Hon’in Myo oder “Die Wahre Ursache” Frage nach der Weisheit des Buddhas Das Lotos-Sutra befaßt sich mit der Frage, was es ist, das den Buddha als solchen ausmacht. Diese Frage ergab sich zwangsläufig in einer Zeit um as erste Jahrhundert n. Chr. herum, etwa 500 Jahre nach dem Dahinscheiden von Shakyamuni-Buddha, als viele verschiedene buddhistische Lehren vertreten und ausgeübt wurden. Die buddhistischen Lehren von damals wurden nun von den Anhängern des Lotos-Sutras als drei verschiedene Wege aufgefaßt, die einmal zum Arhat (Lernen), der zum PratyekaBuddha (Teil-Erleuchtung) den Idealen des Theravada- oder Hinayana-Buddhimus, oder aber zum Bodhisattwa, dem Ideal des Mahayana-Buddhismus, hinführen sollten. Im Gegensatz dazu traten diese reformatorischen Anhänger des Lotos-Sutras mit dem neuen Anspruch auf, den “Einen Buddha-Weg” zu verkünden, der die vorhergehenden drei Arten der Lehre lediglich als vorläufige Hilfestellungen oder als “Geschicklichkeit” (jap. hoben) ansah. Für die Anhänger des Lotos-Sutras ist der Buddhismus die Lehre des Buddhas über seine “Weisheit”, welche die Buddhas als eben solche ausmacht. Die Weisheit Buddhas wurde als Saddharma-Pundarika, der Wahre Dharma der Lotos-Blume formuliert, und die Ausübung bestand darin, das Sutra, in dem Buddhas Weisheit festgehalten wurde, anzunehmen und beizubehalten. Bodhisattwa aus der Erde Wie im Hoben-, dem 2.Kapitel des Lotos-Sutras, in dem der vorläufige Charakter der drei verschiedenen Wege der buddhistischen Ausübung durch den “Einen Buddha-Weg” entlarvt wurde, so handelt es sich auch im Juryo-, dem 16. Kapitel des Lotos-Sutras, um den einen Ewigen Buddha, der die vielen Buddhas, die im Laufe der mahayanistischen Popularisierung des Buddhismus eingeführt wurden, als vorläufige Buddhas ansieht und so in eine einzige systematische Ordnung bringen sollte. Shakyamuni- Buddha erlangte, so das Lotos-Sutra, die Erleuchtung nicht etwa erst vierzig Jahre zuvor unter einem BodhiBaum in der Nähe von Bodh-Gaya in Indien, sondem bereits vor “hundert, tausend, zehntausend, hunderttausend (...) Äonen”, also einem unvorstellbar langen Zeitraum in der Vergangenheit. Man wollte hinter der historischen Persönlichkeit Shakyamunis einen Ewigen Buddha sehen, der immer anwesend ist und sich stets für die Errettung der Menschheit einsetzt. In diesem Zusammenhang wurde ebenso ein ganz neuer Typ des Bodhisattwas geschaffen, das dem Idealbild der Anhänger des Lotos-Sutras entsprach. Die Bodhisattwas steigen aus der Erde empor und nehmen an der “Zeremonie in der Luft” teil, um als Schüler das ewige Leben ihres Lehrmeisters zu bezeugen. Sie sind aber ihrerseits bereits im Besitz der Weisheit des Buddhas und erweisen sich somit schon im Wesen als Buddha. Dies war das religiöse Bewußtsein über ihre Aufgabe von denjenigen, die das Lotos-Sutra verkündeten, nämlich der direkte Schüler des Ewigen Buddha zu sein und in dieser Qualifikation den Dharma in dem Zeitalter zu verkünden, in dem kein Buddha mehr existiert. Die neue Lehre des Lotos-Sutras zeichnete sich somit dadurch aus, daß alle ohne Ausnahme die gleiche Möglichkeit haben, sich auf den Weg zur Buddhaschaft zu begeben. Durch diese radikale These für die Gleichheit aller, die Erleuchtung zu verwirklichen, wurden die Anhänger des Lotos-Sutras schweren Verfolgungen ausgesetzt. Frage nach der Ursache der Erleuchtung Shakyamunis im Lotos-Sutra Es gibt nun im ganzen Lotos-Sutra nur eine einzige Stelle im 16. Kapitel, in der auf die Ursache für die Erlangung der Erleuchtung des Ewigen Buddhas Shakyamuni hingewiesen wird: “Seitdem ich Buddha geworden bin, ist eine äußerst lange, ewige Zeit vergangen. Meine Lebensdauer beträgt eine unermeßliche Zahl von Asamkhyeya-Kalpas und bleibt stets erhalten, ohne zu erlöschen. Gute Männer, einst praktizierte ich einen Bodhisattwa-Weg, und die Lebensdauer, die ich dadurch erwerben konnte, ist immer noch nicht erschöpft. Sie wird noch doppelt so lange dauern wie bis hierher vergangen.” (Borsig, “Das Lotos-Sutra”, S. 284.) Der Große Lehrer T’ien-t’ai definiert in seinem Kommentarwerk “Hokke Gengi (Die tiefen Bedeutungen des Lotos-Sutras)” die Ausübung des Bodhisattwa-Wegs als die “Wahre Ursache” (jap. hon ‘in) für die Erlangung der ursprünglichen Erleuchtung Shakyamunis, die ihrerseits als die “Wahre Wirkung” (jap. honga) bezeichnet wurde. Der Buddha-Zustand, der erlangt wurde, steht also für die Wirkung, während der Bodhisattwa-Zustand den Status der Ursache dafür darstellt. Solange aber von einer “Erlangung der Erleuchtung oder des Buddha-Zustandes” die Rede ist, wird der Buddha-Zustand jedoch noch als etwas verstanden, was erst erlangt werden soll. So handelt es sich um einen Übergang von einem UrsacheStatus zum Wirkungs-Status. T’ien-t’ai formulierte den Buddha-Zustand als ichinen-sanzen, in dem das ichinen, der augenblickliche Zustand des Herzens, mit dem All des Universums in einer harmonischen Einheit steht. Um diesen Idealzustand im eigenen Herzen anzuschauen, bzw. zu erlangen, also zum Zweck des kanjin, wurden von T’ien-t’ai eine Reihe von Meditationsausübungen aufgestellt. Die Ausübung (Ursache) soll zur Erlangung der Erleuchtung (Wirkung) führen. Gleichzeitigkeit von Original-Ursache und Original-Wirkung Im Gegensatz zu diesem traditionellen Verständnis des jôbutsu (Buddha-Werden) deutet Nichiren Daishonin, daß Shakyamuni nicht etwa eine Verwandlung von einem Bodhisattwa zum Buddha herbeiführte, sondern in seinem eigenen Leben die Buddhaschaft erkannte. Die Buddhaschaft ist das, was dem Leben eigen und als solches zeitlos, also ewig ist. Diese ewige Wesensstruktur, ein Bodhisattwa und zugleich im Wesen Buddha zu sein, ist das Mystische Gesetz, die “Gleichzeitigkeit von Original-Ursache (jap. hon ‘in) und Original-Wirkung (jap. honga)”. Es ist Nam-Myoho-Renge-Kyo, die Weisheit des Buddhas (oder auch der Samen der Erleuchtung), die den gewöhnlichen Menschen, der dieses Mystische Gesetz ausübt, zum Bodhisattwa aus der Erde macht. In diesem Fall geht es dann nicht mehr darum, nach der Erlangung der Erleuchtung oder des BuddhaZustandes als Ziel der buddhistischen Ausübung zu streben, sondern um das Erwachen zur Wahrheit, daß jeder in seinem Wesen Buddha ist. Von dieser Sicht aus erscheinen nun alle Buddhas, die irgendwie als transzendentes Wesen dargestellt werden, als vorläufige, schattenhafte Symbolfiguren, während der real existierende Mensch allein die Möglichkeit besitzt, die Buddhaschaft zu verwirklichen. Für Nichiren Daishonin ist das Mystische Gesetz der ewige Lehrmeister aller Buddhas: “Die beiden Buddhas (im Schatzturm), Shakyamuni und Taho, sind lediglich Funktionen des Wahren Buddhas, während Myoho-Renge-Kyo tatsächlich der Wahre Buddha ist.” (Dt. Gosho, Bd.1, S. 35). Verwirklichung der Buddhaschaft Weil das Mystische Gesetz das Prinzip der Gleichzeitigkeit von Ursache und Wirkung im oben erläuterten Sinn darstellt, macht sich jeder, der es annimmt und beibehält, d.h. es ausübt, dies zu eigen und zu seiner manifesten Wesensstruktur. Das heißt konkret, daß alles, was man in seinem Leben (der Neun Welten) erlebt, zugleich durch die Buddhaschaft begründet ist. Daher vermag man sich durch bewußte Ausübung und Handlung in jeder Situation in die Lage versetzen, sofort und so wie man ist, die Buddhaschaft zu aktivieren. Wer das Daimoku chantet, verwirklicht die Buddhaschaft in dem Sinne, daß sie aktiviert wird. Dieses Konzept wird “unmittelbare Erleuchtung” genannt. Es ist an dieser Stelle von Bedeutung, auf den Doppelaspekt des Begriffes jôbutsu im Nichiren-Buddhismus hinzuweisen. Der eine betrifft die unmittelbare Erleuchtung, die in sich schon immer vollendet ist, während sich der andere, die “Verwirklichung der Buddhaschaft in diesem Leben”, auf einen lebenslangen Prozeß der fortgesetzten Bemühungen bezieht, der auch im Sinne der Selbstverwirklichung stets unvollendet bleiben muß und kein Ende kennt. Im Sinne der Grundeinstellung zur buddhistischen Ausübung bedeutet der erste Aspekt, daß wir mit der Überzeugung zum Gohonzon chanten sollten, daß unser Leben in sich vollkommen und unser absolutes Glück bereits gewährleistet ist. Es gibt nichts, was unser Leben von außen her noch reicher machen könnte. Andererseits jedoch leben wir konkret in der Realität, in der wir mit verschiedenen Schwierigkeiten konfrontiert sind und uns mit unseren eigenen Unzulänglichkeiten auseinandersetzen müssen. Die Buddhaschaft muß konkret in unserem Alltagsleben erscheinen - in ihrer aktivierten Form als starke Lebenskraft, die die negativen Kräfte überwindet, oder auch in positive transformiert, und als Weisheit, die die Dunkelheit durchbricht und uns zu richtigen Entscheidungen und Handlungen führt. Diese konkreten Mechanismen werden durch solche Prinzipien dargestellt wie “Gift in Medizin verwandeln”, “das Leiden durch Geburt und Tod ins Nirvana verwandeln”, sowie “die irdischen Begierden in die Erleuchtung verwandeln”. Zurück zum Ursprung Wir haben natürlich schon oft genug von solchen faszinierenden Prinzipien gehört und wundern uns immer wieder, wieso alles dann doch nicht so läuft. Statt auf die einzelnen Fälle einzugehen, um gewisse Diagnosen zu stellen, befassen wir uns immer noch mit etwas Prinzipiellem, das wie oben in seiner praktischen Konsequenz doch unsere Grundeinstellung zur Ausübung weitgehend bestimmt. Der erste wichtige Ansatz, der sich aus dem Verständnis des Prinzips der Wahren Original-Ursache der Erleuchtung ergibt, liegt - wie wir festgestellt haben - darin, ob und wieweit man die Überzeugung vertiefen kann, daß das eigene Leben in sich erleuchtet und vollkommen und mit dem Potential des absoluten Glück ausgestattet ist, das von äußeren Umständen nicht abhängt. Es versteht sich von selbst, was die Konsequenzen daraus sind, ob man eben gerade diese Überzeugung zum Ausgangspunkt für seine Lebensgestaltung nimmt oder etwa ein Schuld- und Minderwertigkeitsgefühl, das ebenso die grundlegende Einstellung zum eigenen Leben bilden kann. In diesem Sinne können wir nie genug das “Prinzip der Wahren Ursache” betonen. Wenn wir uns vor den Gohonzon hinsetzen und mit Gongyo und Daimoku anfangen, so nehmen wir an der “Zeremonie in der Luft” teil, und das bedeutet, daß wir im Gohonzon unser eigenes erleuchtetes Wesen anschauen, und somit zum Ursprung unseres eigenen Lebens zurückkommen. Der ewige Anfang Im buddhistischen Sinne betrachtet, wird die Ursprünglichkeit des Lebens mit dem “Palast der unveränderlichen Wahrheit des Neunten Bewußtseins” (siehe die Gosho “Antwort an Frau Nichimyo”) ausgedrückt. Es ist die spirituelle Ebene in unserem Leben, die von karmischen Einflüssen vollkommen frei ist. Gehen wir von dieser Ebene aus, so können wir völlig neue Ursachen im Sinne des positiven Karmas setzen und unser Leben ganz neu anfangen. Dieser Sachverhalt, uns aus dem karmischen Gefängnis in einen karmafreien Zustand zu begeben, heißt - zeitlich betrachtet - zunächst in einem metaphorischen Sinne, daß wir zu einem Zeitpunkt zurückkehren, an dem unser Karma noch nicht angefangen hat. Nichiren Daishonin formuliert diesen Sachverhalt allerdings umgekehrt: “Die Ewigkeit bricht in der Gegenwart durch”. Zusammenfassend gesagt, bringt das Chanten von Nam Myoho Renge Kyo mit tiefem Glauben zum Gohonzon die Ausübenden ohne Schuldgefühle zum Ursprung zurück - von Anfang an, von heute an. Es liegt in unserer Hand, was wir aus unserem Leben machen, und praktisch hängt es davon ab, ob wir jeden Tag das Prinzip der Wahren Ursache ausüben, oder ob wir uns doch von all den Wirkungen aus der Vergangenheit treiben lassen. Thomas Oelschläger, Yukio Matsudo Quelle: FORUM 01-1995