieser Analyse ergeben sich Anhaltspunkte für den nächsten Schritt: Die Spezifizierung der Kontexte (Schritt 2). Hier geht es darum, die theoretischen Grundlagen der Code-Theorie an den vorgefundenen empirischen Kontext anzupassen.19 Dabei muss aus den verfügbaren Konzepten ausgewählt werden, denn nicht für jeden Kontext lassen sich bspw. alle Elemente der Rahmung (Auswahl, Reihenfolge, …) empirisch nachweisen. Im Schritt 3 lassen sich dann die jeweiligen Modalitäten von Klassifikation und Rahmung beschreiben. Der letzte Schritt 4 (Analyse der Erkennungs- und Realisierungsregeln) setzt entsprechende Erhebungen auf Aneigner-Seite voraus, wie sie z. B. mit den Re-Interviews in Beispiel 3 (Cooper und Dunne 2000) gegeben sind. Schritt 1: Dispositivanalyse Um der Verschränkung aller sozialen Ebenen, wie sie Bernsteins Theorie beschreibt, Rechnung zu tragen, werden zunächst Fragen gestellt, die über den unmittelbar beobachtbaren (Interaktions-)Kontext, der analysiert werden soll, hinausweisen, z. B.: 19 Dieses Procedere der Anpassung der theoretischen Sprache an den empirischen Kontext hat Bernstein sehr genau unter dem Stichwort language of description beschrieben (vgl. CCC5, Kap. 7, Morais 2002, Morais und Neves 2010; s. a. Hoadley, in diesem Band). Hier wird nicht näher auf diese Problematik eingegangen. 45 - - Um welchen Schultyp handelt es sich? Gibt es Angaben über den regulativen Diskurs dieses Schultyps? Werden Berufsziele, soziale Gruppierungen, entsprechende „charakterliche“ Eigenschaften angesprochen? Welche Zielgruppe wird angesprochen? Wie sieht das Curriculum für diesen Schultyp aus? Wie sehen die allgemeinen Bildungsziele aus? Wie sieht das entsprechende Fachcurriculum aus? Welche pädagogischen und didaktischen Theorien können herausgelesen/vermutet werden? Etc. Schritt 2: Spezifizierung der Kontexte – Analyseinstrumente Hier ist zuerst einmal festzustellen, welches Material der Untersuchung zu Grunde liegt bzw. zugänglich ist: Curricula, Schulbücher, Testaufgaben, schriftliche Äußerungen der Schüler (z. B. ausgefüllte Testaufgaben), Interviews, Re-Interviews, Unterrichtsaufzeichnungen (Video, Audio), … Dann kann weiter spezifiziert werden, z. B.: - - Sind es „Initial“-Sequenzen, z. B. die ersten Mathematikstunden in den ersten Klassen der Sekundarstufe 1 (wie in den Untersuchungen von Gellert und KollegInnen; vgl. Gellert, in diesem Band)? Sind es Prüfungs-Szenen; sind es Szenen, in denen auffällige Änderungen im „Stil“ des Lehrers oder der Schüler zu beobachten sind? Etc. Zusammen mit den Überlegungen aus Schritt 1 lässt sich nun oft schon bestimmen, was der offizielle Code bzw. der legitime Text sein kann. Das geht für die in Abschnitt 3 dargestellten Testaufgaben relativ leicht; hier geben Handbücher o. ä. die Lösung vor. Schwieriger wird dieser Analyseschritt bspw. bei Curricula oder bei Aufgaben, wo die „richtige“ Lösung nicht so eindeutig definiert ist, wie es bspw. bei den sprachlichen und künstlerischen Fächern der Fall ist. Für den Fall des Sprachunterrichts gibt Bourne (in diesem Band) erste Hinweise, wie derartige Spezifizierungen des Kontextes bzw. die Formulierungen des offiziellen Codes nachgezeichnet werden können. Was Curriculumanalysen und ihre Probleme betrifft, geben Morais und Neves (in diesem Band) interessante Hinweise. Schritt 3: Modalitäten von Klassifikation und Rahmung Im nächsten Schritt werden dann die konkreten Modalitäten von Klassifikation und Rahmung im vorgegebenen empirischen Material nachgezeichnet. Nach dem Schreiben des offiziellen Codes (Schritt 2) auf der Grundlage einer Dispositivanalyse (Schritt 1) sollte zunächst die Klassifikation aller angesprochenen Kontexte analysiert werden, also bspw. die Trennung 46 - von Alltag (oder nicht-spezialisierter Kontexte) von Schule (oder spezialisierter Kontexte), der Schulfächer (im Falle von Projektunterricht o. ä.), innerhalb eines Schulfachs (intradisziplinär). Es kann natürlich sein, dass die Aufgabenstellung genau die Verbindung von unterschiedlichen Diskursen bzw. das Überschreiten von Kontextgrenzen vorsieht. In diesem Fall wird die Analyse der Klassifikation ausgesprochen schwierig. Die Passagen zur Inter- und Intradisziplinarität bei Morais und Neves (in diesem Band) bzw. die Ausführungen von Straehler-Pohl und Gellert (in diesem Band) liefern hier interessante Beispiele. Was die Rahmung betrifft, so gehen wir davon aus, dass die Analyse von Unterrichtssequenzen, Aufgabenformulierungen u. ä. immer die Elemente Kriterien, Lerntempo und Hierarchie beinhalten muss (Auswahl und Reihenfolge sind eher Elemente einer Curriculumsanalyse.). Die Stärke oder Schwäche der Kriterien-Explikation, die zur Verfügung gestellte Zeit und die explizite oder implizite Darstellung der Hierarchie wirken sich vermutlich direkt auf die Positionierung der Aneigner zum legitimen Text aus. In diesen Elementen der Rahmung ist jener Teil des differenzierenden Potenzials des Codes beschrieben, der als „direkte Wirkung“ von Unterricht, oder als, wenngleich abhängige, aber doch Variable des Unterrichts gelesen werden kann. Bourne (in diesem Band) stellt die Problematik der Rahmung zu Recht in den Zusammenhang von „Schul-Effektivität“. Als effektiv wird hier ein Unterricht angesehen, der den Kindern aus nicht-privilegierten Milieus den Zugang zum legitimen Text ermöglicht. Schritt 4: Erkennungs- und Realisierungsregeln Die Analyse der Erkennungs- und Realisierungsregeln setzt die Evidenz der „Stimme“ der betroffenen Aneigner (SchülerInnen) voraus. Im oben vorgestellten Beispiel 3 bzw. in den Arbeiten von Cooper und Dunne (2000), Leufer und Sertl (2010) wird versucht, die Strategien der SchülerInnen beim Lösen mathematischer Aufgaben durch sogenannte Re-Interviews herauszuarbeiten. Schluss Wir sehen die Entwicklung einer Methodologie der Code-Analysen naturgemäß erst am Beginn. Dabei hoffen wir, mit der vorliegenden Darstellung der Bernsteinschen Konzepte einen Beitrag zu einer im deutschsprachigen Raum in jüngster Zeit sich intensivierenden Diskussion zu leisten: zur Diskussion um die Entwicklung einer empiriefähigen Theorie des Unterrichts (vgl. z. B. Meseth, Proske und Radtke 2011). Bernsteins Konzepte gehen aber weit über einen „Diskussionsbeitrag“ hinaus. Sie liefern ein For47 schungsprogramm, dessen Herausforderungen erst noch angenommen werden müssen. Literaturverzeichnis Vorbemerkung zur Zitation der Bernsteinschen Originalquellen: Wir verwenden hier ausschließlich die in den fünf Bänden von Class, Codes and Control abgedruckten Texte, zitiert mit der Sigle CCC1 bis 5. Dabei verwenden wir auch die – im angelsächsischen Raum übliche – Nennung von Kapiteln. Die Zitation eines ganzen Aufsatzes erfolgt also nicht extra im Literaturverzeichnis, sondern als Kapitel-Nummer beim jeweiligen Band. Der Grund für diese Vorgangsweise liegt darin begründet, dass die in der Bernstein-Community übliche Zitation der Originalpapiere mit dem Ersterscheinungsjahr für nicht geübte LeserInnen verwirrend sein dürfte. Wir beziehen uns in diesem Aufsatz tatsächlich nur auf jene Fassungen der Papiere, die als Kapitel in den fünf Bänden abgedruckt sind. Diese Kapitel weichen in vielen Fällen von den ursprünglich in Sammelbänden, Zeitschriften o. ä. abgedruckten Fassungen ab, haben aber den Vorteil, dass sie rasch verfügbar sind. Im Falle der ersten drei Bände beziehen wir uns (fast) ausschließlich auf die deutschen Übersetzungen. In Ausnahmefällen zitieren wir auch die englischsprachige Fassung. A teoria de Basil Bernstein. - Darstellung der Bernsteinschen Theorie auf der homepage des ESSA: http://essa.ie.ul.pt/tbernstein_texto.htm#Modelo_do_discurso_pedagógico (letzter Download: 06.01.2012) Atkinson, P. (1981). Bernstein’s structuralism. In: Educational Analysis 3 (1), S. 85-95. Atkinson, P. (1985). Language, Structure and Reproduction: An Introduction to the Sociology of Basil Bernstein. London: Methuen. Atkinson, P. (1995). From Structuralism to Discourse: Bernstein’s Structuralism. In: Sadovnik, A. R. (ed.) (1995). Knowledge and Pedagogy. The Sociology of Basil Bernstein. Norwood: Ablex, S. 83-95. Bernstein, B. (1998). 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Basil Bernsteins Theorie der pädagogischen Codes. In: Fleissner, P., Wanek, N. (Hg.). 50 Bruchstücke. Kritische Ansätze zu Politik und Ökonomie im globalisierten Kapitalismus. Berlin: Trafo, S. 313-324. Singh, P., Sadovnik, A., Semel, S.S. (eds.) (2010): Toolkits, translation devices and conceptual accounts. Essays on Basil Bernstein’s sociology of knowledge. New York: Peter Lang. Zinnecker, J. (1975): Der heimliche Lehrplan. Weinheim: Beltz. Anhang: Anmerkungen zur Übersetzung des pedagogic device mit „pädagogisches Dispositiv“ Angeregt wurde dieser Übersetzungsvorschlag durch die französische Übersetzung von CCC5, wo der entsprechende Terminus „dispositif pédagogique“ lautet. Dieses französische „dispositif“ dürfte dem englischen „device“ und dessen großer begrifflicher Bandbreite relativ nahe kommen. Beide stellen einen recht schwach definierten Begriff der Alltagssprache zur Verfügung, der hier, im soziologischen Kontext, allerdings eine eigene Spezifik entwickelt. Diese eigene soziologische Assoziation, die dem Begriff des „Dispositivs“ in der deutschen Fachsprache inzwischen anhaftet, soll hier genutzt werden. Dieses Verständnis von Dispositiv geht primär auf Foucault zurück (vgl. z. B. 1978, S. 119-125) und ist inzwischen zu einer bemerkenswerten Tradition der Diskurs- und Dipositivforschung weiterentwickelt worden, für die im deutschsprachigen Raum Namen wie Bührmann, Diaz-Bone, Jäger, Keller, Link, Schneider u. a. stehen (vgl. exemplarisch Bührmann und Schneider 2008). Bernstein selbst verweist auf den Einfluss von Foucault mit folgenden Worten: „The work of Foucault has had an influence upon our research but we should emphasize that our focus is very different. Indeed, we would consider that the articulation of the specific grammar of the pedagogic device is fundamental to much of Foucault’s work”. (CCC4, S. 165) Und er verweist dann auf seine beiden Schüler, Paul Atkinson (1981, 1985) und Mario Diaz, die die Beziehungen zwischen Bernstein und Foucault genauer dargelegt haben. Im Falle von Diaz hatte sich Bernstein sogar dazu entschieden, auf der Grundlage von Diaz’ Dissertation eine gemeinsame Publikation (Bernstein und Diaz 1984) herauszugeben, deren Zweck so vorgestellt wird: „One of the theoretical concerns of this monograph is to examine the relations between Foucault and Bernstein as both would seem to offer a starting point for developing a theory of Pedagogic discourse.“ (a. a. O., S. 1) 51 Um Ähnlichkeiten und Verwandtschaften zwischen Foucault und Bernstein sichtbar zu machen, referiere ich hier kurz Foucaults Erläuterung des Dispositivs. Das Zitat stammt aus einem Gespräch mit Psychiatern und sollte helfen, den damals neu eingeführten Begriff des Dispositivs zu klären (konkretisiert auf das Dispositiv der Sexualität). Foucault nennt drei Elemente, die er mit dem Dispositiv ansprechen will: 1. „ … ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architektonische Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfasst. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft ist.“ (Foucault 1978, S. 119f.) 2. Mit dem Dispositiv soll die „Natur der Verbindung deutlich (gemacht werden), die zwischen diesen heterogenen Elementen sich herstellen kann“ (a. a. O., S. 120). Das erinnert an die Bernsteinsche „Grammatik“, wobei diese bei Foucault wesentlich „offener“ modelliert wird als bei Bernstein: „ … es gibt zwischen diesen Elementen, ob diskursiv oder nicht, ein Spiel von Positionswechseln und Funktionsveränderungen, die ihrerseits wiederum sehr unterschiedlich sein können“ (a. a. O.). Und 3. hat „das Dispositiv vorwiegend eine strategische Funktion“ (a. a. O.). Das erinnert an den Bernsteinschen symbolic ruler. Foucault ergänzt: „Eben das ist das Dispositiv: Strategien von Kräfteverhältnissen, die Typen von Wissen stützen und von diesen gestützt werden“ (a. a. O., S. 123). In ihrer zusammenfassenden Darstellung der jüngeren Dispositivforschung geben Bührmann und Schneider (2008) folgende vier „Verhältnisbestimmungen“ an, nach denen bei der „Dispositivanalyse“ zu fragen ist: „1. Praktiken: In welchem Verhältnis stehen diskursive Praktiken in Gestalt z. B. von Spezialdiskurs(en), Interdiskurs(en) und/oder Elementaroder Alltagsdiskurs(en) und (alltagsweltliche) nicht-diskursive Praktiken? 2. Subjektivationen/Subjektivierungen: In welchem Verhältnis stehen diskursive Praktiken, nicht-diskursive Praktiken, symbolische wie materiale Objektivierungen und Subjektivation/Subjektivierung? 3. Objektivationen: In welchem Verhältnis stehen diskursive Praktiken mit den vorherrschenden Wissensordnungen, die sich in der „Ordnung der Dinge“ manifestieren (im Sinne von symbolischen wie materialen Objektivationen insbesondere in Alltags-/Elementarkulturen)? 4. Gesellschaftstheoretische Kontextualisierung: In welchem Verhältnis stehen diskursive Praktiken, nicht-diskursive Praktiken und Objektivationen – kurzum: Dispositive – mit sozialem Wandel (z. B. gesellschaft52 lichen Umbruchssituationen) und dispositiven (nicht-)intendierten (Neben-)Folgen?“ (a. a. O., S. 95) Mit dieser Kürzestfassung der Dispositivanalyse ist tatsächlich auch das gesamte Forschungsprogramm Bernsteins angesprochen, auf das im Abschnitt zum pädagogischen Dispositiv näher eingegangen wird. Allerdings geht es Bernstein primär um die pädagogischen „Verhältnisbestimmungen“. Sein „pädagogisches Dispositiv“ könnte demgemäß als Sonderfall der soziologischen Diskurs- und Dispositivforschung angesehen werden. Diesem Verständnis könnte man wiederum entgegenhalten, dass Bernstein sein Verständnis von „Pädagogik“ wesentlich weiter fasst als üblich. Er verwendet den Begriff geradezu als Synomym für „symbolische Kontrolle“ oder „kulturelle Produktion und Reproduktion“. So stellt er in einer seiner letzten Äußerungen (Bernstein interviewed; in CCC5) sein Verständnis von und sein Interesse an Pädagogik folgendermaßen vor: „ … pedagogy is the focus to my theory to the extent that pedagogic modalities are crucial realisations of symbolic control, and thus of the process of cultural production and reproduction.” (a. a. O., S. 201) Und er erläutert das pädagogische Dispositiv am Beispiel der Massenmedien und nennt dann den „media discourse a quasi-pedagogic discourse generated by the pedagogic device“ (a. a. O.). Hier wird das pedagogic device also als Dispositiv angesehen, das alle Formen der symbolischen Kontrolle und kulturellen Reproduktion generiert. „Symbolic control is materialised through what I call the pedagogic device.“ (a. a. O., S. 202) In diesem Sinne wäre das Bernsteinsche pedagogic device geradezu ein Konkurrenzmodell zum Foucaultschen Dispositiv. Überspitzt formuliert könnte man sagen: Das, was bei Foucault Dispositiv (oder apparatus o.a.) heißt, heißt bei Bernstein pedagogic device. (Klärend dazu Bernstein und Diaz 1984; bes. S. 189ff.) Mit diesem Einwand ist die Diskussion um die Übersetzung des pedagogic device also wieder eröffnet. In diesem Band wählt Gabriela Höhns den Begriff „pädagogischer Mechanismus“, Uwe Gellert bleibt beim englischen Original. (Die italienische Übersetzung lautet übrigens strumento pedagogico; vgl. Bernstein 1998; die portugiesische Übersetzung aparelho pedagogico; vgl. A teoria de Basil Bernstein.) Was die Beziehungen, Gemeinsamkeiten, Abgrenzungen und Anschlussmöglichkeiten zwischen dem „pädagogischen Diskurs und Dispositiv“ Bernsteins und den Methodologien und Ergebnissen der neueren Diskursund Dispositivforschung betrifft, so stellen diese ein Forschungsdesiderat dar, das noch seiner Bearbeitung harrt. Erste Schritte sind bei Atkinson (1981, 1985, 1995), Bernstein und Diaz (1984) und Diaz (2001) gemacht. 53